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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Vhne Ideale

zu Gunsten einer zentralisirenden Richtung erschüttert oder verändert wissen.
Sie wollen weiter die historische Grundlage des deutschen Staatslebens be¬
haupten oder wieder zur Geltung bringen; daher wollen sie eine starke, also
keine parlamentarische Monarchie, die Erhaltung oder Wiederherstellung eines
.leistungsfähigen mittlern und kleinen Grundbesitzes und eines bürgerlichen
Mittelstandes. Sie bekämpfe" also das Übergewicht des großstädtischen Kapi¬
talismus und Industrialismus, in dem die Macht des Judentums wurzelt, und
sie erstreben endlich die Wiederbelebung einer positiven christlichen Welt¬
anschauung gegenüber dein seichten Atheismus und Materialismus, der die
"Gebildeten" in weiten Kreisen ergriffen hat. Das sind Ideale, denen der
gegenwärtige Zustand wenig entspricht, und eben weil der .Konservativismus
wieder Ideale hat, ist er fähig geworden, zum Angriff überzugehen. Es wird
daraus ankommen, ob er für diese tief einschneidenden Gedanken die Massen
derer gewinnen kann, die sie im stillen teilen, weil sie ihren Lebensbedürfnissen
entsprechen. Freilich verfügen die Konservativen weder über die straffe Or-
ganisation, wie sie den Ultramontanen die kirchliche Hierarchie zur Verfügung
stellt, noch über die blendenden Schlagworte der Sozialdemokratie, und des¬
halb wird es ihnen immer schwer werden, auf die Massen zu wirken.

So stehen jetzt in Deutschland drei große Parteien neben einander und
gegen einander, die jede ihre Ideale hat, für die sichs ihren Anhängern zu
streiten lohnt, die deshalb eine gewinnende, fortreißende Kraft haben.

Wie steht es in dieser Veziehnng mit dem Liberalismus? Seinem Ur¬
sprünge nach beruht er auf jenem französisch-englischen Naturrecht, das ein
für alle Völker, Zeiten und Kulturstufen giltiges absolutes Recht aufzu¬
stellen wähnte. Er hat deshalb immer etwas doktrinäres behalten. Er kon-
struirt sich zunächst ein souveränes Volk, dessen einzelne Mitglieder durch
Bildung zu möglichst gleichmüßiger Teilnahme am Staate heranzuziehen seien,
was freilich bei der modernen, von hundert Gegensätzen zerklüfteten Gesellschaft
ganz ""ausführbar ist; er verlangt die ausgedehnteste Selbstverwaltung der
kleinen Kreise innerhalb des Staats, obwohl diese dem demokratischen Prinzip
schon deshalb ganz und gnr widerspricht, weil jede Selbstverwaltung not¬
wendig aristokratisch ist; er will den "reinen" Parlamentarisnuis, d. h. die
Herrschaft der jeweiligen Mehrheit in der Volksvertretung, der notwendig zur
Republik führt, weil sie den Monarchen zur entbehrliche" Puppe dieser
Mehrheit macht. Er versieht in wirtschaftlichen Dingen den ungebundensten
Individualismus, das lAsnen-taire, d. h. das Recht des Stärkern und damit
den wirtschaftlichen Krieg aller gegen alle, und er ist endlich religiös gleich-
giltig, schwärmt allenfalls für eine vage Religion der "Humanität," die ans
eine flache Moralphilosophie hinausläuft und wohl für eine kleine Anzahl von
Gebildete" eine notdürftige Stütze bietet., aber den Masse" gegenüber völlig
wirkungslos bleibt. Nicht als ob diese Sätze in irgend einem der liberalen


Vhne Ideale

zu Gunsten einer zentralisirenden Richtung erschüttert oder verändert wissen.
Sie wollen weiter die historische Grundlage des deutschen Staatslebens be¬
haupten oder wieder zur Geltung bringen; daher wollen sie eine starke, also
keine parlamentarische Monarchie, die Erhaltung oder Wiederherstellung eines
.leistungsfähigen mittlern und kleinen Grundbesitzes und eines bürgerlichen
Mittelstandes. Sie bekämpfe» also das Übergewicht des großstädtischen Kapi¬
talismus und Industrialismus, in dem die Macht des Judentums wurzelt, und
sie erstreben endlich die Wiederbelebung einer positiven christlichen Welt¬
anschauung gegenüber dein seichten Atheismus und Materialismus, der die
„Gebildeten" in weiten Kreisen ergriffen hat. Das sind Ideale, denen der
gegenwärtige Zustand wenig entspricht, und eben weil der .Konservativismus
wieder Ideale hat, ist er fähig geworden, zum Angriff überzugehen. Es wird
daraus ankommen, ob er für diese tief einschneidenden Gedanken die Massen
derer gewinnen kann, die sie im stillen teilen, weil sie ihren Lebensbedürfnissen
entsprechen. Freilich verfügen die Konservativen weder über die straffe Or-
ganisation, wie sie den Ultramontanen die kirchliche Hierarchie zur Verfügung
stellt, noch über die blendenden Schlagworte der Sozialdemokratie, und des¬
halb wird es ihnen immer schwer werden, auf die Massen zu wirken.

So stehen jetzt in Deutschland drei große Parteien neben einander und
gegen einander, die jede ihre Ideale hat, für die sichs ihren Anhängern zu
streiten lohnt, die deshalb eine gewinnende, fortreißende Kraft haben.

Wie steht es in dieser Veziehnng mit dem Liberalismus? Seinem Ur¬
sprünge nach beruht er auf jenem französisch-englischen Naturrecht, das ein
für alle Völker, Zeiten und Kulturstufen giltiges absolutes Recht aufzu¬
stellen wähnte. Er hat deshalb immer etwas doktrinäres behalten. Er kon-
struirt sich zunächst ein souveränes Volk, dessen einzelne Mitglieder durch
Bildung zu möglichst gleichmüßiger Teilnahme am Staate heranzuziehen seien,
was freilich bei der modernen, von hundert Gegensätzen zerklüfteten Gesellschaft
ganz »»ausführbar ist; er verlangt die ausgedehnteste Selbstverwaltung der
kleinen Kreise innerhalb des Staats, obwohl diese dem demokratischen Prinzip
schon deshalb ganz und gnr widerspricht, weil jede Selbstverwaltung not¬
wendig aristokratisch ist; er will den „reinen" Parlamentarisnuis, d. h. die
Herrschaft der jeweiligen Mehrheit in der Volksvertretung, der notwendig zur
Republik führt, weil sie den Monarchen zur entbehrliche» Puppe dieser
Mehrheit macht. Er versieht in wirtschaftlichen Dingen den ungebundensten
Individualismus, das lAsnen-taire, d. h. das Recht des Stärkern und damit
den wirtschaftlichen Krieg aller gegen alle, und er ist endlich religiös gleich-
giltig, schwärmt allenfalls für eine vage Religion der „Humanität," die ans
eine flache Moralphilosophie hinausläuft und wohl für eine kleine Anzahl von
Gebildete» eine notdürftige Stütze bietet., aber den Masse» gegenüber völlig
wirkungslos bleibt. Nicht als ob diese Sätze in irgend einem der liberalen


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[0012] Vhne Ideale zu Gunsten einer zentralisirenden Richtung erschüttert oder verändert wissen. Sie wollen weiter die historische Grundlage des deutschen Staatslebens be¬ haupten oder wieder zur Geltung bringen; daher wollen sie eine starke, also keine parlamentarische Monarchie, die Erhaltung oder Wiederherstellung eines .leistungsfähigen mittlern und kleinen Grundbesitzes und eines bürgerlichen Mittelstandes. Sie bekämpfe» also das Übergewicht des großstädtischen Kapi¬ talismus und Industrialismus, in dem die Macht des Judentums wurzelt, und sie erstreben endlich die Wiederbelebung einer positiven christlichen Welt¬ anschauung gegenüber dein seichten Atheismus und Materialismus, der die „Gebildeten" in weiten Kreisen ergriffen hat. Das sind Ideale, denen der gegenwärtige Zustand wenig entspricht, und eben weil der .Konservativismus wieder Ideale hat, ist er fähig geworden, zum Angriff überzugehen. Es wird daraus ankommen, ob er für diese tief einschneidenden Gedanken die Massen derer gewinnen kann, die sie im stillen teilen, weil sie ihren Lebensbedürfnissen entsprechen. Freilich verfügen die Konservativen weder über die straffe Or- ganisation, wie sie den Ultramontanen die kirchliche Hierarchie zur Verfügung stellt, noch über die blendenden Schlagworte der Sozialdemokratie, und des¬ halb wird es ihnen immer schwer werden, auf die Massen zu wirken. So stehen jetzt in Deutschland drei große Parteien neben einander und gegen einander, die jede ihre Ideale hat, für die sichs ihren Anhängern zu streiten lohnt, die deshalb eine gewinnende, fortreißende Kraft haben. Wie steht es in dieser Veziehnng mit dem Liberalismus? Seinem Ur¬ sprünge nach beruht er auf jenem französisch-englischen Naturrecht, das ein für alle Völker, Zeiten und Kulturstufen giltiges absolutes Recht aufzu¬ stellen wähnte. Er hat deshalb immer etwas doktrinäres behalten. Er kon- struirt sich zunächst ein souveränes Volk, dessen einzelne Mitglieder durch Bildung zu möglichst gleichmüßiger Teilnahme am Staate heranzuziehen seien, was freilich bei der modernen, von hundert Gegensätzen zerklüfteten Gesellschaft ganz »»ausführbar ist; er verlangt die ausgedehnteste Selbstverwaltung der kleinen Kreise innerhalb des Staats, obwohl diese dem demokratischen Prinzip schon deshalb ganz und gnr widerspricht, weil jede Selbstverwaltung not¬ wendig aristokratisch ist; er will den „reinen" Parlamentarisnuis, d. h. die Herrschaft der jeweiligen Mehrheit in der Volksvertretung, der notwendig zur Republik führt, weil sie den Monarchen zur entbehrliche» Puppe dieser Mehrheit macht. Er versieht in wirtschaftlichen Dingen den ungebundensten Individualismus, das lAsnen-taire, d. h. das Recht des Stärkern und damit den wirtschaftlichen Krieg aller gegen alle, und er ist endlich religiös gleich- giltig, schwärmt allenfalls für eine vage Religion der „Humanität," die ans eine flache Moralphilosophie hinausläuft und wohl für eine kleine Anzahl von Gebildete» eine notdürftige Stütze bietet., aber den Masse» gegenüber völlig wirkungslos bleibt. Nicht als ob diese Sätze in irgend einem der liberalen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/12>, abgerufen am 06.01.2025.