Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage diesem Irrtum, woraus ihnen kein Vorwurf gemacht werden soll. Die Menschen¬ Es ist also klar, daß die eine allgemeine Volksschule zur Vorstufe des Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage diesem Irrtum, woraus ihnen kein Vorwurf gemacht werden soll. Die Menschen¬ Es ist also klar, daß die eine allgemeine Volksschule zur Vorstufe des <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0115" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212591"/> <fw type="header" place="top"> Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage</fw><lb/> <p xml:id="ID_315" prev="#ID_314"> diesem Irrtum, woraus ihnen kein Vorwurf gemacht werden soll. Die Menschen¬<lb/> seele ist aber keineswegs ein weißes Blatt; wenn es auch noch keine Schrift<lb/> hat, so hat es doch Farbe und Art. Wollten wir uns auf Darwinschen<lb/> Standpunkt stellen, so müßten wir sagen: Die geistige Eigenschaft des Kindes<lb/> besteht in einer Summe ererbter Eigenschaften, ererbter Tugenden und Fähig¬<lb/> keiten. Gerade in dieser Verschiedenheit besteht der Fortschritt. Es bilden<lb/> sich vorzüglichere Arten aus, während die geringern aussterben. Darum würde<lb/> die Pflege dieser Verschiedenheiten den Fortschritt, Gleichmacherei den Rückschritt<lb/> bedeuten. Wir stellen uns nicht auf diesen Standpunkt, haben es auch für<lb/> unsre Frage nicht nötig, denn es ist weltkundig, daß die ersten sechs Jahre<lb/> bei den Kindern einen Unterschied hervorbringen, der ganz erstaunlich ist. Von<lb/> dem Satze: Alle Menschen sind gleich, kaun gar nicht die Rede sein. Kinder,<lb/> die zu Hanse Anregung gehabt haben, sind andern, die stumpf aufgewachsen<lb/> find, um Jahre voraus, sie haben einen ganz andern Schatz von Wörtern und<lb/> Wahrnehmungen als jene. Schon die Sprache macht einen großen Unterschied.<lb/> Es ist nicht einerlei, ob die Schule die richtige Sprache vorfindet oder erst<lb/> noch schaffen mich; sie braucht dazu jahrelange Arbeit. Es ist ein großer<lb/> Unterschied, ob die Kräfte der Kinder außerhalb der Schule zu häuslichen oder<lb/> Feldarbeiten aufgebraucht werden oder nicht, ob das Haus bei den Schul¬<lb/> arbeiten hilft oder sie unmöglich macht. Und alle diese verschiedenartig und<lb/> verschieden vorbereiteten Kinder will man auf dieselbe Schulbank setzen? Man<lb/> will die lebendigen und schnell fastenden Kinder der bessern Stände zum Ge-<lb/> dnukenstillstaudc verurteilen, damit die andern nachkommen können? Man<lb/> würde damit den größten Schaden anrichten. Ebenso unrecht wäre es natürlich,<lb/> wenn sich der Lehrer nur mit den Kindern befassen wollte, die vorwärts<lb/> kommen, nud die andern vernachlässigte. Herr Schulinspektor Scherer meint,<lb/> man könne die durch häusliche Erziehung vernachlässigten Kinder aus der<lb/> Volksschule entfernen. Ja, wohin denn mit ihnen, wenn es nur die eine Volks¬<lb/> schule geben soll? Wenn er der Meinung ist, mau könne eine Art Straf¬<lb/> kolonie einrichten, eine Volksschule „zweiter Güte," so möchte ich dem Herrn<lb/> Schulinspektor wohl wünschen, daß er seine eignen Vorschlüge auszuführen<lb/> hätte. Er würde bald sehen, daß die in der häuslichen Erziehung vernach¬<lb/> lässigten Kinder die große Mehrzahl sind, er würde es den verehrlichen sein<lb/> Haus stürmenden Müttern schwerlich klar machen können, daß der betreffende<lb/> Herr Sohn ein Schlingel oder ein Strvhkopf ist, sondern immer nur die Ant¬<lb/> wort erhalten: Das geschieht nur, weil wir arm sind, und weil die Reichen<lb/> vorgezogen werdeu. Und der ganze schöne soziale Plan würde schon an dieser<lb/> einen Ecke scheitern.</p><lb/> <p xml:id="ID_316" next="#ID_317"> Es ist also klar, daß die eine allgemeine Volksschule zur Vorstufe des<lb/> höhern Unterrichts ungeeignet ist. Aber denkt mein sich auch die Volksschule<lb/> möglichst günstig gegliedert, so gehen doch, wenn man die Schüler bis zum</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0115]
Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage
diesem Irrtum, woraus ihnen kein Vorwurf gemacht werden soll. Die Menschen¬
seele ist aber keineswegs ein weißes Blatt; wenn es auch noch keine Schrift
hat, so hat es doch Farbe und Art. Wollten wir uns auf Darwinschen
Standpunkt stellen, so müßten wir sagen: Die geistige Eigenschaft des Kindes
besteht in einer Summe ererbter Eigenschaften, ererbter Tugenden und Fähig¬
keiten. Gerade in dieser Verschiedenheit besteht der Fortschritt. Es bilden
sich vorzüglichere Arten aus, während die geringern aussterben. Darum würde
die Pflege dieser Verschiedenheiten den Fortschritt, Gleichmacherei den Rückschritt
bedeuten. Wir stellen uns nicht auf diesen Standpunkt, haben es auch für
unsre Frage nicht nötig, denn es ist weltkundig, daß die ersten sechs Jahre
bei den Kindern einen Unterschied hervorbringen, der ganz erstaunlich ist. Von
dem Satze: Alle Menschen sind gleich, kaun gar nicht die Rede sein. Kinder,
die zu Hanse Anregung gehabt haben, sind andern, die stumpf aufgewachsen
find, um Jahre voraus, sie haben einen ganz andern Schatz von Wörtern und
Wahrnehmungen als jene. Schon die Sprache macht einen großen Unterschied.
Es ist nicht einerlei, ob die Schule die richtige Sprache vorfindet oder erst
noch schaffen mich; sie braucht dazu jahrelange Arbeit. Es ist ein großer
Unterschied, ob die Kräfte der Kinder außerhalb der Schule zu häuslichen oder
Feldarbeiten aufgebraucht werden oder nicht, ob das Haus bei den Schul¬
arbeiten hilft oder sie unmöglich macht. Und alle diese verschiedenartig und
verschieden vorbereiteten Kinder will man auf dieselbe Schulbank setzen? Man
will die lebendigen und schnell fastenden Kinder der bessern Stände zum Ge-
dnukenstillstaudc verurteilen, damit die andern nachkommen können? Man
würde damit den größten Schaden anrichten. Ebenso unrecht wäre es natürlich,
wenn sich der Lehrer nur mit den Kindern befassen wollte, die vorwärts
kommen, nud die andern vernachlässigte. Herr Schulinspektor Scherer meint,
man könne die durch häusliche Erziehung vernachlässigten Kinder aus der
Volksschule entfernen. Ja, wohin denn mit ihnen, wenn es nur die eine Volks¬
schule geben soll? Wenn er der Meinung ist, mau könne eine Art Straf¬
kolonie einrichten, eine Volksschule „zweiter Güte," so möchte ich dem Herrn
Schulinspektor wohl wünschen, daß er seine eignen Vorschlüge auszuführen
hätte. Er würde bald sehen, daß die in der häuslichen Erziehung vernach¬
lässigten Kinder die große Mehrzahl sind, er würde es den verehrlichen sein
Haus stürmenden Müttern schwerlich klar machen können, daß der betreffende
Herr Sohn ein Schlingel oder ein Strvhkopf ist, sondern immer nur die Ant¬
wort erhalten: Das geschieht nur, weil wir arm sind, und weil die Reichen
vorgezogen werdeu. Und der ganze schöne soziale Plan würde schon an dieser
einen Ecke scheitern.
Es ist also klar, daß die eine allgemeine Volksschule zur Vorstufe des
höhern Unterrichts ungeeignet ist. Aber denkt mein sich auch die Volksschule
möglichst günstig gegliedert, so gehen doch, wenn man die Schüler bis zum
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |