Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Antisemitismus in Hessen

Hessen ist wohl der stärkste Beweis dafür, daß Hessen ein Staat mit festem
Gefüge geworden ist.

Die höchsten Autoritäten des Landes haben sich aufs schärfste gegen
den Antisemitismus erklärt; das Oberkonststorium hat den evangelischen Geist¬
lichen jede Teilnahme an der Bewegung untersagt. Und dennoch dieses riesige
Wachsen. Woher kommt das? Nicht von oben, von den "Junkern und
Pfaffen" und ihrem Anhang, wie man sich ebenso taktvoll als liebenswürdig
ausdrückte, sondern die Bewegung kommt aus dem innersten Leben des Volks
mit Naturgewalt heraus. Keine Gewalt wird sie unterdrücken oder ersticken.
Die Bewegung ist da, sie wird zunehmen. Es gilt, mit ihr zu rechnen, sie
zu studiren, das Berechtigte an ihr anzuerkennen, sie von ihren Schlacken zu
reinigen und dazu zu helfen, daß auch sie zum Wohle des Vaterlandes aus¬
schlage.

Den Hauptsitz hat der Antisemitismus auf dem flachen Lande, bei den
kleinen und mittlern Bauern. Es fehlt zwar auch in den Städten nicht an
Antisemiten, aber sie treten dort nicht besonders hervor. Warum gerade in
den ärmsten Teilen des Landes, im Vogelsberg und seinen Ausläufern? Weil
hier wirkliche soziale Notstände vorliegen.

Die hessische Regierung hat vor einigen Jahren auf Ansuchen der Land¬
stände eine Erhebung über die Verschuldung der landwirtschaftlichen Grund¬
besitzer veranstaltet. Es wurde zum Beweise eins der am höchsten gelegnen
Dörfer des Vogelsbergs nach dieser Seite hin genau untersucht. Da stellten
sich ganz erschreckende Ergebnisse heraus. Die armen Leute, die dort oben
in den Wäldern auf ihrem Gütchen mit magerm Ackerboden Hausen, haben
eigentlich gar nichts mehr. Auf dem Hause und Gütchen steht eine Hypothek,
so hoch als nur möglich. Die Kühe im Stalle sind geborgt und können nicht
bezahlt werden. Die Bauern müssen das Jahr hindurch hart arbeiten, sich
in Nahrung und Kleidung auf das Allernotwendigste einschränken und können
doch den Gerichtsvollzieher nicht abhalten! Es ist ein entsetzlich trauriges Bild.

Und sie alle haben denselben unbarmherzigen Treiber, der dieser Armut
den letzten Groschen abpreßt. Das ist der Jude. Mag er Salme (Salomon)
oder Kalme (Calmen), mag er Jtzig oder Jekof heißen, sür den armen Bauer
ist es immer dasselbe. Der Jude hat die Hypothek auss Haus und kann den
Bauer jeden Augenblick aus die Straße setzen. Der Jude hat das Vieh geborgt
und nimmt es weg, wenn es der Bauer fett gefüttert hat, um ihm dafür
wieder mageres einzustellen. Der Jude hat in magern Jahren Vorschüsse ge¬
geben; der Bauer hat von der verschriebnen Summe vielleicht nur die Hälfte
erhalten und muß die ganze Summe mit hohen Prozenten verzinsen. Einen
Strick nach dem andern dreht sich der Hilflose, bis der Jude sieht, daß nichts
mehr zu holen ist. Dann wird er grob, schimpft auch über den Leichtsinn,
die Faulheit und Liederlichkeit der Bauern, wofür er sonst kein Wort hatte.


Der Antisemitismus in Hessen

Hessen ist wohl der stärkste Beweis dafür, daß Hessen ein Staat mit festem
Gefüge geworden ist.

Die höchsten Autoritäten des Landes haben sich aufs schärfste gegen
den Antisemitismus erklärt; das Oberkonststorium hat den evangelischen Geist¬
lichen jede Teilnahme an der Bewegung untersagt. Und dennoch dieses riesige
Wachsen. Woher kommt das? Nicht von oben, von den „Junkern und
Pfaffen" und ihrem Anhang, wie man sich ebenso taktvoll als liebenswürdig
ausdrückte, sondern die Bewegung kommt aus dem innersten Leben des Volks
mit Naturgewalt heraus. Keine Gewalt wird sie unterdrücken oder ersticken.
Die Bewegung ist da, sie wird zunehmen. Es gilt, mit ihr zu rechnen, sie
zu studiren, das Berechtigte an ihr anzuerkennen, sie von ihren Schlacken zu
reinigen und dazu zu helfen, daß auch sie zum Wohle des Vaterlandes aus¬
schlage.

Den Hauptsitz hat der Antisemitismus auf dem flachen Lande, bei den
kleinen und mittlern Bauern. Es fehlt zwar auch in den Städten nicht an
Antisemiten, aber sie treten dort nicht besonders hervor. Warum gerade in
den ärmsten Teilen des Landes, im Vogelsberg und seinen Ausläufern? Weil
hier wirkliche soziale Notstände vorliegen.

Die hessische Regierung hat vor einigen Jahren auf Ansuchen der Land¬
stände eine Erhebung über die Verschuldung der landwirtschaftlichen Grund¬
besitzer veranstaltet. Es wurde zum Beweise eins der am höchsten gelegnen
Dörfer des Vogelsbergs nach dieser Seite hin genau untersucht. Da stellten
sich ganz erschreckende Ergebnisse heraus. Die armen Leute, die dort oben
in den Wäldern auf ihrem Gütchen mit magerm Ackerboden Hausen, haben
eigentlich gar nichts mehr. Auf dem Hause und Gütchen steht eine Hypothek,
so hoch als nur möglich. Die Kühe im Stalle sind geborgt und können nicht
bezahlt werden. Die Bauern müssen das Jahr hindurch hart arbeiten, sich
in Nahrung und Kleidung auf das Allernotwendigste einschränken und können
doch den Gerichtsvollzieher nicht abhalten! Es ist ein entsetzlich trauriges Bild.

Und sie alle haben denselben unbarmherzigen Treiber, der dieser Armut
den letzten Groschen abpreßt. Das ist der Jude. Mag er Salme (Salomon)
oder Kalme (Calmen), mag er Jtzig oder Jekof heißen, sür den armen Bauer
ist es immer dasselbe. Der Jude hat die Hypothek auss Haus und kann den
Bauer jeden Augenblick aus die Straße setzen. Der Jude hat das Vieh geborgt
und nimmt es weg, wenn es der Bauer fett gefüttert hat, um ihm dafür
wieder mageres einzustellen. Der Jude hat in magern Jahren Vorschüsse ge¬
geben; der Bauer hat von der verschriebnen Summe vielleicht nur die Hälfte
erhalten und muß die ganze Summe mit hohen Prozenten verzinsen. Einen
Strick nach dem andern dreht sich der Hilflose, bis der Jude sieht, daß nichts
mehr zu holen ist. Dann wird er grob, schimpft auch über den Leichtsinn,
die Faulheit und Liederlichkeit der Bauern, wofür er sonst kein Wort hatte.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0156" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212632"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Antisemitismus in Hessen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_479" prev="#ID_478"> Hessen ist wohl der stärkste Beweis dafür, daß Hessen ein Staat mit festem<lb/>
Gefüge geworden ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_480"> Die höchsten Autoritäten des Landes haben sich aufs schärfste gegen<lb/>
den Antisemitismus erklärt; das Oberkonststorium hat den evangelischen Geist¬<lb/>
lichen jede Teilnahme an der Bewegung untersagt. Und dennoch dieses riesige<lb/>
Wachsen. Woher kommt das? Nicht von oben, von den &#x201E;Junkern und<lb/>
Pfaffen" und ihrem Anhang, wie man sich ebenso taktvoll als liebenswürdig<lb/>
ausdrückte, sondern die Bewegung kommt aus dem innersten Leben des Volks<lb/>
mit Naturgewalt heraus. Keine Gewalt wird sie unterdrücken oder ersticken.<lb/>
Die Bewegung ist da, sie wird zunehmen. Es gilt, mit ihr zu rechnen, sie<lb/>
zu studiren, das Berechtigte an ihr anzuerkennen, sie von ihren Schlacken zu<lb/>
reinigen und dazu zu helfen, daß auch sie zum Wohle des Vaterlandes aus¬<lb/>
schlage.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_481"> Den Hauptsitz hat der Antisemitismus auf dem flachen Lande, bei den<lb/>
kleinen und mittlern Bauern. Es fehlt zwar auch in den Städten nicht an<lb/>
Antisemiten, aber sie treten dort nicht besonders hervor. Warum gerade in<lb/>
den ärmsten Teilen des Landes, im Vogelsberg und seinen Ausläufern? Weil<lb/>
hier wirkliche soziale Notstände vorliegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_482"> Die hessische Regierung hat vor einigen Jahren auf Ansuchen der Land¬<lb/>
stände eine Erhebung über die Verschuldung der landwirtschaftlichen Grund¬<lb/>
besitzer veranstaltet. Es wurde zum Beweise eins der am höchsten gelegnen<lb/>
Dörfer des Vogelsbergs nach dieser Seite hin genau untersucht. Da stellten<lb/>
sich ganz erschreckende Ergebnisse heraus. Die armen Leute, die dort oben<lb/>
in den Wäldern auf ihrem Gütchen mit magerm Ackerboden Hausen, haben<lb/>
eigentlich gar nichts mehr. Auf dem Hause und Gütchen steht eine Hypothek,<lb/>
so hoch als nur möglich. Die Kühe im Stalle sind geborgt und können nicht<lb/>
bezahlt werden. Die Bauern müssen das Jahr hindurch hart arbeiten, sich<lb/>
in Nahrung und Kleidung auf das Allernotwendigste einschränken und können<lb/>
doch den Gerichtsvollzieher nicht abhalten! Es ist ein entsetzlich trauriges Bild.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_483" next="#ID_484"> Und sie alle haben denselben unbarmherzigen Treiber, der dieser Armut<lb/>
den letzten Groschen abpreßt. Das ist der Jude. Mag er Salme (Salomon)<lb/>
oder Kalme (Calmen), mag er Jtzig oder Jekof heißen, sür den armen Bauer<lb/>
ist es immer dasselbe. Der Jude hat die Hypothek auss Haus und kann den<lb/>
Bauer jeden Augenblick aus die Straße setzen. Der Jude hat das Vieh geborgt<lb/>
und nimmt es weg, wenn es der Bauer fett gefüttert hat, um ihm dafür<lb/>
wieder mageres einzustellen. Der Jude hat in magern Jahren Vorschüsse ge¬<lb/>
geben; der Bauer hat von der verschriebnen Summe vielleicht nur die Hälfte<lb/>
erhalten und muß die ganze Summe mit hohen Prozenten verzinsen. Einen<lb/>
Strick nach dem andern dreht sich der Hilflose, bis der Jude sieht, daß nichts<lb/>
mehr zu holen ist. Dann wird er grob, schimpft auch über den Leichtsinn,<lb/>
die Faulheit und Liederlichkeit der Bauern, wofür er sonst kein Wort hatte.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0156] Der Antisemitismus in Hessen Hessen ist wohl der stärkste Beweis dafür, daß Hessen ein Staat mit festem Gefüge geworden ist. Die höchsten Autoritäten des Landes haben sich aufs schärfste gegen den Antisemitismus erklärt; das Oberkonststorium hat den evangelischen Geist¬ lichen jede Teilnahme an der Bewegung untersagt. Und dennoch dieses riesige Wachsen. Woher kommt das? Nicht von oben, von den „Junkern und Pfaffen" und ihrem Anhang, wie man sich ebenso taktvoll als liebenswürdig ausdrückte, sondern die Bewegung kommt aus dem innersten Leben des Volks mit Naturgewalt heraus. Keine Gewalt wird sie unterdrücken oder ersticken. Die Bewegung ist da, sie wird zunehmen. Es gilt, mit ihr zu rechnen, sie zu studiren, das Berechtigte an ihr anzuerkennen, sie von ihren Schlacken zu reinigen und dazu zu helfen, daß auch sie zum Wohle des Vaterlandes aus¬ schlage. Den Hauptsitz hat der Antisemitismus auf dem flachen Lande, bei den kleinen und mittlern Bauern. Es fehlt zwar auch in den Städten nicht an Antisemiten, aber sie treten dort nicht besonders hervor. Warum gerade in den ärmsten Teilen des Landes, im Vogelsberg und seinen Ausläufern? Weil hier wirkliche soziale Notstände vorliegen. Die hessische Regierung hat vor einigen Jahren auf Ansuchen der Land¬ stände eine Erhebung über die Verschuldung der landwirtschaftlichen Grund¬ besitzer veranstaltet. Es wurde zum Beweise eins der am höchsten gelegnen Dörfer des Vogelsbergs nach dieser Seite hin genau untersucht. Da stellten sich ganz erschreckende Ergebnisse heraus. Die armen Leute, die dort oben in den Wäldern auf ihrem Gütchen mit magerm Ackerboden Hausen, haben eigentlich gar nichts mehr. Auf dem Hause und Gütchen steht eine Hypothek, so hoch als nur möglich. Die Kühe im Stalle sind geborgt und können nicht bezahlt werden. Die Bauern müssen das Jahr hindurch hart arbeiten, sich in Nahrung und Kleidung auf das Allernotwendigste einschränken und können doch den Gerichtsvollzieher nicht abhalten! Es ist ein entsetzlich trauriges Bild. Und sie alle haben denselben unbarmherzigen Treiber, der dieser Armut den letzten Groschen abpreßt. Das ist der Jude. Mag er Salme (Salomon) oder Kalme (Calmen), mag er Jtzig oder Jekof heißen, sür den armen Bauer ist es immer dasselbe. Der Jude hat die Hypothek auss Haus und kann den Bauer jeden Augenblick aus die Straße setzen. Der Jude hat das Vieh geborgt und nimmt es weg, wenn es der Bauer fett gefüttert hat, um ihm dafür wieder mageres einzustellen. Der Jude hat in magern Jahren Vorschüsse ge¬ geben; der Bauer hat von der verschriebnen Summe vielleicht nur die Hälfte erhalten und muß die ganze Summe mit hohen Prozenten verzinsen. Einen Strick nach dem andern dreht sich der Hilflose, bis der Jude sieht, daß nichts mehr zu holen ist. Dann wird er grob, schimpft auch über den Leichtsinn, die Faulheit und Liederlichkeit der Bauern, wofür er sonst kein Wort hatte.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/156
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/156>, abgerufen am 08.01.2025.