Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.Goethes Araßburger lyrische Gedichte Winde zu erbleichen," die grünen Wiesen trüb dreinzuschauen, weil sie die Sonne So bieten uns die Straßburger Gedichte eine höchst anziehende Reihe Er¬ Goethes Araßburger lyrische Gedichte Winde zu erbleichen," die grünen Wiesen trüb dreinzuschauen, weil sie die Sonne So bieten uns die Straßburger Gedichte eine höchst anziehende Reihe Er¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0647" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211815"/> <fw type="header" place="top"> Goethes Araßburger lyrische Gedichte</fw><lb/> <p xml:id="ID_1977" prev="#ID_1976"> Winde zu erbleichen," die grünen Wiesen trüb dreinzuschauen, weil sie die Sonne<lb/> vermissen, wie er Friederiken, die ihm überall fehlt. Mit einem Sprunge geht<lb/> er dann in der dritten Strophe zur Heimat über. Auch dort, wohin er bald ohne<lb/> sie gehen muß, wird er sich uach ihr sehnen, selbst in der jubelnden Freude<lb/> der Frankfurter Weinlese (nach Mitte Oktober). Der Ausdruck ist hier fast<lb/> in jedem Worte bezeichnend, ja eigentümlich, wie das ,,in die Neben gehen",<lb/> das ,,einherbsten der Trauben." Auch die das Ganze trefflich abrundende,<lb/> auf Friederiken zurückkehrende Schlußwendnng drückt die innige Liebe des zur<lb/> Entsagung genötigten anmutig aus. Ganz verfehlt ist B.'s Versuch, das<lb/> Lied nach Frankfurt in den Spätherbst zu verlegen, als ob es im August<lb/> keine trübet: Nebelmorgen gäbe. Daß er jetzt nicht mehr zu ihr zurück dürfe,<lb/> bezieht sich darauf, daß es ihm verwehrt ist, sie noch einmal in Sesenheim<lb/> zu besuchen, wo er als ungetreuer Liebhaber eine traurige Figur spielen und<lb/> die bittersten Gefühle erregen würde. Dennoch konnte er später dem Ver<lb/> langen nicht widerstehn, von der Geliebten persönlich Abschied zu nehmen; die<lb/> Zeilen, die er vor diesem bittersüßen Ritt nach Sesenheim schrieb, haben sich<lb/> im Abdruck erhalten und zeugen von der verzweifelnden Aufregung des schmerz¬<lb/> lich scheidenden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1978"> So bieten uns die Straßburger Gedichte eine höchst anziehende Reihe Er¬<lb/> güsse von Goethes den Dichtcrschwnng neu erweckender Liebessehnsucht, von<lb/> seinem bis zu dem Versprechen ewiger Treue gedeihenden Liebesglück und von<lb/> seiner bittern Entsagung bis zum Scheiden. Alle bekunden des jungen Dichters<lb/> herrliche Begabung, wenn auch ein paar davon nur launig tändeln, andre an<lb/> dem seine Seele trübenden und überspannenden Ärger oder an wilder<lb/> Verzweiflung leiden, die ihn nicht zu reinem, echt tragischen Ausdruck der<lb/> Entsagung kommen lassen. Es gewährt gerade einen eignen Reiz den zum<lb/> ersten Mal von voller, durchgeistigter Liebe ergriffnen Jüngling in so ver-<lb/> schiednen Gemütslngen zu beobachten. Ein wahrer Hochverrat scheint es, das,<lb/> was davon weniger ansprechen will, aus kritischem Gelüst unbesonnen zu<lb/> verwerfen, besonders wenn es dabei um den bei solchen feinen Fragen uner¬<lb/> läßlichen Grundlagen, reifem Urteil und eindringender, umfassender Kenntnis,<lb/> fehlt. Aber diese wenigen Gedichte sind leider die einzigen nachweisbaren<lb/> lyrischen Erzeugnisse aus Goethes für seine Ansbildung so wichtigen Strnß-<lb/> bnrger Tagen. Von den vier andern Liedern, die die ,,Chronologie" hinter den<lb/> Werken seit 1837 unter den Jahren 1770—1771 aufführt, ist kein Beweis<lb/> einer frühen Entstehung geliefert, noch willkürlicher hat man andre hierher<lb/> gezogen, ja die Annahme, daß in diesen Jahren eines dieser Lieder gedichtet<lb/> sei, entbehrt sogar jeder Wahrscheinlichkeit. Es gilt, die verschiednen Zeiten<lb/> von Goethes Lyrik streng von einander zu sondern: nach der Rückkehr von<lb/> Straßburg beginnt eine neue Entwicklung auch des lyrischen Dichters.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0647]
Goethes Araßburger lyrische Gedichte
Winde zu erbleichen," die grünen Wiesen trüb dreinzuschauen, weil sie die Sonne
vermissen, wie er Friederiken, die ihm überall fehlt. Mit einem Sprunge geht
er dann in der dritten Strophe zur Heimat über. Auch dort, wohin er bald ohne
sie gehen muß, wird er sich uach ihr sehnen, selbst in der jubelnden Freude
der Frankfurter Weinlese (nach Mitte Oktober). Der Ausdruck ist hier fast
in jedem Worte bezeichnend, ja eigentümlich, wie das ,,in die Neben gehen",
das ,,einherbsten der Trauben." Auch die das Ganze trefflich abrundende,
auf Friederiken zurückkehrende Schlußwendnng drückt die innige Liebe des zur
Entsagung genötigten anmutig aus. Ganz verfehlt ist B.'s Versuch, das
Lied nach Frankfurt in den Spätherbst zu verlegen, als ob es im August
keine trübet: Nebelmorgen gäbe. Daß er jetzt nicht mehr zu ihr zurück dürfe,
bezieht sich darauf, daß es ihm verwehrt ist, sie noch einmal in Sesenheim
zu besuchen, wo er als ungetreuer Liebhaber eine traurige Figur spielen und
die bittersten Gefühle erregen würde. Dennoch konnte er später dem Ver
langen nicht widerstehn, von der Geliebten persönlich Abschied zu nehmen; die
Zeilen, die er vor diesem bittersüßen Ritt nach Sesenheim schrieb, haben sich
im Abdruck erhalten und zeugen von der verzweifelnden Aufregung des schmerz¬
lich scheidenden.
So bieten uns die Straßburger Gedichte eine höchst anziehende Reihe Er¬
güsse von Goethes den Dichtcrschwnng neu erweckender Liebessehnsucht, von
seinem bis zu dem Versprechen ewiger Treue gedeihenden Liebesglück und von
seiner bittern Entsagung bis zum Scheiden. Alle bekunden des jungen Dichters
herrliche Begabung, wenn auch ein paar davon nur launig tändeln, andre an
dem seine Seele trübenden und überspannenden Ärger oder an wilder
Verzweiflung leiden, die ihn nicht zu reinem, echt tragischen Ausdruck der
Entsagung kommen lassen. Es gewährt gerade einen eignen Reiz den zum
ersten Mal von voller, durchgeistigter Liebe ergriffnen Jüngling in so ver-
schiednen Gemütslngen zu beobachten. Ein wahrer Hochverrat scheint es, das,
was davon weniger ansprechen will, aus kritischem Gelüst unbesonnen zu
verwerfen, besonders wenn es dabei um den bei solchen feinen Fragen uner¬
läßlichen Grundlagen, reifem Urteil und eindringender, umfassender Kenntnis,
fehlt. Aber diese wenigen Gedichte sind leider die einzigen nachweisbaren
lyrischen Erzeugnisse aus Goethes für seine Ansbildung so wichtigen Strnß-
bnrger Tagen. Von den vier andern Liedern, die die ,,Chronologie" hinter den
Werken seit 1837 unter den Jahren 1770—1771 aufführt, ist kein Beweis
einer frühen Entstehung geliefert, noch willkürlicher hat man andre hierher
gezogen, ja die Annahme, daß in diesen Jahren eines dieser Lieder gedichtet
sei, entbehrt sogar jeder Wahrscheinlichkeit. Es gilt, die verschiednen Zeiten
von Goethes Lyrik streng von einander zu sondern: nach der Rückkehr von
Straßburg beginnt eine neue Entwicklung auch des lyrischen Dichters.
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