Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Der Antisemitismus in Hessen Bauern das deutsche und christliche Gefühl gegen den Juden, und das ist Es kommt aber noch manches andre hinzu, was dazu beiträgt, daß der Und noch etwas: der Antisemitismus, dessen Führer dem Christentum Der heutige Jude betrachtet das Judentum als den eigentlichen Sitz der Der Antisemitismus in Hessen Bauern das deutsche und christliche Gefühl gegen den Juden, und das ist Es kommt aber noch manches andre hinzu, was dazu beiträgt, daß der Und noch etwas: der Antisemitismus, dessen Führer dem Christentum Der heutige Jude betrachtet das Judentum als den eigentlichen Sitz der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0158" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212634"/> <fw type="header" place="top"> Der Antisemitismus in Hessen</fw><lb/> <p xml:id="ID_488" prev="#ID_487"> Bauern das deutsche und christliche Gefühl gegen den Juden, und das ist<lb/> eben der Antisemitismus.</p><lb/> <p xml:id="ID_489"> Es kommt aber noch manches andre hinzu, was dazu beiträgt, daß der<lb/> Antisemitismus gerade jetzt zu einer brennenden Frage wird. Früher wußte<lb/> der Jude seinen wachsenden Reichtum zu verbergen. Er fürchtete die Wieder¬<lb/> kehr spanischer Vorkommnisse; er ging schmierig und lumpig einher, und erst<lb/> zu Hause, im 'Kreise der Seinen, gönnte er sich Erholung und Genuß. Jetzt<lb/> ist er äußerlich ganz anders geworden. Er kleidet sich städtisch; seine „Damen"<lb/> haben die neuesten Moden. Er hat eine höhere Schule besucht und mehrere<lb/> Jahre in fremden Städten zugebracht. Er gehört zu deu „feinen" Leuten.<lb/> Da erwacht, in dem Bauern der Neid. Er hat von seinen Großeltern, gehört,<lb/> wie der erste Jude ins Dorf kam, arm und verlumpt; wie er am Sonntag<lb/> seinen Rock versetzen mußte, um Geld zum Betriebe eines kleinen Geschäfts in<lb/> Zwirn und Schnur zu bekommen und seinen Rock für den Schabbes wieder<lb/> aufzulösen. Die Söhne dieses „Bündeljuden" wurden schon Hausbesitzer und<lb/> haben im Vieh- und Getreidehandel riesige Summen verdient. Von den Enkeln<lb/> ist der eine ein renommirter Badearzt, der andre ein wohlbekannter Advokat,<lb/> der dritte, der im Elternhause geblieben ist, ist sein Zwingherr, der nicht bloß<lb/> ihn, sondern noch dreißig bis vierzig weitere Bauern in den Krallen hat.<lb/> Mit dem Juden ist es ebenso vorwärts gegangen, wie mit der Familie des<lb/> Bauern rückwärts. Er sieht aber die Hanptursache des Ruins nicht in<lb/> seiner Faulheit und Liederlichkeit, nicht darin, daß er in seiner Dummheit und<lb/> Unbesonnenheit, im Schnapsdusel einen verkehrten Handel nach dem andern<lb/> gemacht hat, sondern allein im Juden. Warum hat er sich denn mit ihm<lb/> eingelassen? Warum hat er nicht gerechnet? Warum hat er den Juden, der<lb/> ihm alles dienstwillig besorgte, über sich walten lassen, wie eine Vorsehung?</p><lb/> <p xml:id="ID_490"> Und noch etwas: der Antisemitismus, dessen Führer dem Christentum<lb/> zum Teil kühl bis ans Herz hinan gegenüber stehn, findet auch bei den<lb/> Bauern der ruhigen, fleißigen, unverschuldeten Dörfer der Wetterau (den<lb/> „Muckerdörfern") so begeisterte Aufnahme, weil es viele Juden geflissentlich<lb/> darauf anlege», das christliche Vvlksgeftthl zu verletzen.</p><lb/> <p xml:id="ID_491" next="#ID_492"> Der heutige Jude betrachtet das Judentum als den eigentlichen Sitz der<lb/> Kultur und Intelligenz. Das Christentum verachtet er von Herzen. Er hat<lb/> seinen Renan und Strauß gelesen, die jüdisch-rabbinische Litteratur mit ihrem<lb/> Hohn über deu „gesenkten" Messias der Christen wird wieder unter die Leute<lb/> gebracht. Mancher Stadtrabbiner und mancher „Bacher" auf dem Lande hat<lb/> sich schon ernstlich mit dem Gedanken getragen, die „Gottgläubiger unter den<lb/> Christen" ihrer Jehovahgemeinde „anzugliedern"! Früher hielten jüdische Herr¬<lb/> schaften ihr Gesinde zur Kirche an; das dürfte kaum noch vorkommen. Wohl<lb/> aber kommt es vor, daß sie ihren Dienstboten den Kirchenbesuch verbieten oder<lb/> unmöglich machen. „Nu, biste aach fromm?" heißt es da. Sie versuchen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0158]
Der Antisemitismus in Hessen
Bauern das deutsche und christliche Gefühl gegen den Juden, und das ist
eben der Antisemitismus.
Es kommt aber noch manches andre hinzu, was dazu beiträgt, daß der
Antisemitismus gerade jetzt zu einer brennenden Frage wird. Früher wußte
der Jude seinen wachsenden Reichtum zu verbergen. Er fürchtete die Wieder¬
kehr spanischer Vorkommnisse; er ging schmierig und lumpig einher, und erst
zu Hause, im 'Kreise der Seinen, gönnte er sich Erholung und Genuß. Jetzt
ist er äußerlich ganz anders geworden. Er kleidet sich städtisch; seine „Damen"
haben die neuesten Moden. Er hat eine höhere Schule besucht und mehrere
Jahre in fremden Städten zugebracht. Er gehört zu deu „feinen" Leuten.
Da erwacht, in dem Bauern der Neid. Er hat von seinen Großeltern, gehört,
wie der erste Jude ins Dorf kam, arm und verlumpt; wie er am Sonntag
seinen Rock versetzen mußte, um Geld zum Betriebe eines kleinen Geschäfts in
Zwirn und Schnur zu bekommen und seinen Rock für den Schabbes wieder
aufzulösen. Die Söhne dieses „Bündeljuden" wurden schon Hausbesitzer und
haben im Vieh- und Getreidehandel riesige Summen verdient. Von den Enkeln
ist der eine ein renommirter Badearzt, der andre ein wohlbekannter Advokat,
der dritte, der im Elternhause geblieben ist, ist sein Zwingherr, der nicht bloß
ihn, sondern noch dreißig bis vierzig weitere Bauern in den Krallen hat.
Mit dem Juden ist es ebenso vorwärts gegangen, wie mit der Familie des
Bauern rückwärts. Er sieht aber die Hanptursache des Ruins nicht in
seiner Faulheit und Liederlichkeit, nicht darin, daß er in seiner Dummheit und
Unbesonnenheit, im Schnapsdusel einen verkehrten Handel nach dem andern
gemacht hat, sondern allein im Juden. Warum hat er sich denn mit ihm
eingelassen? Warum hat er nicht gerechnet? Warum hat er den Juden, der
ihm alles dienstwillig besorgte, über sich walten lassen, wie eine Vorsehung?
Und noch etwas: der Antisemitismus, dessen Führer dem Christentum
zum Teil kühl bis ans Herz hinan gegenüber stehn, findet auch bei den
Bauern der ruhigen, fleißigen, unverschuldeten Dörfer der Wetterau (den
„Muckerdörfern") so begeisterte Aufnahme, weil es viele Juden geflissentlich
darauf anlege», das christliche Vvlksgeftthl zu verletzen.
Der heutige Jude betrachtet das Judentum als den eigentlichen Sitz der
Kultur und Intelligenz. Das Christentum verachtet er von Herzen. Er hat
seinen Renan und Strauß gelesen, die jüdisch-rabbinische Litteratur mit ihrem
Hohn über deu „gesenkten" Messias der Christen wird wieder unter die Leute
gebracht. Mancher Stadtrabbiner und mancher „Bacher" auf dem Lande hat
sich schon ernstlich mit dem Gedanken getragen, die „Gottgläubiger unter den
Christen" ihrer Jehovahgemeinde „anzugliedern"! Früher hielten jüdische Herr¬
schaften ihr Gesinde zur Kirche an; das dürfte kaum noch vorkommen. Wohl
aber kommt es vor, daß sie ihren Dienstboten den Kirchenbesuch verbieten oder
unmöglich machen. „Nu, biste aach fromm?" heißt es da. Sie versuchen
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