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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Straßburger lyrische Gedichte

denkt er sich in seinem Armuth, zu einem festen Schlaf an. Auch das auf "tagt"
reimende "schlagt" statt "schlägt" soll die Unbehilflichkeit des Dichters zeigen,
der doch hier, wie auch sollst beim Reime, nur aus der Not eine Tugend macht.
"Schlagt" wagt er hiernach "klagt, plagt, fragt." Eine "sprachlich wie rhythmisch
ungewöhnlich harte Wortverbindung" soll in der vierten Strophe sein: "Und
wär' er von den Zehen zum Kopf von Eis." Wir haben hier aber nur
eine humoristische Umkehrung des gangbaren "vom Kopf bis zu den Zehen,"
wie Goethe auch sonst an ein paar Stellen diese volkstümliche Redeweise
frei umgestaltet hat; die Veranlassung hier "von den Zehen" vorangehen zu
lassen, lag in dem geforderten Reim und auch in dem schließenden "von Eis."
Der Vorwurf rhythmischer Härte ist vollends haltlos. Anstößiger könnte
die Verbindung scheinen "mein Bild, das halb voll Schlaf und reunend die
Musen schilt." Aber launig stellt sich der Dichter vor, der Traum zeige
ihn (sein Bild) Friederiken vielleicht in seiner wunderlichen Lage, wie er noch
halb im Schlafe bei seinen Träumereien die Musen Schelte, weil sie ihm nicht
gehorchen wollen. Er wird dabei, wie er mit gleicher Laune hinzusetzt, bald
rot, bald blaß, obgleich er noch nicht zu voller Besinnung gekommen ist.
Daß hier wie schon vorher der Ausdruck ermatte, hat der Dichter selbst gefühlt,
besonders der Schluß der Strophe fällt ab. Freilich, wäre er mit diesem
Mvrgenständchen öffentlich aufgetreten, so würde es eiuen etwas wunderlichen
Eindruck gemacht haben, aber durchaus keinen schwächlichen. Als Impromptu
des um den Morgenspaziergang mit der Geliebten gekommenen Dichters in
den Straßburger Tagen verdient es alle Beachtung. Am wenigsten sollte man
seine vermeintlichen Fehler derb anstreichen und sich daraus einen Beweis zu¬
sammenflicken, daß die Verse Lenz angehören, vielmehr die wirkliche Absicht
des Dichters erkennen und seine Entschuldigung gelten lassen.

Aber B. hat an diesen Ausstellungen noch nicht genug, er nimmt nun
noch einmal das Gedicht von vorn an durch, um "auffüllige Ausdrucksweisen"
auszustechen. Da findet er denn neben dem Prosaischen "unverzeihlich"
"Philomelens Kummer." Prosaisch wäre freilich die Redeweise "es ist unver¬
zeihlich" gewesen, aber wie der Ausruf "unverzeihlich" dafür gelten soll, und
wie der darin enthaltne Gedanke treffender ausgedrückt werden könnte, sehe ich
nicht. Daß Friederike ihres Wortes und der Unruhe, worein sie ihn versetzt,
nicht gedenkt, ärgert ihn, und er spricht dies nach Wiederholung seines "Er¬
wache" in diesem Ausrufe kräftig aus. Wäre "Philomelens Kummer" wirklich
eine Umschreibung, so finden wir ähnliche bei Goethe schon früh; aber eine solche
ist es nicht, "Kummer" dentet auf den klagenden Gesang, den Klopstock einen
weinenden Ton, ein melancholisch Ach nennt; der Klaggesang der Nachtigall
läßt sich an diesem Morgen nicht vernehmen. Wenn darauf der "böse Schlummer"
unserm Kritiker für Goethe zu schwächlich dünkt, so ist "böse" im Sinne von
"leidig" hier der Stärke und der Farbe nach durchaus entsprechend. Zu den


Goethes Straßburger lyrische Gedichte

denkt er sich in seinem Armuth, zu einem festen Schlaf an. Auch das auf „tagt"
reimende „schlagt" statt „schlägt" soll die Unbehilflichkeit des Dichters zeigen,
der doch hier, wie auch sollst beim Reime, nur aus der Not eine Tugend macht.
„Schlagt" wagt er hiernach „klagt, plagt, fragt." Eine „sprachlich wie rhythmisch
ungewöhnlich harte Wortverbindung" soll in der vierten Strophe sein: „Und
wär' er von den Zehen zum Kopf von Eis." Wir haben hier aber nur
eine humoristische Umkehrung des gangbaren „vom Kopf bis zu den Zehen,"
wie Goethe auch sonst an ein paar Stellen diese volkstümliche Redeweise
frei umgestaltet hat; die Veranlassung hier „von den Zehen" vorangehen zu
lassen, lag in dem geforderten Reim und auch in dem schließenden „von Eis."
Der Vorwurf rhythmischer Härte ist vollends haltlos. Anstößiger könnte
die Verbindung scheinen „mein Bild, das halb voll Schlaf und reunend die
Musen schilt." Aber launig stellt sich der Dichter vor, der Traum zeige
ihn (sein Bild) Friederiken vielleicht in seiner wunderlichen Lage, wie er noch
halb im Schlafe bei seinen Träumereien die Musen Schelte, weil sie ihm nicht
gehorchen wollen. Er wird dabei, wie er mit gleicher Laune hinzusetzt, bald
rot, bald blaß, obgleich er noch nicht zu voller Besinnung gekommen ist.
Daß hier wie schon vorher der Ausdruck ermatte, hat der Dichter selbst gefühlt,
besonders der Schluß der Strophe fällt ab. Freilich, wäre er mit diesem
Mvrgenständchen öffentlich aufgetreten, so würde es eiuen etwas wunderlichen
Eindruck gemacht haben, aber durchaus keinen schwächlichen. Als Impromptu
des um den Morgenspaziergang mit der Geliebten gekommenen Dichters in
den Straßburger Tagen verdient es alle Beachtung. Am wenigsten sollte man
seine vermeintlichen Fehler derb anstreichen und sich daraus einen Beweis zu¬
sammenflicken, daß die Verse Lenz angehören, vielmehr die wirkliche Absicht
des Dichters erkennen und seine Entschuldigung gelten lassen.

Aber B. hat an diesen Ausstellungen noch nicht genug, er nimmt nun
noch einmal das Gedicht von vorn an durch, um „auffüllige Ausdrucksweisen"
auszustechen. Da findet er denn neben dem Prosaischen „unverzeihlich"
„Philomelens Kummer." Prosaisch wäre freilich die Redeweise „es ist unver¬
zeihlich" gewesen, aber wie der Ausruf „unverzeihlich" dafür gelten soll, und
wie der darin enthaltne Gedanke treffender ausgedrückt werden könnte, sehe ich
nicht. Daß Friederike ihres Wortes und der Unruhe, worein sie ihn versetzt,
nicht gedenkt, ärgert ihn, und er spricht dies nach Wiederholung seines „Er¬
wache" in diesem Ausrufe kräftig aus. Wäre „Philomelens Kummer" wirklich
eine Umschreibung, so finden wir ähnliche bei Goethe schon früh; aber eine solche
ist es nicht, „Kummer" dentet auf den klagenden Gesang, den Klopstock einen
weinenden Ton, ein melancholisch Ach nennt; der Klaggesang der Nachtigall
läßt sich an diesem Morgen nicht vernehmen. Wenn darauf der „böse Schlummer"
unserm Kritiker für Goethe zu schwächlich dünkt, so ist „böse" im Sinne von
„leidig" hier der Stärke und der Farbe nach durchaus entsprechend. Zu den


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[0642] Goethes Straßburger lyrische Gedichte denkt er sich in seinem Armuth, zu einem festen Schlaf an. Auch das auf „tagt" reimende „schlagt" statt „schlägt" soll die Unbehilflichkeit des Dichters zeigen, der doch hier, wie auch sollst beim Reime, nur aus der Not eine Tugend macht. „Schlagt" wagt er hiernach „klagt, plagt, fragt." Eine „sprachlich wie rhythmisch ungewöhnlich harte Wortverbindung" soll in der vierten Strophe sein: „Und wär' er von den Zehen zum Kopf von Eis." Wir haben hier aber nur eine humoristische Umkehrung des gangbaren „vom Kopf bis zu den Zehen," wie Goethe auch sonst an ein paar Stellen diese volkstümliche Redeweise frei umgestaltet hat; die Veranlassung hier „von den Zehen" vorangehen zu lassen, lag in dem geforderten Reim und auch in dem schließenden „von Eis." Der Vorwurf rhythmischer Härte ist vollends haltlos. Anstößiger könnte die Verbindung scheinen „mein Bild, das halb voll Schlaf und reunend die Musen schilt." Aber launig stellt sich der Dichter vor, der Traum zeige ihn (sein Bild) Friederiken vielleicht in seiner wunderlichen Lage, wie er noch halb im Schlafe bei seinen Träumereien die Musen Schelte, weil sie ihm nicht gehorchen wollen. Er wird dabei, wie er mit gleicher Laune hinzusetzt, bald rot, bald blaß, obgleich er noch nicht zu voller Besinnung gekommen ist. Daß hier wie schon vorher der Ausdruck ermatte, hat der Dichter selbst gefühlt, besonders der Schluß der Strophe fällt ab. Freilich, wäre er mit diesem Mvrgenständchen öffentlich aufgetreten, so würde es eiuen etwas wunderlichen Eindruck gemacht haben, aber durchaus keinen schwächlichen. Als Impromptu des um den Morgenspaziergang mit der Geliebten gekommenen Dichters in den Straßburger Tagen verdient es alle Beachtung. Am wenigsten sollte man seine vermeintlichen Fehler derb anstreichen und sich daraus einen Beweis zu¬ sammenflicken, daß die Verse Lenz angehören, vielmehr die wirkliche Absicht des Dichters erkennen und seine Entschuldigung gelten lassen. Aber B. hat an diesen Ausstellungen noch nicht genug, er nimmt nun noch einmal das Gedicht von vorn an durch, um „auffüllige Ausdrucksweisen" auszustechen. Da findet er denn neben dem Prosaischen „unverzeihlich" „Philomelens Kummer." Prosaisch wäre freilich die Redeweise „es ist unver¬ zeihlich" gewesen, aber wie der Ausruf „unverzeihlich" dafür gelten soll, und wie der darin enthaltne Gedanke treffender ausgedrückt werden könnte, sehe ich nicht. Daß Friederike ihres Wortes und der Unruhe, worein sie ihn versetzt, nicht gedenkt, ärgert ihn, und er spricht dies nach Wiederholung seines „Er¬ wache" in diesem Ausrufe kräftig aus. Wäre „Philomelens Kummer" wirklich eine Umschreibung, so finden wir ähnliche bei Goethe schon früh; aber eine solche ist es nicht, „Kummer" dentet auf den klagenden Gesang, den Klopstock einen weinenden Ton, ein melancholisch Ach nennt; der Klaggesang der Nachtigall läßt sich an diesem Morgen nicht vernehmen. Wenn darauf der „böse Schlummer" unserm Kritiker für Goethe zu schwächlich dünkt, so ist „böse" im Sinne von „leidig" hier der Stärke und der Farbe nach durchaus entsprechend. Zu den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/642>, abgerufen am 23.07.2024.