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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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an sich scheint ihr ein fremder Begriff gewesen zu sein, für den sie nie etwas
gethan hat. Wie sie in ihrem Gesänge der äußern Wirkung zuliebe nie an
einer falschen Stelle aufgetragen oder Drücker gesetzt hat, so kauu man sich
Jenny Lind auch nicht auf der Rundfahrt zu den Berichterstattern denken. Bei
näherer Prüfung gelangt man zu dein Schluß, daß die Größe und das Glück
Jenny Linth zum großen Teil darauf beruhte, daß sie ihrem Wesen treu blieb,
und daß sie alle Tugenden des Weibes wahrte. Dadurch blieb ihr Leben
frei von den Dissonanzen, denen wir im Schicksale so vieler ihrer Knnst-
genossinnen begegnen, dadurch wurden ihre dramatischen Leistungen eigentümlich.
Die beideu Biographen bemühen sich allerdings darzuthun, daß Jennh Lind
in jeder ihrer Rollen überzeugend, überwältigend, neu und normal gewesen
sei, und sie übernehmen sich in diesem Bemühen bis zu dein Grade, daß man
lachen muß. Wer mag deu Herren deu Bär aufgebunden haben, daß bis ans
Jenny Lind die Donna Anna in Mozarts Don Juan nach der phantastisch
gewaltsamen Ausfassung des Gespenster-Hoffmanns gespielt worden sei! In
Wirklichkeit liest man aus alle" Berichten heraus, daß die Künstlerin in ihren
Rollen das Weibliche, das Junige, Anmutige in deu Vordergrund stellte, und
daß sie in den Rollen, wo das nicht am Platze war, viel schuldig blieb, wenn
sie auch immer noch interessirte. Das stimmt auch mit ihrem Kouzertgesang,
der sich in derselben Richtung bewegte, der nicht das Große, aber das Heroische
vermied. Sie hielt sich auch mit ihren Arien und ihren Liedern in den
Grenzen ihrer eignen geistigen Individualität, aber innerhalb dieser Grenzen
lebte sie sich in die Kunstwerke so ein, daß sie sie nicht bloß mit der Stimme
wiedergab, sondern auch mit dem Auge und dem Blick. Wir lesen mehr als
einmal! "Man muß Jenny Lind nicht bloß hören, man muß sie auch singen
sehen." Ans ihrer ganzen Kunst lag der Schimmer ihrer Persönlichkeit. Vielen
war diese Persönlichkeit noch lieber als ihre Kunst. Die Biographen führen
hierfür unter andern vornehmen und berühmten Gewährsleuten namentlich die
Worte der Frau Stanley an, der Gemahlin jenes Bischofs von Norwich, der
den Eintritt der Sängerin in die Stadt mit Glockengeläute feiern ließ: "Eigent¬
lich, schreibt Fran Stanley, möchte ich Jenny lieber sprechen als singen hören,
so wundervoll das letztere auch ist." Wir können diesen Zeugnissen das eines
schlichten Musikers hinzufügen. August Galby, der Verfasser des bekannten
musikalischen Lexikons, schreibt in einer Pariser Korrespondenz an die Neue
Zeitschrift für Musik l "Sie singen hören ist ein großer Genuß, ein größerer, sie
in traulichem Gespräch reden zu hören, und eine wahre Seelenerhebnng, die
Thaten ihres schönen Gemüts zu erleben."

Das Hauptverdienst der vorliegenden Biographie ist das, daß sie den Ver¬
ehrern der Sängerin Jenny Lind Gelegenheit giebt, das eigentümlich fesselnde
und treffliche Wesen der Fran in ihr näher kennen zu lernen. Mehr als Er¬
zählungen und Beschreibungen führen in dieses die Briese ein, die mitgeteilt


an sich scheint ihr ein fremder Begriff gewesen zu sein, für den sie nie etwas
gethan hat. Wie sie in ihrem Gesänge der äußern Wirkung zuliebe nie an
einer falschen Stelle aufgetragen oder Drücker gesetzt hat, so kauu man sich
Jenny Lind auch nicht auf der Rundfahrt zu den Berichterstattern denken. Bei
näherer Prüfung gelangt man zu dein Schluß, daß die Größe und das Glück
Jenny Linth zum großen Teil darauf beruhte, daß sie ihrem Wesen treu blieb,
und daß sie alle Tugenden des Weibes wahrte. Dadurch blieb ihr Leben
frei von den Dissonanzen, denen wir im Schicksale so vieler ihrer Knnst-
genossinnen begegnen, dadurch wurden ihre dramatischen Leistungen eigentümlich.
Die beideu Biographen bemühen sich allerdings darzuthun, daß Jennh Lind
in jeder ihrer Rollen überzeugend, überwältigend, neu und normal gewesen
sei, und sie übernehmen sich in diesem Bemühen bis zu dein Grade, daß man
lachen muß. Wer mag deu Herren deu Bär aufgebunden haben, daß bis ans
Jenny Lind die Donna Anna in Mozarts Don Juan nach der phantastisch
gewaltsamen Ausfassung des Gespenster-Hoffmanns gespielt worden sei! In
Wirklichkeit liest man aus alle« Berichten heraus, daß die Künstlerin in ihren
Rollen das Weibliche, das Junige, Anmutige in deu Vordergrund stellte, und
daß sie in den Rollen, wo das nicht am Platze war, viel schuldig blieb, wenn
sie auch immer noch interessirte. Das stimmt auch mit ihrem Kouzertgesang,
der sich in derselben Richtung bewegte, der nicht das Große, aber das Heroische
vermied. Sie hielt sich auch mit ihren Arien und ihren Liedern in den
Grenzen ihrer eignen geistigen Individualität, aber innerhalb dieser Grenzen
lebte sie sich in die Kunstwerke so ein, daß sie sie nicht bloß mit der Stimme
wiedergab, sondern auch mit dem Auge und dem Blick. Wir lesen mehr als
einmal! „Man muß Jenny Lind nicht bloß hören, man muß sie auch singen
sehen." Ans ihrer ganzen Kunst lag der Schimmer ihrer Persönlichkeit. Vielen
war diese Persönlichkeit noch lieber als ihre Kunst. Die Biographen führen
hierfür unter andern vornehmen und berühmten Gewährsleuten namentlich die
Worte der Frau Stanley an, der Gemahlin jenes Bischofs von Norwich, der
den Eintritt der Sängerin in die Stadt mit Glockengeläute feiern ließ: „Eigent¬
lich, schreibt Fran Stanley, möchte ich Jenny lieber sprechen als singen hören,
so wundervoll das letztere auch ist." Wir können diesen Zeugnissen das eines
schlichten Musikers hinzufügen. August Galby, der Verfasser des bekannten
musikalischen Lexikons, schreibt in einer Pariser Korrespondenz an die Neue
Zeitschrift für Musik l „Sie singen hören ist ein großer Genuß, ein größerer, sie
in traulichem Gespräch reden zu hören, und eine wahre Seelenerhebnng, die
Thaten ihres schönen Gemüts zu erleben."

Das Hauptverdienst der vorliegenden Biographie ist das, daß sie den Ver¬
ehrern der Sängerin Jenny Lind Gelegenheit giebt, das eigentümlich fesselnde
und treffliche Wesen der Fran in ihr näher kennen zu lernen. Mehr als Er¬
zählungen und Beschreibungen führen in dieses die Briese ein, die mitgeteilt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/96>, abgerufen am 23.07.2024.