Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Antisemitismus in Hessen

Dann klagt er ihn aus, der Staat muß ihm Handlangerdienste thun, der
Bauer mit seiner Familie fliegt auf die Straße. Es ist der Kampf der Mücke
mit der Spinne.

Daß der so auf die Straße gesetzte Bauer, der nur die Wahl hat, ob
er in den Kohlenwerken Westfalens arbeiten oder zu Hause halb verhungern
will, dem Juden gram ist, versteht sich von selbst, ebenso der, der dieses sein
endliches Schicksal vor Augen hat und ihm hoffnungslos entgegengeht. Er
flucht seinem Peiniger, er ballt die Faust gegen ihn, er haut ihn auch ein¬
mal durch oder wirft ihm die Fenster ein; aber solange er im Hause ist und
dem Scheine nach noch etwas sein eigen nennt, muß er dem Juden Ordre
Pariren. Verzweiflung erfaßt ihn, der Schnaps wird sein Tröster. Auch den
Schnaps liefert ihm der schmunzelnde Jude und lobt ihn, wenn er ein immer
eifrigerer Kunde wird.

So sinkt ein Teil des Volks in vollständige Hörigkeit. Die Zustände
werden schou ganz mittelalterlich. Früher hatte jedes Dorf seinen Raubritter,
jetzt hat es seinen Juden. Auch das jus xrim^ö nootis hat seine moderne
Wiederholung gefunden. Von manchem Handelsmann mit krummer Nase geht
die Sage, es müsse ihm die Frau oder Tochter des Bauern zu Willen sein,
damit er noch etwas mit der Ausklagung warte.

Visher hatten die armen Leute niemand, der sich ihrer ernstlich annahm.
Der Jude ist vorsichtig; der Thatbestand des Wuchers ist ihm nie nachzu¬
weisen, dafür ist er ein viel zu geriebner Kriminalstudent. Der Richter mußte,
wenn er auch innerlich über das schändliche Unrecht wetterte, seinen Spruch
thun, der Gerichtsvollzieher mußte den Schuldner pfänden. In den Kreisen
der nationalliberalen und auch der freisinnig gerichteten städtischen Bevölke¬
rung war von jeher nur eine Stimme der Empörung über dieses Treiben;
aber die Stimme wagte nicht laut zu werden. Man fürchtete intolerant ge¬
scholten zu werden. Man wollte es mit den einflußreichen Juden nicht ver¬
derben. Bei den Neichstagswahlen wurde hie und da ein vollständiges
Wettkriechen veranstaltet um die Stimmen und die Beihilfe der lieben israeli¬
tischen Mitbürger deutscher Nation. Nun ist zweierlei möglich. Entweder
der Bauer wird des Juden Höriger und hascht dankbar nach seinen Gnaden¬
brocken; der Jude wird sein Herr und -- sein Held. Bei Kirmessen, in der
Spinnstube, in der Schmiede, im Wirtshaus und im Backhaus sind es des
Juden Familienverhältnisse, seine Freiereien, seine listigen Händel, seine Kunst,
den Gesetzen ein Schnippchen zu schlagen, die fast im Tone des Nibelungen¬
liedes von den Bauern besprochen und bewundert werden. Wer es doch auch
so könnte! Sie, die Bauern, sind doch auch touragirte Kerle, denen es auf
ein bischen Meineid nicht ankommt, aber -- sie werden überführt und kommen
ins Zuchthaus. Der Judenbann und die Judenknechtschaft lagen thatsächlich
schon jahrzehntelang auf manchen Dörfern. Oder, es empört sich in dem


Der Antisemitismus in Hessen

Dann klagt er ihn aus, der Staat muß ihm Handlangerdienste thun, der
Bauer mit seiner Familie fliegt auf die Straße. Es ist der Kampf der Mücke
mit der Spinne.

Daß der so auf die Straße gesetzte Bauer, der nur die Wahl hat, ob
er in den Kohlenwerken Westfalens arbeiten oder zu Hause halb verhungern
will, dem Juden gram ist, versteht sich von selbst, ebenso der, der dieses sein
endliches Schicksal vor Augen hat und ihm hoffnungslos entgegengeht. Er
flucht seinem Peiniger, er ballt die Faust gegen ihn, er haut ihn auch ein¬
mal durch oder wirft ihm die Fenster ein; aber solange er im Hause ist und
dem Scheine nach noch etwas sein eigen nennt, muß er dem Juden Ordre
Pariren. Verzweiflung erfaßt ihn, der Schnaps wird sein Tröster. Auch den
Schnaps liefert ihm der schmunzelnde Jude und lobt ihn, wenn er ein immer
eifrigerer Kunde wird.

So sinkt ein Teil des Volks in vollständige Hörigkeit. Die Zustände
werden schou ganz mittelalterlich. Früher hatte jedes Dorf seinen Raubritter,
jetzt hat es seinen Juden. Auch das jus xrim^ö nootis hat seine moderne
Wiederholung gefunden. Von manchem Handelsmann mit krummer Nase geht
die Sage, es müsse ihm die Frau oder Tochter des Bauern zu Willen sein,
damit er noch etwas mit der Ausklagung warte.

Visher hatten die armen Leute niemand, der sich ihrer ernstlich annahm.
Der Jude ist vorsichtig; der Thatbestand des Wuchers ist ihm nie nachzu¬
weisen, dafür ist er ein viel zu geriebner Kriminalstudent. Der Richter mußte,
wenn er auch innerlich über das schändliche Unrecht wetterte, seinen Spruch
thun, der Gerichtsvollzieher mußte den Schuldner pfänden. In den Kreisen
der nationalliberalen und auch der freisinnig gerichteten städtischen Bevölke¬
rung war von jeher nur eine Stimme der Empörung über dieses Treiben;
aber die Stimme wagte nicht laut zu werden. Man fürchtete intolerant ge¬
scholten zu werden. Man wollte es mit den einflußreichen Juden nicht ver¬
derben. Bei den Neichstagswahlen wurde hie und da ein vollständiges
Wettkriechen veranstaltet um die Stimmen und die Beihilfe der lieben israeli¬
tischen Mitbürger deutscher Nation. Nun ist zweierlei möglich. Entweder
der Bauer wird des Juden Höriger und hascht dankbar nach seinen Gnaden¬
brocken; der Jude wird sein Herr und — sein Held. Bei Kirmessen, in der
Spinnstube, in der Schmiede, im Wirtshaus und im Backhaus sind es des
Juden Familienverhältnisse, seine Freiereien, seine listigen Händel, seine Kunst,
den Gesetzen ein Schnippchen zu schlagen, die fast im Tone des Nibelungen¬
liedes von den Bauern besprochen und bewundert werden. Wer es doch auch
so könnte! Sie, die Bauern, sind doch auch touragirte Kerle, denen es auf
ein bischen Meineid nicht ankommt, aber — sie werden überführt und kommen
ins Zuchthaus. Der Judenbann und die Judenknechtschaft lagen thatsächlich
schon jahrzehntelang auf manchen Dörfern. Oder, es empört sich in dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0157" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212633"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Antisemitismus in Hessen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_484" prev="#ID_483"> Dann klagt er ihn aus, der Staat muß ihm Handlangerdienste thun, der<lb/>
Bauer mit seiner Familie fliegt auf die Straße. Es ist der Kampf der Mücke<lb/>
mit der Spinne.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_485"> Daß der so auf die Straße gesetzte Bauer, der nur die Wahl hat, ob<lb/>
er in den Kohlenwerken Westfalens arbeiten oder zu Hause halb verhungern<lb/>
will, dem Juden gram ist, versteht sich von selbst, ebenso der, der dieses sein<lb/>
endliches Schicksal vor Augen hat und ihm hoffnungslos entgegengeht. Er<lb/>
flucht seinem Peiniger, er ballt die Faust gegen ihn, er haut ihn auch ein¬<lb/>
mal durch oder wirft ihm die Fenster ein; aber solange er im Hause ist und<lb/>
dem Scheine nach noch etwas sein eigen nennt, muß er dem Juden Ordre<lb/>
Pariren. Verzweiflung erfaßt ihn, der Schnaps wird sein Tröster. Auch den<lb/>
Schnaps liefert ihm der schmunzelnde Jude und lobt ihn, wenn er ein immer<lb/>
eifrigerer Kunde wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_486"> So sinkt ein Teil des Volks in vollständige Hörigkeit. Die Zustände<lb/>
werden schou ganz mittelalterlich. Früher hatte jedes Dorf seinen Raubritter,<lb/>
jetzt hat es seinen Juden. Auch das jus xrim^ö nootis hat seine moderne<lb/>
Wiederholung gefunden. Von manchem Handelsmann mit krummer Nase geht<lb/>
die Sage, es müsse ihm die Frau oder Tochter des Bauern zu Willen sein,<lb/>
damit er noch etwas mit der Ausklagung warte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_487" next="#ID_488"> Visher hatten die armen Leute niemand, der sich ihrer ernstlich annahm.<lb/>
Der Jude ist vorsichtig; der Thatbestand des Wuchers ist ihm nie nachzu¬<lb/>
weisen, dafür ist er ein viel zu geriebner Kriminalstudent. Der Richter mußte,<lb/>
wenn er auch innerlich über das schändliche Unrecht wetterte, seinen Spruch<lb/>
thun, der Gerichtsvollzieher mußte den Schuldner pfänden. In den Kreisen<lb/>
der nationalliberalen und auch der freisinnig gerichteten städtischen Bevölke¬<lb/>
rung war von jeher nur eine Stimme der Empörung über dieses Treiben;<lb/>
aber die Stimme wagte nicht laut zu werden. Man fürchtete intolerant ge¬<lb/>
scholten zu werden. Man wollte es mit den einflußreichen Juden nicht ver¬<lb/>
derben. Bei den Neichstagswahlen wurde hie und da ein vollständiges<lb/>
Wettkriechen veranstaltet um die Stimmen und die Beihilfe der lieben israeli¬<lb/>
tischen Mitbürger deutscher Nation. Nun ist zweierlei möglich. Entweder<lb/>
der Bauer wird des Juden Höriger und hascht dankbar nach seinen Gnaden¬<lb/>
brocken; der Jude wird sein Herr und &#x2014; sein Held. Bei Kirmessen, in der<lb/>
Spinnstube, in der Schmiede, im Wirtshaus und im Backhaus sind es des<lb/>
Juden Familienverhältnisse, seine Freiereien, seine listigen Händel, seine Kunst,<lb/>
den Gesetzen ein Schnippchen zu schlagen, die fast im Tone des Nibelungen¬<lb/>
liedes von den Bauern besprochen und bewundert werden. Wer es doch auch<lb/>
so könnte! Sie, die Bauern, sind doch auch touragirte Kerle, denen es auf<lb/>
ein bischen Meineid nicht ankommt, aber &#x2014; sie werden überführt und kommen<lb/>
ins Zuchthaus. Der Judenbann und die Judenknechtschaft lagen thatsächlich<lb/>
schon jahrzehntelang auf manchen Dörfern. Oder, es empört sich in dem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0157] Der Antisemitismus in Hessen Dann klagt er ihn aus, der Staat muß ihm Handlangerdienste thun, der Bauer mit seiner Familie fliegt auf die Straße. Es ist der Kampf der Mücke mit der Spinne. Daß der so auf die Straße gesetzte Bauer, der nur die Wahl hat, ob er in den Kohlenwerken Westfalens arbeiten oder zu Hause halb verhungern will, dem Juden gram ist, versteht sich von selbst, ebenso der, der dieses sein endliches Schicksal vor Augen hat und ihm hoffnungslos entgegengeht. Er flucht seinem Peiniger, er ballt die Faust gegen ihn, er haut ihn auch ein¬ mal durch oder wirft ihm die Fenster ein; aber solange er im Hause ist und dem Scheine nach noch etwas sein eigen nennt, muß er dem Juden Ordre Pariren. Verzweiflung erfaßt ihn, der Schnaps wird sein Tröster. Auch den Schnaps liefert ihm der schmunzelnde Jude und lobt ihn, wenn er ein immer eifrigerer Kunde wird. So sinkt ein Teil des Volks in vollständige Hörigkeit. Die Zustände werden schou ganz mittelalterlich. Früher hatte jedes Dorf seinen Raubritter, jetzt hat es seinen Juden. Auch das jus xrim^ö nootis hat seine moderne Wiederholung gefunden. Von manchem Handelsmann mit krummer Nase geht die Sage, es müsse ihm die Frau oder Tochter des Bauern zu Willen sein, damit er noch etwas mit der Ausklagung warte. Visher hatten die armen Leute niemand, der sich ihrer ernstlich annahm. Der Jude ist vorsichtig; der Thatbestand des Wuchers ist ihm nie nachzu¬ weisen, dafür ist er ein viel zu geriebner Kriminalstudent. Der Richter mußte, wenn er auch innerlich über das schändliche Unrecht wetterte, seinen Spruch thun, der Gerichtsvollzieher mußte den Schuldner pfänden. In den Kreisen der nationalliberalen und auch der freisinnig gerichteten städtischen Bevölke¬ rung war von jeher nur eine Stimme der Empörung über dieses Treiben; aber die Stimme wagte nicht laut zu werden. Man fürchtete intolerant ge¬ scholten zu werden. Man wollte es mit den einflußreichen Juden nicht ver¬ derben. Bei den Neichstagswahlen wurde hie und da ein vollständiges Wettkriechen veranstaltet um die Stimmen und die Beihilfe der lieben israeli¬ tischen Mitbürger deutscher Nation. Nun ist zweierlei möglich. Entweder der Bauer wird des Juden Höriger und hascht dankbar nach seinen Gnaden¬ brocken; der Jude wird sein Herr und — sein Held. Bei Kirmessen, in der Spinnstube, in der Schmiede, im Wirtshaus und im Backhaus sind es des Juden Familienverhältnisse, seine Freiereien, seine listigen Händel, seine Kunst, den Gesetzen ein Schnippchen zu schlagen, die fast im Tone des Nibelungen¬ liedes von den Bauern besprochen und bewundert werden. Wer es doch auch so könnte! Sie, die Bauern, sind doch auch touragirte Kerle, denen es auf ein bischen Meineid nicht ankommt, aber — sie werden überführt und kommen ins Zuchthaus. Der Judenbann und die Judenknechtschaft lagen thatsächlich schon jahrzehntelang auf manchen Dörfern. Oder, es empört sich in dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/157
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/157>, abgerufen am 08.01.2025.