Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Dynamik

fortleben und gesellschaftlichen Ruhe erhalten wird. Diese Gesundheit hat
dann auch die Stetigkeit, die Dauerhaftigkeit, die erhaltende Kraft zur Folge,
die zu allen Zeiten und allerorten die Landbevölkerung vor den Städtern aus¬
gezeichnet hat. Wenn Entwicklung und Leitung der Kultur vornehmlich in
der Hand der Städter liegt, so hat das Landvolk die beßre Befähigung zu
ihrer Erhaltung. Ein städteloses Land wie Rußland bleibt in der Kultur
zurück, ein Volk von Städtern wie England oder Belgien ist der Gefahr aus¬
gesetzt, das Gleichgewicht von Bedürfnissen und Mitteln der Befriedigung
plötzlich zu verlieren und in heftigen Erschütterungen den Gang seiner Kultur
auf lange hinaus zu unterbrechen. Ein starkes Übergewicht des Landvolks ist
die beste Gewähr für gesunde und gesicherte soziale Verhältnisse.

Aber der heutige Berliner weist mit Stolz auf die Hunderttausende
hin, die in Berlin zusammengepackt sind, und überall in Deutschland schwellen
die Dörfer zu Städten, die Städte zu Großstädten an. städtischer Geist und
städtische Bedürfnisse wuchern hinaus aufs platte Land und ziehen den Land-
mann magnetisch vom Pfluge fort in die Werkstätten, die bunten Straßen, die
erleuchteten Vierhallen, die Schauspiele der Stadt. Vielfach und dauernd
ertönt die Klage, daß es auf dem Lande an Händen mangle, während die
Städte von Arbeitern strotzen, die oft keine Arbeit finden. Das Ergebnis ist,
daß immer mehr die Beschaffung der wichtigsten Lebensbedürfnisse, der Nähr¬
stoffe fremden Ländern und Völkern überlassen wird. Daraus folgt weiter,
daß Deutschland in wachsendem Maße gerade in den unentbehrlichen Erzeug¬
nissen von Fremden abhängig wird, während diese Fremden sich beliebig von
dein Bedürfnis nach den weit eher entbehrlichen Erzeugnissen Demschlands
befreien können. Unsre Lage nach außen verschlechtert sich mit dem Überhand¬
nehmen unsrer Industrie trotz der durch sie herbeigeschleppten Geldmengen, die
überdies an sich nicht zu den dauerhaftesten Werten gehören.

Es gab eine Zeit, wo sich unter dem Bundschuh der verknechtete und
mißhandelte Bauer zu Mord und Brand erhob wider die Herren. Wie heute
der Landmann mit Schrecken auf die wildeu Massen der städtischen Arbeiter
blickt, die nur gewaltsam von der Erhebung zurückgehalten werden, so erschien
dem damaligen Stadtbürger der Bundschuh als etwas Unerhörtes. Denn in
dem städtischen Wesen herrschte Ruhe und Ordnung, Recht und Gesetzlichkeit,
obwohl es an Reichtum und aufstrebender Kultur keineswegs fehlte. Aber die
städtische Arbeit war wohlgeordnet, das Gemeinwesen selbst handhabte die
öffentliche Gewalt, die unterste Klasse der Arbeiter war beschränkt in der Zahl,
und durch die gesetzlichen wie physischen Hindernisse in der Bewegung des
Volks wurde das Ausdauer der Massen vermieden. Vor allem hatte die rohe
Masse nicht die heutigen Mittel der Zerstörung in der Hand, der Bürger aber
war ihr in den Waffen überlegen. Niemals hat die städtische Arbeit bei uns
so geblüht, wie zu jener Zeit, und niemals ist die soziale Ordnung der Städte


Dynamik

fortleben und gesellschaftlichen Ruhe erhalten wird. Diese Gesundheit hat
dann auch die Stetigkeit, die Dauerhaftigkeit, die erhaltende Kraft zur Folge,
die zu allen Zeiten und allerorten die Landbevölkerung vor den Städtern aus¬
gezeichnet hat. Wenn Entwicklung und Leitung der Kultur vornehmlich in
der Hand der Städter liegt, so hat das Landvolk die beßre Befähigung zu
ihrer Erhaltung. Ein städteloses Land wie Rußland bleibt in der Kultur
zurück, ein Volk von Städtern wie England oder Belgien ist der Gefahr aus¬
gesetzt, das Gleichgewicht von Bedürfnissen und Mitteln der Befriedigung
plötzlich zu verlieren und in heftigen Erschütterungen den Gang seiner Kultur
auf lange hinaus zu unterbrechen. Ein starkes Übergewicht des Landvolks ist
die beste Gewähr für gesunde und gesicherte soziale Verhältnisse.

Aber der heutige Berliner weist mit Stolz auf die Hunderttausende
hin, die in Berlin zusammengepackt sind, und überall in Deutschland schwellen
die Dörfer zu Städten, die Städte zu Großstädten an. städtischer Geist und
städtische Bedürfnisse wuchern hinaus aufs platte Land und ziehen den Land-
mann magnetisch vom Pfluge fort in die Werkstätten, die bunten Straßen, die
erleuchteten Vierhallen, die Schauspiele der Stadt. Vielfach und dauernd
ertönt die Klage, daß es auf dem Lande an Händen mangle, während die
Städte von Arbeitern strotzen, die oft keine Arbeit finden. Das Ergebnis ist,
daß immer mehr die Beschaffung der wichtigsten Lebensbedürfnisse, der Nähr¬
stoffe fremden Ländern und Völkern überlassen wird. Daraus folgt weiter,
daß Deutschland in wachsendem Maße gerade in den unentbehrlichen Erzeug¬
nissen von Fremden abhängig wird, während diese Fremden sich beliebig von
dein Bedürfnis nach den weit eher entbehrlichen Erzeugnissen Demschlands
befreien können. Unsre Lage nach außen verschlechtert sich mit dem Überhand¬
nehmen unsrer Industrie trotz der durch sie herbeigeschleppten Geldmengen, die
überdies an sich nicht zu den dauerhaftesten Werten gehören.

Es gab eine Zeit, wo sich unter dem Bundschuh der verknechtete und
mißhandelte Bauer zu Mord und Brand erhob wider die Herren. Wie heute
der Landmann mit Schrecken auf die wildeu Massen der städtischen Arbeiter
blickt, die nur gewaltsam von der Erhebung zurückgehalten werden, so erschien
dem damaligen Stadtbürger der Bundschuh als etwas Unerhörtes. Denn in
dem städtischen Wesen herrschte Ruhe und Ordnung, Recht und Gesetzlichkeit,
obwohl es an Reichtum und aufstrebender Kultur keineswegs fehlte. Aber die
städtische Arbeit war wohlgeordnet, das Gemeinwesen selbst handhabte die
öffentliche Gewalt, die unterste Klasse der Arbeiter war beschränkt in der Zahl,
und durch die gesetzlichen wie physischen Hindernisse in der Bewegung des
Volks wurde das Ausdauer der Massen vermieden. Vor allem hatte die rohe
Masse nicht die heutigen Mittel der Zerstörung in der Hand, der Bürger aber
war ihr in den Waffen überlegen. Niemals hat die städtische Arbeit bei uns
so geblüht, wie zu jener Zeit, und niemals ist die soziale Ordnung der Städte


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0164" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212640"/>
          <fw type="header" place="top"> Dynamik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_506" prev="#ID_505"> fortleben und gesellschaftlichen Ruhe erhalten wird. Diese Gesundheit hat<lb/>
dann auch die Stetigkeit, die Dauerhaftigkeit, die erhaltende Kraft zur Folge,<lb/>
die zu allen Zeiten und allerorten die Landbevölkerung vor den Städtern aus¬<lb/>
gezeichnet hat. Wenn Entwicklung und Leitung der Kultur vornehmlich in<lb/>
der Hand der Städter liegt, so hat das Landvolk die beßre Befähigung zu<lb/>
ihrer Erhaltung. Ein städteloses Land wie Rußland bleibt in der Kultur<lb/>
zurück, ein Volk von Städtern wie England oder Belgien ist der Gefahr aus¬<lb/>
gesetzt, das Gleichgewicht von Bedürfnissen und Mitteln der Befriedigung<lb/>
plötzlich zu verlieren und in heftigen Erschütterungen den Gang seiner Kultur<lb/>
auf lange hinaus zu unterbrechen. Ein starkes Übergewicht des Landvolks ist<lb/>
die beste Gewähr für gesunde und gesicherte soziale Verhältnisse.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_507"> Aber der heutige Berliner weist mit Stolz auf die Hunderttausende<lb/>
hin, die in Berlin zusammengepackt sind, und überall in Deutschland schwellen<lb/>
die Dörfer zu Städten, die Städte zu Großstädten an. städtischer Geist und<lb/>
städtische Bedürfnisse wuchern hinaus aufs platte Land und ziehen den Land-<lb/>
mann magnetisch vom Pfluge fort in die Werkstätten, die bunten Straßen, die<lb/>
erleuchteten Vierhallen, die Schauspiele der Stadt. Vielfach und dauernd<lb/>
ertönt die Klage, daß es auf dem Lande an Händen mangle, während die<lb/>
Städte von Arbeitern strotzen, die oft keine Arbeit finden. Das Ergebnis ist,<lb/>
daß immer mehr die Beschaffung der wichtigsten Lebensbedürfnisse, der Nähr¬<lb/>
stoffe fremden Ländern und Völkern überlassen wird. Daraus folgt weiter,<lb/>
daß Deutschland in wachsendem Maße gerade in den unentbehrlichen Erzeug¬<lb/>
nissen von Fremden abhängig wird, während diese Fremden sich beliebig von<lb/>
dein Bedürfnis nach den weit eher entbehrlichen Erzeugnissen Demschlands<lb/>
befreien können. Unsre Lage nach außen verschlechtert sich mit dem Überhand¬<lb/>
nehmen unsrer Industrie trotz der durch sie herbeigeschleppten Geldmengen, die<lb/>
überdies an sich nicht zu den dauerhaftesten Werten gehören.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_508" next="#ID_509"> Es gab eine Zeit, wo sich unter dem Bundschuh der verknechtete und<lb/>
mißhandelte Bauer zu Mord und Brand erhob wider die Herren. Wie heute<lb/>
der Landmann mit Schrecken auf die wildeu Massen der städtischen Arbeiter<lb/>
blickt, die nur gewaltsam von der Erhebung zurückgehalten werden, so erschien<lb/>
dem damaligen Stadtbürger der Bundschuh als etwas Unerhörtes. Denn in<lb/>
dem städtischen Wesen herrschte Ruhe und Ordnung, Recht und Gesetzlichkeit,<lb/>
obwohl es an Reichtum und aufstrebender Kultur keineswegs fehlte. Aber die<lb/>
städtische Arbeit war wohlgeordnet, das Gemeinwesen selbst handhabte die<lb/>
öffentliche Gewalt, die unterste Klasse der Arbeiter war beschränkt in der Zahl,<lb/>
und durch die gesetzlichen wie physischen Hindernisse in der Bewegung des<lb/>
Volks wurde das Ausdauer der Massen vermieden. Vor allem hatte die rohe<lb/>
Masse nicht die heutigen Mittel der Zerstörung in der Hand, der Bürger aber<lb/>
war ihr in den Waffen überlegen. Niemals hat die städtische Arbeit bei uns<lb/>
so geblüht, wie zu jener Zeit, und niemals ist die soziale Ordnung der Städte</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0164] Dynamik fortleben und gesellschaftlichen Ruhe erhalten wird. Diese Gesundheit hat dann auch die Stetigkeit, die Dauerhaftigkeit, die erhaltende Kraft zur Folge, die zu allen Zeiten und allerorten die Landbevölkerung vor den Städtern aus¬ gezeichnet hat. Wenn Entwicklung und Leitung der Kultur vornehmlich in der Hand der Städter liegt, so hat das Landvolk die beßre Befähigung zu ihrer Erhaltung. Ein städteloses Land wie Rußland bleibt in der Kultur zurück, ein Volk von Städtern wie England oder Belgien ist der Gefahr aus¬ gesetzt, das Gleichgewicht von Bedürfnissen und Mitteln der Befriedigung plötzlich zu verlieren und in heftigen Erschütterungen den Gang seiner Kultur auf lange hinaus zu unterbrechen. Ein starkes Übergewicht des Landvolks ist die beste Gewähr für gesunde und gesicherte soziale Verhältnisse. Aber der heutige Berliner weist mit Stolz auf die Hunderttausende hin, die in Berlin zusammengepackt sind, und überall in Deutschland schwellen die Dörfer zu Städten, die Städte zu Großstädten an. städtischer Geist und städtische Bedürfnisse wuchern hinaus aufs platte Land und ziehen den Land- mann magnetisch vom Pfluge fort in die Werkstätten, die bunten Straßen, die erleuchteten Vierhallen, die Schauspiele der Stadt. Vielfach und dauernd ertönt die Klage, daß es auf dem Lande an Händen mangle, während die Städte von Arbeitern strotzen, die oft keine Arbeit finden. Das Ergebnis ist, daß immer mehr die Beschaffung der wichtigsten Lebensbedürfnisse, der Nähr¬ stoffe fremden Ländern und Völkern überlassen wird. Daraus folgt weiter, daß Deutschland in wachsendem Maße gerade in den unentbehrlichen Erzeug¬ nissen von Fremden abhängig wird, während diese Fremden sich beliebig von dein Bedürfnis nach den weit eher entbehrlichen Erzeugnissen Demschlands befreien können. Unsre Lage nach außen verschlechtert sich mit dem Überhand¬ nehmen unsrer Industrie trotz der durch sie herbeigeschleppten Geldmengen, die überdies an sich nicht zu den dauerhaftesten Werten gehören. Es gab eine Zeit, wo sich unter dem Bundschuh der verknechtete und mißhandelte Bauer zu Mord und Brand erhob wider die Herren. Wie heute der Landmann mit Schrecken auf die wildeu Massen der städtischen Arbeiter blickt, die nur gewaltsam von der Erhebung zurückgehalten werden, so erschien dem damaligen Stadtbürger der Bundschuh als etwas Unerhörtes. Denn in dem städtischen Wesen herrschte Ruhe und Ordnung, Recht und Gesetzlichkeit, obwohl es an Reichtum und aufstrebender Kultur keineswegs fehlte. Aber die städtische Arbeit war wohlgeordnet, das Gemeinwesen selbst handhabte die öffentliche Gewalt, die unterste Klasse der Arbeiter war beschränkt in der Zahl, und durch die gesetzlichen wie physischen Hindernisse in der Bewegung des Volks wurde das Ausdauer der Massen vermieden. Vor allem hatte die rohe Masse nicht die heutigen Mittel der Zerstörung in der Hand, der Bürger aber war ihr in den Waffen überlegen. Niemals hat die städtische Arbeit bei uns so geblüht, wie zu jener Zeit, und niemals ist die soziale Ordnung der Städte

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/164
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/164>, abgerufen am 08.01.2025.