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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Straßburger lyrische Gedichte

Worten: "Ich seh dich schlummern, Schöne! Von Auge rinnt mir eine süße
Thräne" überrascht uns die Bemerkung, die Thräne sei hier ganz unbegründet.
Hiernach hat B. wieder den Zusammenhang nicht verstände!?. Das Bild
der schönen Schläferin (die Anrede "Schöne" ist hier im vollsten Sinne zu
nehmen, wie auch im vorletzten Verse bei dem launigen "die schönste meiner
Musen") rührt ihn zu Thränen und trübt seinen Blick, so daß ihm das Bild
entschwindet. Das ist ein des größten Dichters würdiger Zug. Mit wunderlicher
Kleinmeistcrei heißt es dann weiter, bei Goethe finde sich zu dem Oxymoron
"süße Thränen" keine Parallele weiter als die "wonnevollen Schmerzen," die
aber Goethe nicht sich selbst, sondern den alten Eltern Pasfavants zuschreibe.
Welch feine Unterscheidung! Goethe durfte sich selbst also "süße Thränen"
d. h. Thränen der Freude oder auch der Trauer (vgl. das Gedicht "Trost in
Thränen," wo die Thränen ,,gar so süß fließen") nicht zuschreiben; dies ver¬
rate einen Dichter, der ähnliche Oxymora von Thränen, Schmerzen, Schauern
häufig habe. Solch süße Thränen Goethes waren aber gewiß die "vollschwel¬
lenden" im ,,Herbstgefühl", auch alle, die ihm bekanntlich jedes vollkommne
Schöne entlockte, wie z. B. seine eigne Dichtung "Hermann und Dorothea."
Goethe giebt den Thränen überall, wo es an der Stelle ist, die bezeichnenden
Beiwörter, wie er z. B. in der Elegie "Euphrosyne" von "herrlichen" Thränen
des Beifalls der Zuschauer im Theater spricht. Mit einer solchen armseligen,
dazu ungenauen Statistik, wie sie B. übt, blendet man nur sich selbst und Un¬
kundige, denen man damit zeigen möchte, wie "herrlich weit" es die Goethephilo-
logie schon gebracht.hat. B. tadelt auch den "zerhackten Rhythmus", daß "die
Enden der kurzen Verse scharf den rhythmischen Fluß der Rede durchschneiden."
Was er damit meint, verstehe ich nicht. Daß einigemal der Gedanke durch
zwei Verse fortläuft, kommt ja vielfach vor und ist keineswegs ein Fehler, dn
es die langweilige Eintönigkeit wohlthuend unterbricht. Eben fo haltlos er¬
scheint die Behauptung, in seinem Wohllaut stehe das Lied noch unter den
Leipzigern; weislich zieht sich diese Behauptung auf etwas "Undefiuirbares" zu¬
rück. Ich vermisse auch hier keineswegs Goethes "Venusrede"; sie tritt an
manchen Stellen sehr glücklich hervor. Doch B. ist seiner Sache so gewiß, daß
er sogar den Morgen zu erraten glaubt, wo Leuz das Lied gedichtet habe,
nämlich am letzten Augustsonutag 1772. Und doch beweist gerade die dafür
angeführte Briefstelle, daß Lenz an diesem Morgen nichts weniger gethan als
Verse gemacht hat; denn sie erzählt, wie er bis vier Uhr morgens in der
Laube zu Sesenheim gesessen habe, um sich von seinen Tagesmärschen zu erholen,
dann eingeschlafen sei, später eine Bibel und eine Konkordanz zur Hand ge¬
nommen und um neun Uhr die Kanzel bestiegen habe, sodaß er also gerade zu
der Zeit, wo er die Verse gedichtet haben soll, im Schlafe lag, aber uicht
Friederiken zum Spaziergang erwartete!

Aus dein mehr als vierwöchigen Aufenthalt in Sesenheim seit dein


Goethes Straßburger lyrische Gedichte

Worten: „Ich seh dich schlummern, Schöne! Von Auge rinnt mir eine süße
Thräne" überrascht uns die Bemerkung, die Thräne sei hier ganz unbegründet.
Hiernach hat B. wieder den Zusammenhang nicht verstände!?. Das Bild
der schönen Schläferin (die Anrede „Schöne" ist hier im vollsten Sinne zu
nehmen, wie auch im vorletzten Verse bei dem launigen „die schönste meiner
Musen") rührt ihn zu Thränen und trübt seinen Blick, so daß ihm das Bild
entschwindet. Das ist ein des größten Dichters würdiger Zug. Mit wunderlicher
Kleinmeistcrei heißt es dann weiter, bei Goethe finde sich zu dem Oxymoron
„süße Thränen" keine Parallele weiter als die „wonnevollen Schmerzen," die
aber Goethe nicht sich selbst, sondern den alten Eltern Pasfavants zuschreibe.
Welch feine Unterscheidung! Goethe durfte sich selbst also „süße Thränen"
d. h. Thränen der Freude oder auch der Trauer (vgl. das Gedicht „Trost in
Thränen," wo die Thränen ,,gar so süß fließen") nicht zuschreiben; dies ver¬
rate einen Dichter, der ähnliche Oxymora von Thränen, Schmerzen, Schauern
häufig habe. Solch süße Thränen Goethes waren aber gewiß die „vollschwel¬
lenden" im ,,Herbstgefühl", auch alle, die ihm bekanntlich jedes vollkommne
Schöne entlockte, wie z. B. seine eigne Dichtung „Hermann und Dorothea."
Goethe giebt den Thränen überall, wo es an der Stelle ist, die bezeichnenden
Beiwörter, wie er z. B. in der Elegie „Euphrosyne" von „herrlichen" Thränen
des Beifalls der Zuschauer im Theater spricht. Mit einer solchen armseligen,
dazu ungenauen Statistik, wie sie B. übt, blendet man nur sich selbst und Un¬
kundige, denen man damit zeigen möchte, wie „herrlich weit" es die Goethephilo-
logie schon gebracht.hat. B. tadelt auch den „zerhackten Rhythmus", daß „die
Enden der kurzen Verse scharf den rhythmischen Fluß der Rede durchschneiden."
Was er damit meint, verstehe ich nicht. Daß einigemal der Gedanke durch
zwei Verse fortläuft, kommt ja vielfach vor und ist keineswegs ein Fehler, dn
es die langweilige Eintönigkeit wohlthuend unterbricht. Eben fo haltlos er¬
scheint die Behauptung, in seinem Wohllaut stehe das Lied noch unter den
Leipzigern; weislich zieht sich diese Behauptung auf etwas „Undefiuirbares" zu¬
rück. Ich vermisse auch hier keineswegs Goethes „Venusrede"; sie tritt an
manchen Stellen sehr glücklich hervor. Doch B. ist seiner Sache so gewiß, daß
er sogar den Morgen zu erraten glaubt, wo Leuz das Lied gedichtet habe,
nämlich am letzten Augustsonutag 1772. Und doch beweist gerade die dafür
angeführte Briefstelle, daß Lenz an diesem Morgen nichts weniger gethan als
Verse gemacht hat; denn sie erzählt, wie er bis vier Uhr morgens in der
Laube zu Sesenheim gesessen habe, um sich von seinen Tagesmärschen zu erholen,
dann eingeschlafen sei, später eine Bibel und eine Konkordanz zur Hand ge¬
nommen und um neun Uhr die Kanzel bestiegen habe, sodaß er also gerade zu
der Zeit, wo er die Verse gedichtet haben soll, im Schlafe lag, aber uicht
Friederiken zum Spaziergang erwartete!

Aus dein mehr als vierwöchigen Aufenthalt in Sesenheim seit dein


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[0643] Goethes Straßburger lyrische Gedichte Worten: „Ich seh dich schlummern, Schöne! Von Auge rinnt mir eine süße Thräne" überrascht uns die Bemerkung, die Thräne sei hier ganz unbegründet. Hiernach hat B. wieder den Zusammenhang nicht verstände!?. Das Bild der schönen Schläferin (die Anrede „Schöne" ist hier im vollsten Sinne zu nehmen, wie auch im vorletzten Verse bei dem launigen „die schönste meiner Musen") rührt ihn zu Thränen und trübt seinen Blick, so daß ihm das Bild entschwindet. Das ist ein des größten Dichters würdiger Zug. Mit wunderlicher Kleinmeistcrei heißt es dann weiter, bei Goethe finde sich zu dem Oxymoron „süße Thränen" keine Parallele weiter als die „wonnevollen Schmerzen," die aber Goethe nicht sich selbst, sondern den alten Eltern Pasfavants zuschreibe. Welch feine Unterscheidung! Goethe durfte sich selbst also „süße Thränen" d. h. Thränen der Freude oder auch der Trauer (vgl. das Gedicht „Trost in Thränen," wo die Thränen ,,gar so süß fließen") nicht zuschreiben; dies ver¬ rate einen Dichter, der ähnliche Oxymora von Thränen, Schmerzen, Schauern häufig habe. Solch süße Thränen Goethes waren aber gewiß die „vollschwel¬ lenden" im ,,Herbstgefühl", auch alle, die ihm bekanntlich jedes vollkommne Schöne entlockte, wie z. B. seine eigne Dichtung „Hermann und Dorothea." Goethe giebt den Thränen überall, wo es an der Stelle ist, die bezeichnenden Beiwörter, wie er z. B. in der Elegie „Euphrosyne" von „herrlichen" Thränen des Beifalls der Zuschauer im Theater spricht. Mit einer solchen armseligen, dazu ungenauen Statistik, wie sie B. übt, blendet man nur sich selbst und Un¬ kundige, denen man damit zeigen möchte, wie „herrlich weit" es die Goethephilo- logie schon gebracht.hat. B. tadelt auch den „zerhackten Rhythmus", daß „die Enden der kurzen Verse scharf den rhythmischen Fluß der Rede durchschneiden." Was er damit meint, verstehe ich nicht. Daß einigemal der Gedanke durch zwei Verse fortläuft, kommt ja vielfach vor und ist keineswegs ein Fehler, dn es die langweilige Eintönigkeit wohlthuend unterbricht. Eben fo haltlos er¬ scheint die Behauptung, in seinem Wohllaut stehe das Lied noch unter den Leipzigern; weislich zieht sich diese Behauptung auf etwas „Undefiuirbares" zu¬ rück. Ich vermisse auch hier keineswegs Goethes „Venusrede"; sie tritt an manchen Stellen sehr glücklich hervor. Doch B. ist seiner Sache so gewiß, daß er sogar den Morgen zu erraten glaubt, wo Leuz das Lied gedichtet habe, nämlich am letzten Augustsonutag 1772. Und doch beweist gerade die dafür angeführte Briefstelle, daß Lenz an diesem Morgen nichts weniger gethan als Verse gemacht hat; denn sie erzählt, wie er bis vier Uhr morgens in der Laube zu Sesenheim gesessen habe, um sich von seinen Tagesmärschen zu erholen, dann eingeschlafen sei, später eine Bibel und eine Konkordanz zur Hand ge¬ nommen und um neun Uhr die Kanzel bestiegen habe, sodaß er also gerade zu der Zeit, wo er die Verse gedichtet haben soll, im Schlafe lag, aber uicht Friederiken zum Spaziergang erwartete! Aus dein mehr als vierwöchigen Aufenthalt in Sesenheim seit dein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/643>, abgerufen am 23.07.2024.