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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage

der Sozialdemokratie entgegenkommen? Antwort: Halbwegs. Die andere
Hälfte findet sich dann.

Wenn sich die Schule in dieser Weise an der Lösung der sozialen Frage
beteiligen will, muß sie ernstlich zur Ruhe verwiesen werden. Wir sind über¬
zeugt, daß sich Herr Scherer für einen entschiednen Feind der Sozialdemokratie
hält; Eugen Richter hält sich auch dafür. Aber die Sätze, die er angefangen
und unvollendet gelassen hat, können nicht anders als in sozialistischen Sinne
vollendet werden. Wir sind auch überzeugt, daß die große Menge der Lehrer¬
schaft, auch der größere Teil von denen, die den "Leitsätzen" zugestimmt haben,
mit dem Vortrage oder mit seinen gegebnen Folgerungen nicht ganz überein¬
stimmen. Man kann sich doch dem Eindrucke nicht verschließen, daß das
Zukunftsbild, das der Vortragende von der allgemeinen Volksschule entworfen
hat, Potemkinsche Dörfer sind, ein künstlich gemachter Schein, nicht die Wirk¬
lichkeit. Warum hat man sich denn aber auf die Frage überhaupt eingelassen?

Man gewinnt den Eindruck, daß der Lehrerschaft an der allgemeinen
Volksschule viel gelegen sei, aber wenig an der sozialistischen Begründung.
Diese ist nur als Vorspann hinzugenommen worden, da nun einmal die soziale
Frage zugkräftig ist. Der Augriff richtet sich gegen die Gymnasialvorschulen,
die man gern beseitigen möchte.

Daß sich das Urteil der Schulmänner gegen diese Vorschulen richtet, hat
seine Berechtigung, und man kann behaupten, daß in dem Wunsche, diese
Schulen zu beseitigen oder zu verbessern, eine große Übereinstimmung herrsche --
weit über jene Kreise hinaus, die gegen die Vorschule hinter der anti¬
sozialen Fahne zu Felde ziehen. Derartige Vorschulen pflegen die Methode
der Schnellfabrikation anzuwenden. In sechs halben Jahren wird das sechs¬
jährige Pensum durchgepeitscht. Dann wird der Schüler dem Gymnasium
überwiese,,, das seinen Schwerpunkt auf das Latein legt und die Elementar¬
fächer nur nebenbei betreibt, oft mit recht unglücklicher Hand. Die höhern
Mädchenschulen drängen in den Unterklassen schnell vorwärts, um zum Fran¬
zösischen und zur Litteraturgeschichte zu kommen. Man scheint dazu berechtigt
zu sein, da die Mädchen schnell auffassen und schnell gefördert werden können.
Aber die Sache ist ungesund. Keine Pflanze darf übertrieben werden, es straft
sich sonst später. Mit dem Jungen ist es dieselbe Sache. In der Vorschule
wird alles durchgenommen und durchgesetzt, aber es fehlt die Befestigung und
Vertiefung, die ihre Zeit haben will, es fehlt die Breite zur sichern Grund¬
lage, und dieser Maugel macht sich durchs ganze Leben geltend. Der preußische
Kultusminister soll gesagt haben, er bereue es nicht, daß er die Dorfschule
besucht habe. Das ist ganz richtig. Auch der Verfasser dieses Aufsatzes be¬
klagt es, daß er bis zum Gymnasium die Privatschule und nicht die Elementar¬
schule besticht hat. Das hat Lücken gegeben, die sich lange fühlbar gemacht
haben. Man kann auch erleben, daß die "höhere Tochter," die den Wert von


Grenzboten III 14
Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage

der Sozialdemokratie entgegenkommen? Antwort: Halbwegs. Die andere
Hälfte findet sich dann.

Wenn sich die Schule in dieser Weise an der Lösung der sozialen Frage
beteiligen will, muß sie ernstlich zur Ruhe verwiesen werden. Wir sind über¬
zeugt, daß sich Herr Scherer für einen entschiednen Feind der Sozialdemokratie
hält; Eugen Richter hält sich auch dafür. Aber die Sätze, die er angefangen
und unvollendet gelassen hat, können nicht anders als in sozialistischen Sinne
vollendet werden. Wir sind auch überzeugt, daß die große Menge der Lehrer¬
schaft, auch der größere Teil von denen, die den „Leitsätzen" zugestimmt haben,
mit dem Vortrage oder mit seinen gegebnen Folgerungen nicht ganz überein¬
stimmen. Man kann sich doch dem Eindrucke nicht verschließen, daß das
Zukunftsbild, das der Vortragende von der allgemeinen Volksschule entworfen
hat, Potemkinsche Dörfer sind, ein künstlich gemachter Schein, nicht die Wirk¬
lichkeit. Warum hat man sich denn aber auf die Frage überhaupt eingelassen?

Man gewinnt den Eindruck, daß der Lehrerschaft an der allgemeinen
Volksschule viel gelegen sei, aber wenig an der sozialistischen Begründung.
Diese ist nur als Vorspann hinzugenommen worden, da nun einmal die soziale
Frage zugkräftig ist. Der Augriff richtet sich gegen die Gymnasialvorschulen,
die man gern beseitigen möchte.

Daß sich das Urteil der Schulmänner gegen diese Vorschulen richtet, hat
seine Berechtigung, und man kann behaupten, daß in dem Wunsche, diese
Schulen zu beseitigen oder zu verbessern, eine große Übereinstimmung herrsche —
weit über jene Kreise hinaus, die gegen die Vorschule hinter der anti¬
sozialen Fahne zu Felde ziehen. Derartige Vorschulen pflegen die Methode
der Schnellfabrikation anzuwenden. In sechs halben Jahren wird das sechs¬
jährige Pensum durchgepeitscht. Dann wird der Schüler dem Gymnasium
überwiese,,, das seinen Schwerpunkt auf das Latein legt und die Elementar¬
fächer nur nebenbei betreibt, oft mit recht unglücklicher Hand. Die höhern
Mädchenschulen drängen in den Unterklassen schnell vorwärts, um zum Fran¬
zösischen und zur Litteraturgeschichte zu kommen. Man scheint dazu berechtigt
zu sein, da die Mädchen schnell auffassen und schnell gefördert werden können.
Aber die Sache ist ungesund. Keine Pflanze darf übertrieben werden, es straft
sich sonst später. Mit dem Jungen ist es dieselbe Sache. In der Vorschule
wird alles durchgenommen und durchgesetzt, aber es fehlt die Befestigung und
Vertiefung, die ihre Zeit haben will, es fehlt die Breite zur sichern Grund¬
lage, und dieser Maugel macht sich durchs ganze Leben geltend. Der preußische
Kultusminister soll gesagt haben, er bereue es nicht, daß er die Dorfschule
besucht habe. Das ist ganz richtig. Auch der Verfasser dieses Aufsatzes be¬
klagt es, daß er bis zum Gymnasium die Privatschule und nicht die Elementar¬
schule besticht hat. Das hat Lücken gegeben, die sich lange fühlbar gemacht
haben. Man kann auch erleben, daß die „höhere Tochter," die den Wert von


Grenzboten III 14
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[0113] Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage der Sozialdemokratie entgegenkommen? Antwort: Halbwegs. Die andere Hälfte findet sich dann. Wenn sich die Schule in dieser Weise an der Lösung der sozialen Frage beteiligen will, muß sie ernstlich zur Ruhe verwiesen werden. Wir sind über¬ zeugt, daß sich Herr Scherer für einen entschiednen Feind der Sozialdemokratie hält; Eugen Richter hält sich auch dafür. Aber die Sätze, die er angefangen und unvollendet gelassen hat, können nicht anders als in sozialistischen Sinne vollendet werden. Wir sind auch überzeugt, daß die große Menge der Lehrer¬ schaft, auch der größere Teil von denen, die den „Leitsätzen" zugestimmt haben, mit dem Vortrage oder mit seinen gegebnen Folgerungen nicht ganz überein¬ stimmen. Man kann sich doch dem Eindrucke nicht verschließen, daß das Zukunftsbild, das der Vortragende von der allgemeinen Volksschule entworfen hat, Potemkinsche Dörfer sind, ein künstlich gemachter Schein, nicht die Wirk¬ lichkeit. Warum hat man sich denn aber auf die Frage überhaupt eingelassen? Man gewinnt den Eindruck, daß der Lehrerschaft an der allgemeinen Volksschule viel gelegen sei, aber wenig an der sozialistischen Begründung. Diese ist nur als Vorspann hinzugenommen worden, da nun einmal die soziale Frage zugkräftig ist. Der Augriff richtet sich gegen die Gymnasialvorschulen, die man gern beseitigen möchte. Daß sich das Urteil der Schulmänner gegen diese Vorschulen richtet, hat seine Berechtigung, und man kann behaupten, daß in dem Wunsche, diese Schulen zu beseitigen oder zu verbessern, eine große Übereinstimmung herrsche — weit über jene Kreise hinaus, die gegen die Vorschule hinter der anti¬ sozialen Fahne zu Felde ziehen. Derartige Vorschulen pflegen die Methode der Schnellfabrikation anzuwenden. In sechs halben Jahren wird das sechs¬ jährige Pensum durchgepeitscht. Dann wird der Schüler dem Gymnasium überwiese,,, das seinen Schwerpunkt auf das Latein legt und die Elementar¬ fächer nur nebenbei betreibt, oft mit recht unglücklicher Hand. Die höhern Mädchenschulen drängen in den Unterklassen schnell vorwärts, um zum Fran¬ zösischen und zur Litteraturgeschichte zu kommen. Man scheint dazu berechtigt zu sein, da die Mädchen schnell auffassen und schnell gefördert werden können. Aber die Sache ist ungesund. Keine Pflanze darf übertrieben werden, es straft sich sonst später. Mit dem Jungen ist es dieselbe Sache. In der Vorschule wird alles durchgenommen und durchgesetzt, aber es fehlt die Befestigung und Vertiefung, die ihre Zeit haben will, es fehlt die Breite zur sichern Grund¬ lage, und dieser Maugel macht sich durchs ganze Leben geltend. Der preußische Kultusminister soll gesagt haben, er bereue es nicht, daß er die Dorfschule besucht habe. Das ist ganz richtig. Auch der Verfasser dieses Aufsatzes be¬ klagt es, daß er bis zum Gymnasium die Privatschule und nicht die Elementar¬ schule besticht hat. Das hat Lücken gegeben, die sich lange fühlbar gemacht haben. Man kann auch erleben, daß die „höhere Tochter," die den Wert von Grenzboten III 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/113>, abgerufen am 08.01.2025.