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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Il'muy Lind

Jenny Lind hatte dieses Ziel erreicht durch angeborne Begabung, vor
allem aber dnrch die italienische Gesaugschule, deren Methode niemals überholt
werden kann, und ans der bis ans den heutigen Tag alle großen Gesangsküustler
hervorgegangen sind, die uach der Lind noch genannt werden dürfen: die Patti,
die Nielsvn u, s, w. Lernen, lernen, vollständigste Herrschaft über das Gesangs-
instrmnent gewinnen, ist ihr oberster Grundsatz. Wenn die deutsche Gesang-
schule, die mit Rücksicht auf die Natur unsrer Sprache ein Recht hat, sich ihr
selbständig gegenüberzustellen, uur diesen sich aneignen wollte, und zwar "voll
und ganz/' Aber da liegt es. Die Nachfrage von Oper und Konzert ist Jahr¬
zehnte lang so stark gewesen bei uus, daß man sich schließlich daran gewöhnt
hat, mit halb allsgebildeten Kräften vorlieb zu nehmen. Unser Land ist reich
an schönen Stimmen, aber traurig arm an Gesangskunst, an Urteil und Ver¬
ständnis für sie! Man höre sich nur diese Bayreuther Mustervorstellungen an,
mau gehe ins erste beste Konzert, wenn einmal eine Hnudelsche Nummer vor¬
kommt, in der vielleicht eine Sopranstimme mit einer Flöte oder Violine wechselt.
Jsts nicht, als gingen alle diese Künstler darauf aus, vor allem zu zeigen, daß
sie eine starke Stimme haben? Klingt nicht fast eine wie die andre? Ist nicht
Individualität etwas ganz seltnes geworden?

Jenny Lind selbst war von diesen Gefahren nicht unberührt geblieben.
Als Theaterkind ans der Hosbühne ihrer Vaterstadt Stockholm aufgewachsen,
voll ihrem zehnten Jahre ein bereits stark in Kinderrollen beschäftigt, war sie
im Jahre 18:;? ganz zur Oper übergegangen und durch ihre Leistungen als
Agathe, Enryanthe, Emmeline sin Weigls Schweizerfamilie), Alice schnell der
Liebling des hohen und des gewöhnlichen Publikums geworden. Die Stock¬
holmer Gesellschaft verhätschelte sie, die schwedischen Städte luden sie zu Kon¬
zerten cui, ihr Ruhm drang schon über die Landesgrenzen. Da entschloß sich
im Jahre 1841 das einnndzwanzigjührige Mädchen nach Paris zu gesell und
sich bei Garcia in die Lehre zu geben. Sie hatte allem Weihrauch gegenüber
die Augen offen gehalten und gemerkt, daß nicht alles mit ihren Leistungen
in Ordnung war. Garcia begann den Unterricht damit, daß er ihr erklärte:
"Mein Fräulein, Sie haben keine Stimme mehr." Nach sechs Wochen vollstän¬
diger Ruhe fand sich die Stimme wieder. Aber ohne Garcia wäre ihr Los das der
zahlreichen deutschen Sängerinnen gewesen, die auf Grund eines reinen Naturalis¬
mus zehn Jahre lang als Gellies gefeiert werden und dcinu sinken und verschwinden.

Daß es mit Jenny Lind anders kam, verdankt sie Garcia und seiner ita¬
lienischen Schule; aber mich ihrem Charakter und ihrer Wahrheitsliebe, die sich
nicht blende" und bestechen ließ. Diese Klarheit über sich selbst, diese kühle
Schätzung von Beifall und Jubel, an dem sich das gewöhnliche Kunstreitertum
regelmüßig daran berauscht, ist einer der nlerkwiirdigsteu Züge an der großen
Sängerin, Sie war selbstbewußt, sie war auch dankbar für Förderung, An-
erkennung und Zustimmung. Aber sie nahm das so nebenbei mit, der Erfolg


Il'muy Lind

Jenny Lind hatte dieses Ziel erreicht durch angeborne Begabung, vor
allem aber dnrch die italienische Gesaugschule, deren Methode niemals überholt
werden kann, und ans der bis ans den heutigen Tag alle großen Gesangsküustler
hervorgegangen sind, die uach der Lind noch genannt werden dürfen: die Patti,
die Nielsvn u, s, w. Lernen, lernen, vollständigste Herrschaft über das Gesangs-
instrmnent gewinnen, ist ihr oberster Grundsatz. Wenn die deutsche Gesang-
schule, die mit Rücksicht auf die Natur unsrer Sprache ein Recht hat, sich ihr
selbständig gegenüberzustellen, uur diesen sich aneignen wollte, und zwar „voll
und ganz/' Aber da liegt es. Die Nachfrage von Oper und Konzert ist Jahr¬
zehnte lang so stark gewesen bei uus, daß man sich schließlich daran gewöhnt
hat, mit halb allsgebildeten Kräften vorlieb zu nehmen. Unser Land ist reich
an schönen Stimmen, aber traurig arm an Gesangskunst, an Urteil und Ver¬
ständnis für sie! Man höre sich nur diese Bayreuther Mustervorstellungen an,
mau gehe ins erste beste Konzert, wenn einmal eine Hnudelsche Nummer vor¬
kommt, in der vielleicht eine Sopranstimme mit einer Flöte oder Violine wechselt.
Jsts nicht, als gingen alle diese Künstler darauf aus, vor allem zu zeigen, daß
sie eine starke Stimme haben? Klingt nicht fast eine wie die andre? Ist nicht
Individualität etwas ganz seltnes geworden?

Jenny Lind selbst war von diesen Gefahren nicht unberührt geblieben.
Als Theaterkind ans der Hosbühne ihrer Vaterstadt Stockholm aufgewachsen,
voll ihrem zehnten Jahre ein bereits stark in Kinderrollen beschäftigt, war sie
im Jahre 18:;? ganz zur Oper übergegangen und durch ihre Leistungen als
Agathe, Enryanthe, Emmeline sin Weigls Schweizerfamilie), Alice schnell der
Liebling des hohen und des gewöhnlichen Publikums geworden. Die Stock¬
holmer Gesellschaft verhätschelte sie, die schwedischen Städte luden sie zu Kon¬
zerten cui, ihr Ruhm drang schon über die Landesgrenzen. Da entschloß sich
im Jahre 1841 das einnndzwanzigjührige Mädchen nach Paris zu gesell und
sich bei Garcia in die Lehre zu geben. Sie hatte allem Weihrauch gegenüber
die Augen offen gehalten und gemerkt, daß nicht alles mit ihren Leistungen
in Ordnung war. Garcia begann den Unterricht damit, daß er ihr erklärte:
„Mein Fräulein, Sie haben keine Stimme mehr." Nach sechs Wochen vollstän¬
diger Ruhe fand sich die Stimme wieder. Aber ohne Garcia wäre ihr Los das der
zahlreichen deutschen Sängerinnen gewesen, die auf Grund eines reinen Naturalis¬
mus zehn Jahre lang als Gellies gefeiert werden und dcinu sinken und verschwinden.

Daß es mit Jenny Lind anders kam, verdankt sie Garcia und seiner ita¬
lienischen Schule; aber mich ihrem Charakter und ihrer Wahrheitsliebe, die sich
nicht blende» und bestechen ließ. Diese Klarheit über sich selbst, diese kühle
Schätzung von Beifall und Jubel, an dem sich das gewöhnliche Kunstreitertum
regelmüßig daran berauscht, ist einer der nlerkwiirdigsteu Züge an der großen
Sängerin, Sie war selbstbewußt, sie war auch dankbar für Förderung, An-
erkennung und Zustimmung. Aber sie nahm das so nebenbei mit, der Erfolg


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[0095] Il'muy Lind Jenny Lind hatte dieses Ziel erreicht durch angeborne Begabung, vor allem aber dnrch die italienische Gesaugschule, deren Methode niemals überholt werden kann, und ans der bis ans den heutigen Tag alle großen Gesangsküustler hervorgegangen sind, die uach der Lind noch genannt werden dürfen: die Patti, die Nielsvn u, s, w. Lernen, lernen, vollständigste Herrschaft über das Gesangs- instrmnent gewinnen, ist ihr oberster Grundsatz. Wenn die deutsche Gesang- schule, die mit Rücksicht auf die Natur unsrer Sprache ein Recht hat, sich ihr selbständig gegenüberzustellen, uur diesen sich aneignen wollte, und zwar „voll und ganz/' Aber da liegt es. Die Nachfrage von Oper und Konzert ist Jahr¬ zehnte lang so stark gewesen bei uus, daß man sich schließlich daran gewöhnt hat, mit halb allsgebildeten Kräften vorlieb zu nehmen. Unser Land ist reich an schönen Stimmen, aber traurig arm an Gesangskunst, an Urteil und Ver¬ ständnis für sie! Man höre sich nur diese Bayreuther Mustervorstellungen an, mau gehe ins erste beste Konzert, wenn einmal eine Hnudelsche Nummer vor¬ kommt, in der vielleicht eine Sopranstimme mit einer Flöte oder Violine wechselt. Jsts nicht, als gingen alle diese Künstler darauf aus, vor allem zu zeigen, daß sie eine starke Stimme haben? Klingt nicht fast eine wie die andre? Ist nicht Individualität etwas ganz seltnes geworden? Jenny Lind selbst war von diesen Gefahren nicht unberührt geblieben. Als Theaterkind ans der Hosbühne ihrer Vaterstadt Stockholm aufgewachsen, voll ihrem zehnten Jahre ein bereits stark in Kinderrollen beschäftigt, war sie im Jahre 18:;? ganz zur Oper übergegangen und durch ihre Leistungen als Agathe, Enryanthe, Emmeline sin Weigls Schweizerfamilie), Alice schnell der Liebling des hohen und des gewöhnlichen Publikums geworden. Die Stock¬ holmer Gesellschaft verhätschelte sie, die schwedischen Städte luden sie zu Kon¬ zerten cui, ihr Ruhm drang schon über die Landesgrenzen. Da entschloß sich im Jahre 1841 das einnndzwanzigjührige Mädchen nach Paris zu gesell und sich bei Garcia in die Lehre zu geben. Sie hatte allem Weihrauch gegenüber die Augen offen gehalten und gemerkt, daß nicht alles mit ihren Leistungen in Ordnung war. Garcia begann den Unterricht damit, daß er ihr erklärte: „Mein Fräulein, Sie haben keine Stimme mehr." Nach sechs Wochen vollstän¬ diger Ruhe fand sich die Stimme wieder. Aber ohne Garcia wäre ihr Los das der zahlreichen deutschen Sängerinnen gewesen, die auf Grund eines reinen Naturalis¬ mus zehn Jahre lang als Gellies gefeiert werden und dcinu sinken und verschwinden. Daß es mit Jenny Lind anders kam, verdankt sie Garcia und seiner ita¬ lienischen Schule; aber mich ihrem Charakter und ihrer Wahrheitsliebe, die sich nicht blende» und bestechen ließ. Diese Klarheit über sich selbst, diese kühle Schätzung von Beifall und Jubel, an dem sich das gewöhnliche Kunstreitertum regelmüßig daran berauscht, ist einer der nlerkwiirdigsteu Züge an der großen Sängerin, Sie war selbstbewußt, sie war auch dankbar für Förderung, An- erkennung und Zustimmung. Aber sie nahm das so nebenbei mit, der Erfolg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/95>, abgerufen am 23.07.2024.