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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Sozialdemokraten. Die Ultramontanen erstreben kurz und gilt die Verwirk¬
lichung des mittelalterlichen Ideals, wie es zuerst Gregor der Siebente auf¬
gestellt hat, die Freiheit der Kirche von niler Staatsgewalt, also die Herr¬
schaft der Kirche über das gesamte geistige Leben und damit auch über den
Staat. Ihre Stärke beruht nicht bloß in der straffen Ordnung der katholischen
Hierarchie, sondern auch in der innern Folgerichtigkeit des Gedankens und in
der uralten Knlturbedeutung der Kirche, die dem Volke, und vor allem dem
katholischen Volke, weil sie sein geistiges Leben beherrscht, seine sittlich-religiösen
Bedürfnisse befriedigt, ihm in taufend Nöten hilfreich entgegenkommt, doch
immer viel näher steht, als der ewig heischende oder verbietende moderne
Staat, der als solcher ein persönliches Verhältnis zwischen seineu Vertretern,
den Beamten, und den Unterthaue" gar nicht aufkommen lassen darf und seine
Fürsorge dem Volke immer nur mittelbar angedeihe" läßt. Daß die Verwirk¬
lichung des nltramoiitanen Ideals diesen modernen Staat auflösen und ins¬
besondre die konfessionell gespaltne deutsche Nation zerstören müßte, kümmert
die Partei natürlich nicht, denn die römische Kirche ist zu allen Zeiten gegen
die Nationalität an sich und gegen die Form des Staats als untergeordnete
Dinge gleichgiltig gewesen und hat sich mit jeder zu stellen gewußt, wie jetzt
ihr Verhalten zur französischen Republik besonders schlagend zeigt. Wie
die Sozialdemokrnteu ihren Zukunftsstaat im einzelnen einrichten würden, das
verschweigen sie klüglich, weil sie es selbst noch nicht wissen, aber ihre Ideale:
Aufhebung des Privateigentums, Kollektivprvduktion und Verteilung des
Arbeitsertrages unter die arbeitenden Genossen, haben deshalb für die Massen
etwas so bestechendes, weil sie allen Nöten der Gegenwart ein Ende zu mache"
und de" Besitzlose", also der Mehrheit, el" beßres materielles Los zu sicher"
versprechen, nachdem durch die Zerstörung des Glaubens an eine sittliche
Weltordnung und an ein Jenseits der irdische Genuß als Ziel deS Daseins
hingestellt worden ist. Ju diesen atheistischen Grundsätzen liegt einerseits ihre
Stärke, weil sie die Bestie im Menschen entfesselt, ihn von jedem sittlichen
und religiösen Bedenken befreit, also unter Umständen zu rücksichtslosen Ge¬
waltthaten befähigt, andrerseits ihre größte Schwäche. Denn jede zügellose
Selbstsucht zerstört sich selbst, und eine Staatsordnung, die sich auf die Be¬
gehrlichkeit gründet, kann sich nur durch deu härtestell Zwang behaupten, trägt
also den Keim deS Untergangs in sich.

Ungünstiger stehen die Konservativen, und sie standen noch ungünstiger,
so lange sie sich lediglich Verteidigungsweise verhielten. Sie waren lange
Gegner jener Einigung Deutschlands, die sich unter Bismarcks Leitung voll¬
zog, und gelten daher mit Recht für grundsätzliche Partikularsten. Jetzt haben
sie diese Gegnerschaft längst aufgegeben und sind zu entschiednen Anhängern
der neuen Ordnung geworden. Aber sie betrachten die föderative Grundlage
der Reichsverfcissung als etwas gegebnes, unantastbares lind wolle" sie nicht


(ohne Ideale

Sozialdemokraten. Die Ultramontanen erstreben kurz und gilt die Verwirk¬
lichung des mittelalterlichen Ideals, wie es zuerst Gregor der Siebente auf¬
gestellt hat, die Freiheit der Kirche von niler Staatsgewalt, also die Herr¬
schaft der Kirche über das gesamte geistige Leben und damit auch über den
Staat. Ihre Stärke beruht nicht bloß in der straffen Ordnung der katholischen
Hierarchie, sondern auch in der innern Folgerichtigkeit des Gedankens und in
der uralten Knlturbedeutung der Kirche, die dem Volke, und vor allem dem
katholischen Volke, weil sie sein geistiges Leben beherrscht, seine sittlich-religiösen
Bedürfnisse befriedigt, ihm in taufend Nöten hilfreich entgegenkommt, doch
immer viel näher steht, als der ewig heischende oder verbietende moderne
Staat, der als solcher ein persönliches Verhältnis zwischen seineu Vertretern,
den Beamten, und den Unterthaue» gar nicht aufkommen lassen darf und seine
Fürsorge dem Volke immer nur mittelbar angedeihe» läßt. Daß die Verwirk¬
lichung des nltramoiitanen Ideals diesen modernen Staat auflösen und ins¬
besondre die konfessionell gespaltne deutsche Nation zerstören müßte, kümmert
die Partei natürlich nicht, denn die römische Kirche ist zu allen Zeiten gegen
die Nationalität an sich und gegen die Form des Staats als untergeordnete
Dinge gleichgiltig gewesen und hat sich mit jeder zu stellen gewußt, wie jetzt
ihr Verhalten zur französischen Republik besonders schlagend zeigt. Wie
die Sozialdemokrnteu ihren Zukunftsstaat im einzelnen einrichten würden, das
verschweigen sie klüglich, weil sie es selbst noch nicht wissen, aber ihre Ideale:
Aufhebung des Privateigentums, Kollektivprvduktion und Verteilung des
Arbeitsertrages unter die arbeitenden Genossen, haben deshalb für die Massen
etwas so bestechendes, weil sie allen Nöten der Gegenwart ein Ende zu mache»
und de» Besitzlose», also der Mehrheit, el» beßres materielles Los zu sicher»
versprechen, nachdem durch die Zerstörung des Glaubens an eine sittliche
Weltordnung und an ein Jenseits der irdische Genuß als Ziel deS Daseins
hingestellt worden ist. Ju diesen atheistischen Grundsätzen liegt einerseits ihre
Stärke, weil sie die Bestie im Menschen entfesselt, ihn von jedem sittlichen
und religiösen Bedenken befreit, also unter Umständen zu rücksichtslosen Ge¬
waltthaten befähigt, andrerseits ihre größte Schwäche. Denn jede zügellose
Selbstsucht zerstört sich selbst, und eine Staatsordnung, die sich auf die Be¬
gehrlichkeit gründet, kann sich nur durch deu härtestell Zwang behaupten, trägt
also den Keim deS Untergangs in sich.

Ungünstiger stehen die Konservativen, und sie standen noch ungünstiger,
so lange sie sich lediglich Verteidigungsweise verhielten. Sie waren lange
Gegner jener Einigung Deutschlands, die sich unter Bismarcks Leitung voll¬
zog, und gelten daher mit Recht für grundsätzliche Partikularsten. Jetzt haben
sie diese Gegnerschaft längst aufgegeben und sind zu entschiednen Anhängern
der neuen Ordnung geworden. Aber sie betrachten die föderative Grundlage
der Reichsverfcissung als etwas gegebnes, unantastbares lind wolle» sie nicht


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[0011] (ohne Ideale Sozialdemokraten. Die Ultramontanen erstreben kurz und gilt die Verwirk¬ lichung des mittelalterlichen Ideals, wie es zuerst Gregor der Siebente auf¬ gestellt hat, die Freiheit der Kirche von niler Staatsgewalt, also die Herr¬ schaft der Kirche über das gesamte geistige Leben und damit auch über den Staat. Ihre Stärke beruht nicht bloß in der straffen Ordnung der katholischen Hierarchie, sondern auch in der innern Folgerichtigkeit des Gedankens und in der uralten Knlturbedeutung der Kirche, die dem Volke, und vor allem dem katholischen Volke, weil sie sein geistiges Leben beherrscht, seine sittlich-religiösen Bedürfnisse befriedigt, ihm in taufend Nöten hilfreich entgegenkommt, doch immer viel näher steht, als der ewig heischende oder verbietende moderne Staat, der als solcher ein persönliches Verhältnis zwischen seineu Vertretern, den Beamten, und den Unterthaue» gar nicht aufkommen lassen darf und seine Fürsorge dem Volke immer nur mittelbar angedeihe» läßt. Daß die Verwirk¬ lichung des nltramoiitanen Ideals diesen modernen Staat auflösen und ins¬ besondre die konfessionell gespaltne deutsche Nation zerstören müßte, kümmert die Partei natürlich nicht, denn die römische Kirche ist zu allen Zeiten gegen die Nationalität an sich und gegen die Form des Staats als untergeordnete Dinge gleichgiltig gewesen und hat sich mit jeder zu stellen gewußt, wie jetzt ihr Verhalten zur französischen Republik besonders schlagend zeigt. Wie die Sozialdemokrnteu ihren Zukunftsstaat im einzelnen einrichten würden, das verschweigen sie klüglich, weil sie es selbst noch nicht wissen, aber ihre Ideale: Aufhebung des Privateigentums, Kollektivprvduktion und Verteilung des Arbeitsertrages unter die arbeitenden Genossen, haben deshalb für die Massen etwas so bestechendes, weil sie allen Nöten der Gegenwart ein Ende zu mache» und de» Besitzlose», also der Mehrheit, el» beßres materielles Los zu sicher» versprechen, nachdem durch die Zerstörung des Glaubens an eine sittliche Weltordnung und an ein Jenseits der irdische Genuß als Ziel deS Daseins hingestellt worden ist. Ju diesen atheistischen Grundsätzen liegt einerseits ihre Stärke, weil sie die Bestie im Menschen entfesselt, ihn von jedem sittlichen und religiösen Bedenken befreit, also unter Umständen zu rücksichtslosen Ge¬ waltthaten befähigt, andrerseits ihre größte Schwäche. Denn jede zügellose Selbstsucht zerstört sich selbst, und eine Staatsordnung, die sich auf die Be¬ gehrlichkeit gründet, kann sich nur durch deu härtestell Zwang behaupten, trägt also den Keim deS Untergangs in sich. Ungünstiger stehen die Konservativen, und sie standen noch ungünstiger, so lange sie sich lediglich Verteidigungsweise verhielten. Sie waren lange Gegner jener Einigung Deutschlands, die sich unter Bismarcks Leitung voll¬ zog, und gelten daher mit Recht für grundsätzliche Partikularsten. Jetzt haben sie diese Gegnerschaft längst aufgegeben und sind zu entschiednen Anhängern der neuen Ordnung geworden. Aber sie betrachten die föderative Grundlage der Reichsverfcissung als etwas gegebnes, unantastbares lind wolle» sie nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/11>, abgerufen am 06.01.2025.