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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Der Antisemitismus in Hessen

ihre "Bälle" mit Vorliebe auf den ersten christlichen Feiertag zu legen. Die
Viehhändler haben sich wegen des am Montag in Frankfurt a. M. abgehaltnen
großen Viehmartts die Berechtigung erkämpft, ihr Vieh des Sonntags an die
nächste Eisenbahnstation zu treiben. Sie richten das gerne so ein, daß sie an
der Kirche vorbei kommen oder still halten, wenn die, Glocken läuten. Früher
war der Jude sichtlich bemüht, sich mit dem "Gallach," d. i. dem evangelischen
Pfarrer, auf gutem Fuß zu halten; heute thut er ihm Schabernack an, wo er
nur kauu, auch wenn der Pfarrer gar nicht in Antisemitismus macht. Es ist
also nicht so zu verwundern, daß auch in deu "Muckerdörfern" und bei einem
Teile der evangelischen Geistlichkeit antisemitische Stimmung herrscht.

Wir sehn also bei dem jetzigen Antisemitismus in Hessen Berechtigtes
und Unberechtigtes durcheinander gühren. Berechtigt ist die Gegenströmung
des deutsch-christlichen Volksgesühls gegen die zunehmende Verjudung über¬
haupt; berechtigt ist für Hessen der Wunsch, der auch von Fürst, Regierung
und Kammer geteilt wurde, daß die Herren Juden in ihren Geschäften mit
den armen Bauern etwas ehrlicher und barmherziger werden möchten. Be¬
rechtigt ist die Forderung, daß der Jude, als Gast im deutschen Volke, bescheidner
werden und die Gefühle der christlichen Mehrheit achten lerne. Berechtigt ist
das Vorgehen der Antisemiten, notorische Wucherer an den Pranger zu stellen
und das Volk wirtschaftlich von den Juden unabhängig zu machen. Die
Konsumvereine, die Vereine zu direktem Bezug landwirtschaftlicher Artikel, die
Raiffeisenschen Kassen, die überall entstehen, wo der Antisemitismus Wurzel
gefaßt hat, sind sehr segensreiche Einrichtungen. Auch die Einrichtung "judeu-
reiner" Märkte und die Parole: "Kauft bei keinem Juden!" kaun man den
Leuten, die einen so schweren Kampf zu kämpfen haben, nicht übel nehmen.
Die Juden, die ihr Geschäft ehrlich und redlich betreiben, bekommen schon
Kunden. Berechtigt ist auch der Wunsch, nach wie vor die Juden von den
höhern Staatsämtern fern zu halten, mit oder ohne Ausnahmegesetz. Mögen
sie nach wie vor Ärzte und Advokaten sein, für jüdische Kreisräte, Richter,
Forstmeister, Steuerräte und Ghmnasiallehrer wird man sich im Hessenlande
nicht erwärmen.

Zu verurteilen, und zwar aufs entschiedenste, sind die Roheiten und
Gewaltthaten, die hie und da gegen Juden, ihr Eigentum und ihre Familie
vorgekommen sind. Mit solchen Mitteln kämpft kein anständiger Mensch. So
etwas ist am allerwenigsten christlich oder deutsch. Zu verurteilen ist ferner
die Rede von dem Juden als einem "fremden Körper," der entfernt werden
müsse. Das heißt doch nichts andres, als man solle die Juden totschlagen
oder aus dem Lande treiben. Man fürchte den Einfluß des Judentums auch
uicht zu sehr. Der deutsche Michel wäre Menus genng, es in den Schranken
zu halten, wenn er nnr einmal aufwachte. Die 600000 Juden, die wir bis
jetzt in Deutschland haben, schaden uns nichts. Man suche nur das Ein-


Der Antisemitismus in Hessen

ihre „Bälle" mit Vorliebe auf den ersten christlichen Feiertag zu legen. Die
Viehhändler haben sich wegen des am Montag in Frankfurt a. M. abgehaltnen
großen Viehmartts die Berechtigung erkämpft, ihr Vieh des Sonntags an die
nächste Eisenbahnstation zu treiben. Sie richten das gerne so ein, daß sie an
der Kirche vorbei kommen oder still halten, wenn die, Glocken läuten. Früher
war der Jude sichtlich bemüht, sich mit dem „Gallach," d. i. dem evangelischen
Pfarrer, auf gutem Fuß zu halten; heute thut er ihm Schabernack an, wo er
nur kauu, auch wenn der Pfarrer gar nicht in Antisemitismus macht. Es ist
also nicht so zu verwundern, daß auch in deu „Muckerdörfern" und bei einem
Teile der evangelischen Geistlichkeit antisemitische Stimmung herrscht.

Wir sehn also bei dem jetzigen Antisemitismus in Hessen Berechtigtes
und Unberechtigtes durcheinander gühren. Berechtigt ist die Gegenströmung
des deutsch-christlichen Volksgesühls gegen die zunehmende Verjudung über¬
haupt; berechtigt ist für Hessen der Wunsch, der auch von Fürst, Regierung
und Kammer geteilt wurde, daß die Herren Juden in ihren Geschäften mit
den armen Bauern etwas ehrlicher und barmherziger werden möchten. Be¬
rechtigt ist die Forderung, daß der Jude, als Gast im deutschen Volke, bescheidner
werden und die Gefühle der christlichen Mehrheit achten lerne. Berechtigt ist
das Vorgehen der Antisemiten, notorische Wucherer an den Pranger zu stellen
und das Volk wirtschaftlich von den Juden unabhängig zu machen. Die
Konsumvereine, die Vereine zu direktem Bezug landwirtschaftlicher Artikel, die
Raiffeisenschen Kassen, die überall entstehen, wo der Antisemitismus Wurzel
gefaßt hat, sind sehr segensreiche Einrichtungen. Auch die Einrichtung „judeu-
reiner" Märkte und die Parole: „Kauft bei keinem Juden!" kaun man den
Leuten, die einen so schweren Kampf zu kämpfen haben, nicht übel nehmen.
Die Juden, die ihr Geschäft ehrlich und redlich betreiben, bekommen schon
Kunden. Berechtigt ist auch der Wunsch, nach wie vor die Juden von den
höhern Staatsämtern fern zu halten, mit oder ohne Ausnahmegesetz. Mögen
sie nach wie vor Ärzte und Advokaten sein, für jüdische Kreisräte, Richter,
Forstmeister, Steuerräte und Ghmnasiallehrer wird man sich im Hessenlande
nicht erwärmen.

Zu verurteilen, und zwar aufs entschiedenste, sind die Roheiten und
Gewaltthaten, die hie und da gegen Juden, ihr Eigentum und ihre Familie
vorgekommen sind. Mit solchen Mitteln kämpft kein anständiger Mensch. So
etwas ist am allerwenigsten christlich oder deutsch. Zu verurteilen ist ferner
die Rede von dem Juden als einem „fremden Körper," der entfernt werden
müsse. Das heißt doch nichts andres, als man solle die Juden totschlagen
oder aus dem Lande treiben. Man fürchte den Einfluß des Judentums auch
uicht zu sehr. Der deutsche Michel wäre Menus genng, es in den Schranken
zu halten, wenn er nnr einmal aufwachte. Die 600000 Juden, die wir bis
jetzt in Deutschland haben, schaden uns nichts. Man suche nur das Ein-


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[0159] Der Antisemitismus in Hessen ihre „Bälle" mit Vorliebe auf den ersten christlichen Feiertag zu legen. Die Viehhändler haben sich wegen des am Montag in Frankfurt a. M. abgehaltnen großen Viehmartts die Berechtigung erkämpft, ihr Vieh des Sonntags an die nächste Eisenbahnstation zu treiben. Sie richten das gerne so ein, daß sie an der Kirche vorbei kommen oder still halten, wenn die, Glocken läuten. Früher war der Jude sichtlich bemüht, sich mit dem „Gallach," d. i. dem evangelischen Pfarrer, auf gutem Fuß zu halten; heute thut er ihm Schabernack an, wo er nur kauu, auch wenn der Pfarrer gar nicht in Antisemitismus macht. Es ist also nicht so zu verwundern, daß auch in deu „Muckerdörfern" und bei einem Teile der evangelischen Geistlichkeit antisemitische Stimmung herrscht. Wir sehn also bei dem jetzigen Antisemitismus in Hessen Berechtigtes und Unberechtigtes durcheinander gühren. Berechtigt ist die Gegenströmung des deutsch-christlichen Volksgesühls gegen die zunehmende Verjudung über¬ haupt; berechtigt ist für Hessen der Wunsch, der auch von Fürst, Regierung und Kammer geteilt wurde, daß die Herren Juden in ihren Geschäften mit den armen Bauern etwas ehrlicher und barmherziger werden möchten. Be¬ rechtigt ist die Forderung, daß der Jude, als Gast im deutschen Volke, bescheidner werden und die Gefühle der christlichen Mehrheit achten lerne. Berechtigt ist das Vorgehen der Antisemiten, notorische Wucherer an den Pranger zu stellen und das Volk wirtschaftlich von den Juden unabhängig zu machen. Die Konsumvereine, die Vereine zu direktem Bezug landwirtschaftlicher Artikel, die Raiffeisenschen Kassen, die überall entstehen, wo der Antisemitismus Wurzel gefaßt hat, sind sehr segensreiche Einrichtungen. Auch die Einrichtung „judeu- reiner" Märkte und die Parole: „Kauft bei keinem Juden!" kaun man den Leuten, die einen so schweren Kampf zu kämpfen haben, nicht übel nehmen. Die Juden, die ihr Geschäft ehrlich und redlich betreiben, bekommen schon Kunden. Berechtigt ist auch der Wunsch, nach wie vor die Juden von den höhern Staatsämtern fern zu halten, mit oder ohne Ausnahmegesetz. Mögen sie nach wie vor Ärzte und Advokaten sein, für jüdische Kreisräte, Richter, Forstmeister, Steuerräte und Ghmnasiallehrer wird man sich im Hessenlande nicht erwärmen. Zu verurteilen, und zwar aufs entschiedenste, sind die Roheiten und Gewaltthaten, die hie und da gegen Juden, ihr Eigentum und ihre Familie vorgekommen sind. Mit solchen Mitteln kämpft kein anständiger Mensch. So etwas ist am allerwenigsten christlich oder deutsch. Zu verurteilen ist ferner die Rede von dem Juden als einem „fremden Körper," der entfernt werden müsse. Das heißt doch nichts andres, als man solle die Juden totschlagen oder aus dem Lande treiben. Man fürchte den Einfluß des Judentums auch uicht zu sehr. Der deutsche Michel wäre Menus genng, es in den Schranken zu halten, wenn er nnr einmal aufwachte. Die 600000 Juden, die wir bis jetzt in Deutschland haben, schaden uns nichts. Man suche nur das Ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/159>, abgerufen am 08.01.2025.