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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage

Schiller und Goethe gegen einander abwägt, mit dem Einmaleins auf gespanntem
Fuße steht. Hierzu kommt, daß die Vorschulen nicht selten überfüllt sind
und von Leuten besucht werden, die eigentlich nicht hinein gehören. Mancher
Bater tänscht sich über die Fähigkeiten seines Kindes. Das Kind zeigt sich
im vierten, fünften Jahre, in der Zeit der lebhaftesten Entwicklung, sehr ge¬
weckt, es verspricht etwas, aber schon die ersten Schuljahre zeigen, daß es
nicht hält, was es versprochen hat. Wird das Kind in die Volksschule geschickt,
so bleibt es da; wird es in die Vorschule geschickt, so geht es gegen die Ehre,
es wieder herauszunehmen, es geht in das Gymnasium über, führt dort ein
kümmerliches Dasein und verschwindet aus der Quarta, nachdem es weniger
fürs Leben gewonnen hat, als ihm die Volksschule gegeben hätte. Auch die
leidige Großmannssucht bringt viele Eltern dahin, ihre Kinder in die höhere
Schule zu schicken, wohin sie gar nicht gehören, nur um etwas beßres vor¬
zustellen.

Da erscheint es als ein praktischer Vorschlag, die Vorschulen aufzuheben
und durch die Volksschule zu ersetzen. Es hat etwas bestechendes, die eine
allgemeine Volksschule zum Fundament des gesamten Unterrichts zu machen
und die Fachschulen und höhern Schulen erst später abzuzweigen. Aber diese
eine allgemeine Volksschule giebt es nicht. Die Volksschule der großen Stadt,
der kleinen Stadt und des flache" Landes sind ganz verschiedne Dinge. Wenn
man auch die Armenschulen aufgehoben hat, so hat mau doch Volksschulen
verschiedner Art in denselben Städten. Diese eine Volksschule kann es erst
recht nicht geben, wenn sie die Unterlage zur höhern Schule sein soll. Wer
einen weiten Weg vor sich hat, muß früh aufstehn und ordentlich austreten;
die Volksschule wandelt aber einen recht gemächlichen Gang. Der Unterricht
schleppt sich laugsam vorwärts, langsamer, als es die Gründlichkeit fordert,
und das hat seinen Grund in Umständen, deren die Schule nicht Herr ist.

Herr Scherer begründet seine Forderung der allgemeinen Volksschule mit
dem Satze: Alle Menschen sind gleich, also bedürfen sie auch der gleichen Er¬
ziehung. Das mutet eiuen recht altertümlich an, wie der Duft aus der seligen
Großmutter Komode. Wenn ein solcher Satz vor hundert Jahren aufgestellt
wurde, so wandte er sich gegen den Übermut der höhern Stände, die zwischen
sich und dein nieder" Volk einen Rasfenuuterschied annahmen und dem Volke
die Schule als etwas dem höhern Wesen vorbehaltncs versage" wollten. Der
Satz beruht auf der damals für richtig gehaltne", aber seitdem längst aus¬
gegebnen Amiahme, daß die Seele" aller Menschen bei der Geburt ein un¬
beschriebnes Blatt und darum gleichartig seien. Die Pädagogik aus dem
Anfang dieses Jahrhunderts ging von dieser Annahme ans. Die Freude an
der neu gefundnen Methode verleitete zu ihrer Überschätzung. Man glaubte
mit seinen methodisch-psychologischen Mitteln alles machen, den Menschen wie
ein Haus aufbauen z" könne". Auch unsre große" Pädagoge" steh" unter


Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage

Schiller und Goethe gegen einander abwägt, mit dem Einmaleins auf gespanntem
Fuße steht. Hierzu kommt, daß die Vorschulen nicht selten überfüllt sind
und von Leuten besucht werden, die eigentlich nicht hinein gehören. Mancher
Bater tänscht sich über die Fähigkeiten seines Kindes. Das Kind zeigt sich
im vierten, fünften Jahre, in der Zeit der lebhaftesten Entwicklung, sehr ge¬
weckt, es verspricht etwas, aber schon die ersten Schuljahre zeigen, daß es
nicht hält, was es versprochen hat. Wird das Kind in die Volksschule geschickt,
so bleibt es da; wird es in die Vorschule geschickt, so geht es gegen die Ehre,
es wieder herauszunehmen, es geht in das Gymnasium über, führt dort ein
kümmerliches Dasein und verschwindet aus der Quarta, nachdem es weniger
fürs Leben gewonnen hat, als ihm die Volksschule gegeben hätte. Auch die
leidige Großmannssucht bringt viele Eltern dahin, ihre Kinder in die höhere
Schule zu schicken, wohin sie gar nicht gehören, nur um etwas beßres vor¬
zustellen.

Da erscheint es als ein praktischer Vorschlag, die Vorschulen aufzuheben
und durch die Volksschule zu ersetzen. Es hat etwas bestechendes, die eine
allgemeine Volksschule zum Fundament des gesamten Unterrichts zu machen
und die Fachschulen und höhern Schulen erst später abzuzweigen. Aber diese
eine allgemeine Volksschule giebt es nicht. Die Volksschule der großen Stadt,
der kleinen Stadt und des flache» Landes sind ganz verschiedne Dinge. Wenn
man auch die Armenschulen aufgehoben hat, so hat mau doch Volksschulen
verschiedner Art in denselben Städten. Diese eine Volksschule kann es erst
recht nicht geben, wenn sie die Unterlage zur höhern Schule sein soll. Wer
einen weiten Weg vor sich hat, muß früh aufstehn und ordentlich austreten;
die Volksschule wandelt aber einen recht gemächlichen Gang. Der Unterricht
schleppt sich laugsam vorwärts, langsamer, als es die Gründlichkeit fordert,
und das hat seinen Grund in Umständen, deren die Schule nicht Herr ist.

Herr Scherer begründet seine Forderung der allgemeinen Volksschule mit
dem Satze: Alle Menschen sind gleich, also bedürfen sie auch der gleichen Er¬
ziehung. Das mutet eiuen recht altertümlich an, wie der Duft aus der seligen
Großmutter Komode. Wenn ein solcher Satz vor hundert Jahren aufgestellt
wurde, so wandte er sich gegen den Übermut der höhern Stände, die zwischen
sich und dein nieder» Volk einen Rasfenuuterschied annahmen und dem Volke
die Schule als etwas dem höhern Wesen vorbehaltncs versage» wollten. Der
Satz beruht auf der damals für richtig gehaltne», aber seitdem längst aus¬
gegebnen Amiahme, daß die Seele» aller Menschen bei der Geburt ein un¬
beschriebnes Blatt und darum gleichartig seien. Die Pädagogik aus dem
Anfang dieses Jahrhunderts ging von dieser Annahme ans. Die Freude an
der neu gefundnen Methode verleitete zu ihrer Überschätzung. Man glaubte
mit seinen methodisch-psychologischen Mitteln alles machen, den Menschen wie
ein Haus aufbauen z» könne». Auch unsre große» Pädagoge» steh» unter


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[0114] Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage Schiller und Goethe gegen einander abwägt, mit dem Einmaleins auf gespanntem Fuße steht. Hierzu kommt, daß die Vorschulen nicht selten überfüllt sind und von Leuten besucht werden, die eigentlich nicht hinein gehören. Mancher Bater tänscht sich über die Fähigkeiten seines Kindes. Das Kind zeigt sich im vierten, fünften Jahre, in der Zeit der lebhaftesten Entwicklung, sehr ge¬ weckt, es verspricht etwas, aber schon die ersten Schuljahre zeigen, daß es nicht hält, was es versprochen hat. Wird das Kind in die Volksschule geschickt, so bleibt es da; wird es in die Vorschule geschickt, so geht es gegen die Ehre, es wieder herauszunehmen, es geht in das Gymnasium über, führt dort ein kümmerliches Dasein und verschwindet aus der Quarta, nachdem es weniger fürs Leben gewonnen hat, als ihm die Volksschule gegeben hätte. Auch die leidige Großmannssucht bringt viele Eltern dahin, ihre Kinder in die höhere Schule zu schicken, wohin sie gar nicht gehören, nur um etwas beßres vor¬ zustellen. Da erscheint es als ein praktischer Vorschlag, die Vorschulen aufzuheben und durch die Volksschule zu ersetzen. Es hat etwas bestechendes, die eine allgemeine Volksschule zum Fundament des gesamten Unterrichts zu machen und die Fachschulen und höhern Schulen erst später abzuzweigen. Aber diese eine allgemeine Volksschule giebt es nicht. Die Volksschule der großen Stadt, der kleinen Stadt und des flache» Landes sind ganz verschiedne Dinge. Wenn man auch die Armenschulen aufgehoben hat, so hat mau doch Volksschulen verschiedner Art in denselben Städten. Diese eine Volksschule kann es erst recht nicht geben, wenn sie die Unterlage zur höhern Schule sein soll. Wer einen weiten Weg vor sich hat, muß früh aufstehn und ordentlich austreten; die Volksschule wandelt aber einen recht gemächlichen Gang. Der Unterricht schleppt sich laugsam vorwärts, langsamer, als es die Gründlichkeit fordert, und das hat seinen Grund in Umständen, deren die Schule nicht Herr ist. Herr Scherer begründet seine Forderung der allgemeinen Volksschule mit dem Satze: Alle Menschen sind gleich, also bedürfen sie auch der gleichen Er¬ ziehung. Das mutet eiuen recht altertümlich an, wie der Duft aus der seligen Großmutter Komode. Wenn ein solcher Satz vor hundert Jahren aufgestellt wurde, so wandte er sich gegen den Übermut der höhern Stände, die zwischen sich und dein nieder» Volk einen Rasfenuuterschied annahmen und dem Volke die Schule als etwas dem höhern Wesen vorbehaltncs versage» wollten. Der Satz beruht auf der damals für richtig gehaltne», aber seitdem längst aus¬ gegebnen Amiahme, daß die Seele» aller Menschen bei der Geburt ein un¬ beschriebnes Blatt und darum gleichartig seien. Die Pädagogik aus dem Anfang dieses Jahrhunderts ging von dieser Annahme ans. Die Freude an der neu gefundnen Methode verleitete zu ihrer Überschätzung. Man glaubte mit seinen methodisch-psychologischen Mitteln alles machen, den Menschen wie ein Haus aufbauen z» könne». Auch unsre große» Pädagoge» steh» unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/114>, abgerufen am 08.01.2025.