Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage Unterweisung der Schule in Tracht und Gewohnheiten und Anschaungen Das Verfahren, das Herr Scherer empfiehlt, kommt mir vor, als wenn Entweder die Schule hat die Macht nicht, die man ihr andichtet; dann Aber das Zusammensein der verschiednen Stände wird doch wohlthätig Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage Unterweisung der Schule in Tracht und Gewohnheiten und Anschaungen Das Verfahren, das Herr Scherer empfiehlt, kommt mir vor, als wenn Entweder die Schule hat die Macht nicht, die man ihr andichtet; dann Aber das Zusammensein der verschiednen Stände wird doch wohlthätig <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0110" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212586"/> <fw type="header" place="top"> Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage</fw><lb/> <p xml:id="ID_297" prev="#ID_296"> Unterweisung der Schule in Tracht und Gewohnheiten und Anschaungen<lb/> dieselben, die sie zuvor waren. Die Frühstücksfrage würde eine ungelöste<lb/> soziale Frage bleiben, man müßte denn die Frühstücksbrote einsammeln<lb/> und gleichmäßig verteilen. Dann Hütte man in der Schule den richtigen<lb/> sozialen Staat.</p><lb/> <p xml:id="ID_298"> Das Verfahren, das Herr Scherer empfiehlt, kommt mir vor, als wenn<lb/> ein Hofbesitzer, der sich über die vielen Sorten seines Geflügels ärgert, alle<lb/> Eier derselben Art von Bruthennen unterlegen wollte. Aus Enteneiern werden<lb/> aber immer wieder Enten, und ans Hühnereiern Hühner. Jeder praktische<lb/> Schulmann, jeder Menschenkenner weiß, daß der Umgestaltung des Menschen<lb/> durch die Erziehung enge Grenzen gesteckt sind, er weiß, daß das sechsjährige<lb/> Kind bereits einen ausgeprägten Charakter mitbringt, um dem überhaupt nicht<lb/> viel zu ändern ist. Dazu kommt die fortdauernde Einwirkung des Hauses,<lb/> die die Arbeit der Schule lahmen kann und auch wirklich vielfach lahmt.<lb/> Das große Werk der sozialen Versöhnung soll zwischen dem sechsten und dem<lb/> zwölften Lebensjahre fertig gebracht werden; aber der Schulmann macht die<lb/> Erfahrung, daß seine besten Schüler, auf die er sich glaubte verlassen zu<lb/> können, ihm noch nach dem vierzehnten Jahre, wenn sie in die Lehre kommen,<lb/> verloren gehen, und daß andrerseits an Kinder, die unter sozialistischen Einfluß<lb/> stehen, überhaupt nicht hinanzukommen ist. Sie befinden sich äußerlich uuter<lb/> der Reihe der audern, sind aber innerlich fremd, gepanzert und unnahbar.<lb/> Wir fangen die Weltgeschichte nicht nen an, wir haben mit den Verhältnissen<lb/> zu rechnen, wie sie sind.</p><lb/> <p xml:id="ID_299"> Entweder die Schule hat die Macht nicht, die man ihr andichtet; dann<lb/> ist es überflüssig, Hirngespinsten nachzujagen. Oder sie hat diese Macht; dann<lb/> hat sie auch bisher und unter den gegebnen Verhältnissen Gelegenheit genng<lb/> gehabt, sie zu zeigen. Ans denselben Bänken sitzen in der Volksschule der<lb/> Sohn des Handwerksmeisters und der Sohn des Arbeiters, der Sohn des<lb/> Großbauern und der des Knechts neben einander. Sie werden gleichmäßig<lb/> behandelt, erhalten dieselbe Unterweisung, es ist aber keine Rede davon, daß<lb/> dadurch, daß sich beide du nennen, die große soziale Kluft zwischen Bauer<lb/> und Knecht überbrückt werde, es ist nichts davon zu spüren, daß sich wegen<lb/> der frühern Schulgemeinschaft das spätere Verhältnis von „Arbeitgeber" und<lb/> „Arbeitnehmer" freundschaftlicher gestalte. Wenn man aber glaubt, daß durch<lb/> möglichst vollkommene Ansbildung des Schülers der Kampf ums Dasei»<lb/> erleichtert und die soziale Not gemildert werde, so irrt man sich. Man schärft<lb/> die Waffen, der Streit wird nur bitterer.</p><lb/> <p xml:id="ID_300" next="#ID_301"> Aber das Zusammensein der verschiednen Stände wird doch wohlthätig<lb/> wirken, man lernt sich kennen, man lernt sich verstehen lind achten. Liebe<lb/> Herren, wo wäret ihr, als man die Welt geleitet? Um was handelt es sich<lb/> denn? Um einige wohlwollende Redensarten herüber und hinüber? Es</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0110]
Die allgemeine Volksschule und die soziale Frage
Unterweisung der Schule in Tracht und Gewohnheiten und Anschaungen
dieselben, die sie zuvor waren. Die Frühstücksfrage würde eine ungelöste
soziale Frage bleiben, man müßte denn die Frühstücksbrote einsammeln
und gleichmäßig verteilen. Dann Hütte man in der Schule den richtigen
sozialen Staat.
Das Verfahren, das Herr Scherer empfiehlt, kommt mir vor, als wenn
ein Hofbesitzer, der sich über die vielen Sorten seines Geflügels ärgert, alle
Eier derselben Art von Bruthennen unterlegen wollte. Aus Enteneiern werden
aber immer wieder Enten, und ans Hühnereiern Hühner. Jeder praktische
Schulmann, jeder Menschenkenner weiß, daß der Umgestaltung des Menschen
durch die Erziehung enge Grenzen gesteckt sind, er weiß, daß das sechsjährige
Kind bereits einen ausgeprägten Charakter mitbringt, um dem überhaupt nicht
viel zu ändern ist. Dazu kommt die fortdauernde Einwirkung des Hauses,
die die Arbeit der Schule lahmen kann und auch wirklich vielfach lahmt.
Das große Werk der sozialen Versöhnung soll zwischen dem sechsten und dem
zwölften Lebensjahre fertig gebracht werden; aber der Schulmann macht die
Erfahrung, daß seine besten Schüler, auf die er sich glaubte verlassen zu
können, ihm noch nach dem vierzehnten Jahre, wenn sie in die Lehre kommen,
verloren gehen, und daß andrerseits an Kinder, die unter sozialistischen Einfluß
stehen, überhaupt nicht hinanzukommen ist. Sie befinden sich äußerlich uuter
der Reihe der audern, sind aber innerlich fremd, gepanzert und unnahbar.
Wir fangen die Weltgeschichte nicht nen an, wir haben mit den Verhältnissen
zu rechnen, wie sie sind.
Entweder die Schule hat die Macht nicht, die man ihr andichtet; dann
ist es überflüssig, Hirngespinsten nachzujagen. Oder sie hat diese Macht; dann
hat sie auch bisher und unter den gegebnen Verhältnissen Gelegenheit genng
gehabt, sie zu zeigen. Ans denselben Bänken sitzen in der Volksschule der
Sohn des Handwerksmeisters und der Sohn des Arbeiters, der Sohn des
Großbauern und der des Knechts neben einander. Sie werden gleichmäßig
behandelt, erhalten dieselbe Unterweisung, es ist aber keine Rede davon, daß
dadurch, daß sich beide du nennen, die große soziale Kluft zwischen Bauer
und Knecht überbrückt werde, es ist nichts davon zu spüren, daß sich wegen
der frühern Schulgemeinschaft das spätere Verhältnis von „Arbeitgeber" und
„Arbeitnehmer" freundschaftlicher gestalte. Wenn man aber glaubt, daß durch
möglichst vollkommene Ansbildung des Schülers der Kampf ums Dasei»
erleichtert und die soziale Not gemildert werde, so irrt man sich. Man schärft
die Waffen, der Streit wird nur bitterer.
Aber das Zusammensein der verschiednen Stände wird doch wohlthätig
wirken, man lernt sich kennen, man lernt sich verstehen lind achten. Liebe
Herren, wo wäret ihr, als man die Welt geleitet? Um was handelt es sich
denn? Um einige wohlwollende Redensarten herüber und hinüber? Es
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