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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Zum Trnnfsuchtsgosetzeiitivurs

das Tier seines Herrn mit reichlicherem Futter versah, als der geizige Herr es
angeordnet hatte, machte sich eines Vergehens gegen das Sittengesetz schuldig,
selbst wenn er in der Überzeugung handelte, dem Tiere und dem Herrn zu
nützen. Aber um dieser Überzeugung willen würde der Sittenrichter vielleicht
geneigt sein, ihn freizusprechen, wie er es wegen einer Notlüge thun würde.
Um so weniger konnte der Thäter glauben, eine Strafthat zu begehen, die mit
Hast bis zu sechs Wochen bedroht ist, es sei denn, daß er sich mit dem Straf¬
gesetzbuch ^70l>) eingehender beschäftigt hätte. Daher widerstrebt es uns,
diese Strafe über ihn verhängt zu sehen. Und wenn wir, wie es bei der ge¬
wohnheitsmäßigen Kuppelei t§ 18"" des Strafgefetzbuchs) der Fall ist, wahr¬
nehmen, daß ein alle Tage in den Gerichtssäleu verhandeltes Vergehen gegen
das Sittengesetz mit schwerer Strafe bedroht ist, und dann zugleich Zeugen der
Thatsache sind, daß die Staatsregierung --- in einer Reihe "Toleranz" übender
Staaten -- dasselbe Vergehen mit allem Vorbedacht durch seine eignen Be¬
hörden verüben läßt, haben wir dann nicht alle Ursache, uns in unserm Rechts-
gefühl beleidigt zu finden? Und liegt in solchem Zustande nicht eine ernste
Mahnung an den Gesetzgeber, das Rechtsgesetz nicht mit dem Sittengesetz zu
verwechseln?

Daß aber der Unterschied, den Montesquieu zwischen beiden macht, nicht
minder von dem Verhältnis des Rechtsgesetzes zu, den Vorschriften der Gesund¬
heitspflege gilt, daß mithin das Strafrecht uicht dazu berufen sein kann, die
Regeln der Hygieine in sich aufzunehmen, das braucht wohl kaum uoch hervor¬
gehoben zu werden. Andrerseits aber soll das Strafgesetz seinen Ursprung und
seine Wurzel im Sittengesetz nicht verleugnen. Das ist z. B. der Fall, wenn
der Entwurf des Trunksuchtsgesetzes H 8) dieselbe Handlung vor acht Uhr
morgens verpönt, die er von acht Uhr an gutheißt. Die Rechtsanschau-
ung, daß bei dem Erwachsenen die Straffälligkeit nicht uur von der Kunde
des verletzten Gesetzes abhänge, während nach h 5" des Strafgesetzbuches
die Bestrafung jugendlicher Personen nicht stattfinden kann, ohne daß sich fest¬
stellen läßt, daß sie die zur Erkenntnis der Strafbarkeit ihrer Handlang er¬
forderliche Einsicht besessen haben, kann, wenn sie nicht zu einer leeren Fiktion
herabsinken soll, nur auf der Voraussetzung beruhen, daß Gewissen und Er¬
ziehung jeden Erwachsenen eine nach dem Gesetz strafbare Handlung als solche
erkennen lassen. Bei der großen Zahl von Strafgesetzen. die sich zu dem, was
uns Erziehung und Sitte vorschreiben, gleichartig verhalten, möchte man sast
wünschen, seine Feststellung auch als die >Vorbedingung zur Bestrafung Er¬
wachsener anerkannt zu sehen. Wenn daher auch Nützlichkeitsgesetze in einem
verwickelten Staatskörper nicht ganz zu entbehren sind, so sollte der Gesetzgeber
doch wenigstens darauf bedacht sein, ihre Zahl möglichst einzuschränken, statt
sie zu vermehren, und er sollte nur solche erlassen, die wenigstens mittelbar
auf dem Sittengesetz beruhen. Diesem Erfordernis entspricht z. B. das soge-


Zum Trnnfsuchtsgosetzeiitivurs

das Tier seines Herrn mit reichlicherem Futter versah, als der geizige Herr es
angeordnet hatte, machte sich eines Vergehens gegen das Sittengesetz schuldig,
selbst wenn er in der Überzeugung handelte, dem Tiere und dem Herrn zu
nützen. Aber um dieser Überzeugung willen würde der Sittenrichter vielleicht
geneigt sein, ihn freizusprechen, wie er es wegen einer Notlüge thun würde.
Um so weniger konnte der Thäter glauben, eine Strafthat zu begehen, die mit
Hast bis zu sechs Wochen bedroht ist, es sei denn, daß er sich mit dem Straf¬
gesetzbuch ^70l>) eingehender beschäftigt hätte. Daher widerstrebt es uns,
diese Strafe über ihn verhängt zu sehen. Und wenn wir, wie es bei der ge¬
wohnheitsmäßigen Kuppelei t§ 18«» des Strafgefetzbuchs) der Fall ist, wahr¬
nehmen, daß ein alle Tage in den Gerichtssäleu verhandeltes Vergehen gegen
das Sittengesetz mit schwerer Strafe bedroht ist, und dann zugleich Zeugen der
Thatsache sind, daß die Staatsregierung —- in einer Reihe „Toleranz" übender
Staaten — dasselbe Vergehen mit allem Vorbedacht durch seine eignen Be¬
hörden verüben läßt, haben wir dann nicht alle Ursache, uns in unserm Rechts-
gefühl beleidigt zu finden? Und liegt in solchem Zustande nicht eine ernste
Mahnung an den Gesetzgeber, das Rechtsgesetz nicht mit dem Sittengesetz zu
verwechseln?

Daß aber der Unterschied, den Montesquieu zwischen beiden macht, nicht
minder von dem Verhältnis des Rechtsgesetzes zu, den Vorschriften der Gesund¬
heitspflege gilt, daß mithin das Strafrecht uicht dazu berufen sein kann, die
Regeln der Hygieine in sich aufzunehmen, das braucht wohl kaum uoch hervor¬
gehoben zu werden. Andrerseits aber soll das Strafgesetz seinen Ursprung und
seine Wurzel im Sittengesetz nicht verleugnen. Das ist z. B. der Fall, wenn
der Entwurf des Trunksuchtsgesetzes H 8) dieselbe Handlung vor acht Uhr
morgens verpönt, die er von acht Uhr an gutheißt. Die Rechtsanschau-
ung, daß bei dem Erwachsenen die Straffälligkeit nicht uur von der Kunde
des verletzten Gesetzes abhänge, während nach h 5« des Strafgesetzbuches
die Bestrafung jugendlicher Personen nicht stattfinden kann, ohne daß sich fest¬
stellen läßt, daß sie die zur Erkenntnis der Strafbarkeit ihrer Handlang er¬
forderliche Einsicht besessen haben, kann, wenn sie nicht zu einer leeren Fiktion
herabsinken soll, nur auf der Voraussetzung beruhen, daß Gewissen und Er¬
ziehung jeden Erwachsenen eine nach dem Gesetz strafbare Handlung als solche
erkennen lassen. Bei der großen Zahl von Strafgesetzen. die sich zu dem, was
uns Erziehung und Sitte vorschreiben, gleichartig verhalten, möchte man sast
wünschen, seine Feststellung auch als die >Vorbedingung zur Bestrafung Er¬
wachsener anerkannt zu sehen. Wenn daher auch Nützlichkeitsgesetze in einem
verwickelten Staatskörper nicht ganz zu entbehren sind, so sollte der Gesetzgeber
doch wenigstens darauf bedacht sein, ihre Zahl möglichst einzuschränken, statt
sie zu vermehren, und er sollte nur solche erlassen, die wenigstens mittelbar
auf dem Sittengesetz beruhen. Diesem Erfordernis entspricht z. B. das soge-


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[0076] Zum Trnnfsuchtsgosetzeiitivurs das Tier seines Herrn mit reichlicherem Futter versah, als der geizige Herr es angeordnet hatte, machte sich eines Vergehens gegen das Sittengesetz schuldig, selbst wenn er in der Überzeugung handelte, dem Tiere und dem Herrn zu nützen. Aber um dieser Überzeugung willen würde der Sittenrichter vielleicht geneigt sein, ihn freizusprechen, wie er es wegen einer Notlüge thun würde. Um so weniger konnte der Thäter glauben, eine Strafthat zu begehen, die mit Hast bis zu sechs Wochen bedroht ist, es sei denn, daß er sich mit dem Straf¬ gesetzbuch ^70l>) eingehender beschäftigt hätte. Daher widerstrebt es uns, diese Strafe über ihn verhängt zu sehen. Und wenn wir, wie es bei der ge¬ wohnheitsmäßigen Kuppelei t§ 18«» des Strafgefetzbuchs) der Fall ist, wahr¬ nehmen, daß ein alle Tage in den Gerichtssäleu verhandeltes Vergehen gegen das Sittengesetz mit schwerer Strafe bedroht ist, und dann zugleich Zeugen der Thatsache sind, daß die Staatsregierung —- in einer Reihe „Toleranz" übender Staaten — dasselbe Vergehen mit allem Vorbedacht durch seine eignen Be¬ hörden verüben läßt, haben wir dann nicht alle Ursache, uns in unserm Rechts- gefühl beleidigt zu finden? Und liegt in solchem Zustande nicht eine ernste Mahnung an den Gesetzgeber, das Rechtsgesetz nicht mit dem Sittengesetz zu verwechseln? Daß aber der Unterschied, den Montesquieu zwischen beiden macht, nicht minder von dem Verhältnis des Rechtsgesetzes zu, den Vorschriften der Gesund¬ heitspflege gilt, daß mithin das Strafrecht uicht dazu berufen sein kann, die Regeln der Hygieine in sich aufzunehmen, das braucht wohl kaum uoch hervor¬ gehoben zu werden. Andrerseits aber soll das Strafgesetz seinen Ursprung und seine Wurzel im Sittengesetz nicht verleugnen. Das ist z. B. der Fall, wenn der Entwurf des Trunksuchtsgesetzes H 8) dieselbe Handlung vor acht Uhr morgens verpönt, die er von acht Uhr an gutheißt. Die Rechtsanschau- ung, daß bei dem Erwachsenen die Straffälligkeit nicht uur von der Kunde des verletzten Gesetzes abhänge, während nach h 5« des Strafgesetzbuches die Bestrafung jugendlicher Personen nicht stattfinden kann, ohne daß sich fest¬ stellen läßt, daß sie die zur Erkenntnis der Strafbarkeit ihrer Handlang er¬ forderliche Einsicht besessen haben, kann, wenn sie nicht zu einer leeren Fiktion herabsinken soll, nur auf der Voraussetzung beruhen, daß Gewissen und Er¬ ziehung jeden Erwachsenen eine nach dem Gesetz strafbare Handlung als solche erkennen lassen. Bei der großen Zahl von Strafgesetzen. die sich zu dem, was uns Erziehung und Sitte vorschreiben, gleichartig verhalten, möchte man sast wünschen, seine Feststellung auch als die >Vorbedingung zur Bestrafung Er¬ wachsener anerkannt zu sehen. Wenn daher auch Nützlichkeitsgesetze in einem verwickelten Staatskörper nicht ganz zu entbehren sind, so sollte der Gesetzgeber doch wenigstens darauf bedacht sein, ihre Zahl möglichst einzuschränken, statt sie zu vermehren, und er sollte nur solche erlassen, die wenigstens mittelbar auf dem Sittengesetz beruhen. Diesem Erfordernis entspricht z. B. das soge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/76>, abgerufen am 03.07.2024.