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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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noch bedenklicher. Der Gedanke ist innerhalb des sozialistischen Staates von
selbst gegeben. Denn da der Staat alles bestimmt und alle Arbeit verteilt,
mag er sich auch die Kinder aussuchen, die für bestimmte Geistesarbeiten ge¬
eignet sind. So dumm sind die Sozialisten nicht, zu glauben, daß sie mit
dem großen Einmaleins auskämen. Sie haben ebenfalls Schulen verschiedner
Art im Auge. Wo aber der sozialistische Staat nicht besteht, ist es unerhört'
dem Staate die Aufgabe zu erteilen, für die Ausbildung der Jugend un¬
bemittelter Stände in höhern Schulen zu sorgen. Ja, wenn Mangel an Gym¬
nasiasten und Studenten wäre, könnte der Staat ein Interesse haben, indem
er selbst eingreift, den Mangel zu decken. Das ist aber nicht der Fall, viel¬
mehr befinden wir uns in der Verlegenheit der Überfülle. Die allgemeine
Schulpflicht bedeutet einen tiefen Eingriff in die Selbstbestimmung des Hauses.
Sie wird gerechtfertigt durch das allgemeine Staatsinteresse und bezieht sich
nnr auf das Minimum. Darüber hinaus kann der Staat unmöglich gehen,
schon darum uicht, weil er mit der Forderung auch die Pflicht übernimmt,
dafür zu sorgen, daß die nötigen Schulen unterhalten werden. Wieviel Mühe
macht es aber, auch nur sür das Minimum der Leistung hinreichend zu sorgen.
Das Stnatsinteresse geht mich keineswegs dahin, die Zahl der Gymnasiasten
oder Studenten zu vermehren. Das allerübelste wäre es, deu Anfang der
Laufbahn zu erleichtern, dann aber seine Hand abzuziehen und jene unglück¬
lichen Menschen, die ihre Studien nicht vollenden und die auf eine Anstellung
nicht warten konnten, untergehn zu lassen. Man würde sich ein Bilduugs-
prvletariat heranziehen ohnegleichen. Was ein solches Proletariat für Schaden
anrichtet, hat Rußland Gelegenheit, am eignen Leibe zu spüren.

Nun hat aber Herr Scherer gar nicht so viel gefordert, er ist auch hier auf
halbem Wege stehen geblieben. Das sieht man schon um der Fassung seiner
"Leitsätze." Der dritte "Leitsatz" fängt an: "Der neunte Lehrertag fordert,"
und dann folgt unter 3: die vorhandnen Einrichtungen zur Forderung armer
begabter Kinder werden der Ausdehnung und Fürsorge empfohlen. Das paßt
nicht zu einander. Es hilft auch nichts und befriedigt niemand, wenn ein paar
Stipendien mehr ausgesetzt werden. Man könnte mit gleichem Rechte sagen:
Einen drückenden und hoffnungslosen Mangel giebt es nicht, da jährlich zweimal
das große Los gewonnen wird. Entweder also bedeutet die Förderung armer
Kinder der Menge gegenüber gar nichts, oder sie müßte Maße und Formen
annehmen, die der gegenwärtigen Staatseinrichtung oder dem gegenwärtigen
Staatsinteresse gegenüber ganz undenkbar sind.

Sehen wir uns nun das, was Herr Scherer als die Aufgabe der Schule
bei Lösung der sozialen Frage bezeichnet, und was der Lehrertag, indem er
die "Leitsätze" annahm, zur eignen Sache gemacht hat, näher an, so enthält es
höchst bedenkliche sozialistische Züge. Der Vortrag des genannten Herrn könnte
auch die Überschritt haben: Inwieweit kam? die Schule den Forderungen


noch bedenklicher. Der Gedanke ist innerhalb des sozialistischen Staates von
selbst gegeben. Denn da der Staat alles bestimmt und alle Arbeit verteilt,
mag er sich auch die Kinder aussuchen, die für bestimmte Geistesarbeiten ge¬
eignet sind. So dumm sind die Sozialisten nicht, zu glauben, daß sie mit
dem großen Einmaleins auskämen. Sie haben ebenfalls Schulen verschiedner
Art im Auge. Wo aber der sozialistische Staat nicht besteht, ist es unerhört'
dem Staate die Aufgabe zu erteilen, für die Ausbildung der Jugend un¬
bemittelter Stände in höhern Schulen zu sorgen. Ja, wenn Mangel an Gym¬
nasiasten und Studenten wäre, könnte der Staat ein Interesse haben, indem
er selbst eingreift, den Mangel zu decken. Das ist aber nicht der Fall, viel¬
mehr befinden wir uns in der Verlegenheit der Überfülle. Die allgemeine
Schulpflicht bedeutet einen tiefen Eingriff in die Selbstbestimmung des Hauses.
Sie wird gerechtfertigt durch das allgemeine Staatsinteresse und bezieht sich
nnr auf das Minimum. Darüber hinaus kann der Staat unmöglich gehen,
schon darum uicht, weil er mit der Forderung auch die Pflicht übernimmt,
dafür zu sorgen, daß die nötigen Schulen unterhalten werden. Wieviel Mühe
macht es aber, auch nur sür das Minimum der Leistung hinreichend zu sorgen.
Das Stnatsinteresse geht mich keineswegs dahin, die Zahl der Gymnasiasten
oder Studenten zu vermehren. Das allerübelste wäre es, deu Anfang der
Laufbahn zu erleichtern, dann aber seine Hand abzuziehen und jene unglück¬
lichen Menschen, die ihre Studien nicht vollenden und die auf eine Anstellung
nicht warten konnten, untergehn zu lassen. Man würde sich ein Bilduugs-
prvletariat heranziehen ohnegleichen. Was ein solches Proletariat für Schaden
anrichtet, hat Rußland Gelegenheit, am eignen Leibe zu spüren.

Nun hat aber Herr Scherer gar nicht so viel gefordert, er ist auch hier auf
halbem Wege stehen geblieben. Das sieht man schon um der Fassung seiner
„Leitsätze." Der dritte „Leitsatz" fängt an: „Der neunte Lehrertag fordert,"
und dann folgt unter 3: die vorhandnen Einrichtungen zur Forderung armer
begabter Kinder werden der Ausdehnung und Fürsorge empfohlen. Das paßt
nicht zu einander. Es hilft auch nichts und befriedigt niemand, wenn ein paar
Stipendien mehr ausgesetzt werden. Man könnte mit gleichem Rechte sagen:
Einen drückenden und hoffnungslosen Mangel giebt es nicht, da jährlich zweimal
das große Los gewonnen wird. Entweder also bedeutet die Förderung armer
Kinder der Menge gegenüber gar nichts, oder sie müßte Maße und Formen
annehmen, die der gegenwärtigen Staatseinrichtung oder dem gegenwärtigen
Staatsinteresse gegenüber ganz undenkbar sind.

Sehen wir uns nun das, was Herr Scherer als die Aufgabe der Schule
bei Lösung der sozialen Frage bezeichnet, und was der Lehrertag, indem er
die „Leitsätze" annahm, zur eignen Sache gemacht hat, näher an, so enthält es
höchst bedenkliche sozialistische Züge. Der Vortrag des genannten Herrn könnte
auch die Überschritt haben: Inwieweit kam? die Schule den Forderungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/112>, abgerufen am 08.01.2025.