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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Straschnrger lyrische Gedichte

Mißmut launig zu bezwingen sucht, klagt selbst am Schlüsse, daß das Joch
des Reimes schwer auf ihm gelegen habe, und scherzt, Friederike solle zur Strafe
für ihr Ausbleiben nun diese Reime lesen, bei denen seine schönste Muse, sie
selbst, noch geschlafen habe. Am Anfange und ant Ende zeigt das Lied wahren
dichterischen Geist, aber in der Mitte ermattet der Ausdruck, was sich aus der
raschen Ausführung, der ärgerlichen Stimmung und dem Mangel der nach¬
bessernden Hand genügend erklärt, freilich von einem Beurteiler, der diese
Umstände übersehen will, als Beweis gegen Goethe verwandt werden kann.
Verstärkt hat ihn B- durch die offenbarste" Mißverständnisse. Statt dem
Gedankenzusammenhang des hübsch aufgebaute" Gedichtes zu folgen, das aller
Umstände gedenkt, die Friederiken wecken sollten, erhebt er unnütze Fragen
und Bedenken. Die Ursache, daß sich heute morgen leine Nachtigall hören
läßt, schreibt der unartige Dichter der Abwesenheit Friederikens zu, wie
es ähnlich in dem Saarbrücker Liede hieß, die Nachtigall sei der Geliebten
nachgeflogen. B. findet, das sei "icht bloß el" platter Gedanke, sonder"
wiederspreche mich der Äußerung der letzten Strophe: "Die Nachtigall im
Schlafe hast du versäumt," wonach diese doch gesungen haben müsse! Aber
offenbar ist Friederike "im Schlafe" um den Gesang gekommen, weil sie durch
ihr Nichterwachen die Nachtigall fern gehalten hat, die bei ihrer Altwesenheit sich
eingestellt haben würde. Man weiß, welche hohe Verehrung die Dichter der
Zeit der Nachtigall erwiesen; auch ein Bismarck gab im Almanach der deutschen
Musen auf 1775 ein Lied "an Philomelen." Berühmt ist Klopstocks den
12. Mui feiernde Ode "Bardale." B. will uns weismachen, die Nachtigall,
die wir in diesen beiden Straßburger Gedichten finden, sei erst in den Jahren
1774 oder 1775 in Goethes Lieder eingetreten, und auch damals noch nicht in
Liebeslieder; er habe überhaupt diese sentimentale Sängerin nicht geliebt, sei"
Liebling sei die Lerche gewesen. Aber die Lerche nennt er nur wegen ihres
hohen Fluges und ihrer noch "da droben" erschallenden Stimme; der Nachti¬
gall reizender Gesaug zog ihn an, und das Sesenheimer Nachtigallwäldchen
wird Goethe anch wegen ihres Gesanges geliebt haben. Weiter fragt B. bei
den Worten "Horch, Philomelens Kummer schweigt heute still," was die Auf¬
forderung zu horchen bedeute, dn die Nachtigall schweige. Der Dichter hat aber
vorher das so leicht um Morgen weckende Zwitschern von Sperlingen und
Schwalben ("der Vögel sanft Geflüster") gehört, jetzt will er horchen, ob sich denn
keine Nachtigall vernehmen lasse. In der dritten Strophe weiß B. nicht, warum
betont werde, daß der Busen der neben ihr schlafenden Schwester für Friederiken
schlage. Auch das Schlagen ihres Busens, meint der Dichter, müßte sie
wecken, wobei er ihrer innige" Schwesterliebe gedenkt. Doch ärgert es ihn,
weil sie sich so wohl fühlt, daß sie, statt zu erwache", immer fester einschläft,
entschläft, wie es besonders bezeichnend heißt. Wahrend sonst am Morgen
der Schlaf leiser wird und endlich in Erwache" übergeht, setzt sie eben, so


Grenzboten I 1892 80
Goethes Straschnrger lyrische Gedichte

Mißmut launig zu bezwingen sucht, klagt selbst am Schlüsse, daß das Joch
des Reimes schwer auf ihm gelegen habe, und scherzt, Friederike solle zur Strafe
für ihr Ausbleiben nun diese Reime lesen, bei denen seine schönste Muse, sie
selbst, noch geschlafen habe. Am Anfange und ant Ende zeigt das Lied wahren
dichterischen Geist, aber in der Mitte ermattet der Ausdruck, was sich aus der
raschen Ausführung, der ärgerlichen Stimmung und dem Mangel der nach¬
bessernden Hand genügend erklärt, freilich von einem Beurteiler, der diese
Umstände übersehen will, als Beweis gegen Goethe verwandt werden kann.
Verstärkt hat ihn B- durch die offenbarste» Mißverständnisse. Statt dem
Gedankenzusammenhang des hübsch aufgebaute» Gedichtes zu folgen, das aller
Umstände gedenkt, die Friederiken wecken sollten, erhebt er unnütze Fragen
und Bedenken. Die Ursache, daß sich heute morgen leine Nachtigall hören
läßt, schreibt der unartige Dichter der Abwesenheit Friederikens zu, wie
es ähnlich in dem Saarbrücker Liede hieß, die Nachtigall sei der Geliebten
nachgeflogen. B. findet, das sei »icht bloß el» platter Gedanke, sonder»
wiederspreche mich der Äußerung der letzten Strophe: „Die Nachtigall im
Schlafe hast du versäumt," wonach diese doch gesungen haben müsse! Aber
offenbar ist Friederike „im Schlafe" um den Gesang gekommen, weil sie durch
ihr Nichterwachen die Nachtigall fern gehalten hat, die bei ihrer Altwesenheit sich
eingestellt haben würde. Man weiß, welche hohe Verehrung die Dichter der
Zeit der Nachtigall erwiesen; auch ein Bismarck gab im Almanach der deutschen
Musen auf 1775 ein Lied „an Philomelen." Berühmt ist Klopstocks den
12. Mui feiernde Ode „Bardale." B. will uns weismachen, die Nachtigall,
die wir in diesen beiden Straßburger Gedichten finden, sei erst in den Jahren
1774 oder 1775 in Goethes Lieder eingetreten, und auch damals noch nicht in
Liebeslieder; er habe überhaupt diese sentimentale Sängerin nicht geliebt, sei»
Liebling sei die Lerche gewesen. Aber die Lerche nennt er nur wegen ihres
hohen Fluges und ihrer noch „da droben" erschallenden Stimme; der Nachti¬
gall reizender Gesaug zog ihn an, und das Sesenheimer Nachtigallwäldchen
wird Goethe anch wegen ihres Gesanges geliebt haben. Weiter fragt B. bei
den Worten „Horch, Philomelens Kummer schweigt heute still," was die Auf¬
forderung zu horchen bedeute, dn die Nachtigall schweige. Der Dichter hat aber
vorher das so leicht um Morgen weckende Zwitschern von Sperlingen und
Schwalben („der Vögel sanft Geflüster") gehört, jetzt will er horchen, ob sich denn
keine Nachtigall vernehmen lasse. In der dritten Strophe weiß B. nicht, warum
betont werde, daß der Busen der neben ihr schlafenden Schwester für Friederiken
schlage. Auch das Schlagen ihres Busens, meint der Dichter, müßte sie
wecken, wobei er ihrer innige» Schwesterliebe gedenkt. Doch ärgert es ihn,
weil sie sich so wohl fühlt, daß sie, statt zu erwache», immer fester einschläft,
entschläft, wie es besonders bezeichnend heißt. Wahrend sonst am Morgen
der Schlaf leiser wird und endlich in Erwache» übergeht, setzt sie eben, so


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[0641] Goethes Straschnrger lyrische Gedichte Mißmut launig zu bezwingen sucht, klagt selbst am Schlüsse, daß das Joch des Reimes schwer auf ihm gelegen habe, und scherzt, Friederike solle zur Strafe für ihr Ausbleiben nun diese Reime lesen, bei denen seine schönste Muse, sie selbst, noch geschlafen habe. Am Anfange und ant Ende zeigt das Lied wahren dichterischen Geist, aber in der Mitte ermattet der Ausdruck, was sich aus der raschen Ausführung, der ärgerlichen Stimmung und dem Mangel der nach¬ bessernden Hand genügend erklärt, freilich von einem Beurteiler, der diese Umstände übersehen will, als Beweis gegen Goethe verwandt werden kann. Verstärkt hat ihn B- durch die offenbarste» Mißverständnisse. Statt dem Gedankenzusammenhang des hübsch aufgebaute» Gedichtes zu folgen, das aller Umstände gedenkt, die Friederiken wecken sollten, erhebt er unnütze Fragen und Bedenken. Die Ursache, daß sich heute morgen leine Nachtigall hören läßt, schreibt der unartige Dichter der Abwesenheit Friederikens zu, wie es ähnlich in dem Saarbrücker Liede hieß, die Nachtigall sei der Geliebten nachgeflogen. B. findet, das sei »icht bloß el» platter Gedanke, sonder» wiederspreche mich der Äußerung der letzten Strophe: „Die Nachtigall im Schlafe hast du versäumt," wonach diese doch gesungen haben müsse! Aber offenbar ist Friederike „im Schlafe" um den Gesang gekommen, weil sie durch ihr Nichterwachen die Nachtigall fern gehalten hat, die bei ihrer Altwesenheit sich eingestellt haben würde. Man weiß, welche hohe Verehrung die Dichter der Zeit der Nachtigall erwiesen; auch ein Bismarck gab im Almanach der deutschen Musen auf 1775 ein Lied „an Philomelen." Berühmt ist Klopstocks den 12. Mui feiernde Ode „Bardale." B. will uns weismachen, die Nachtigall, die wir in diesen beiden Straßburger Gedichten finden, sei erst in den Jahren 1774 oder 1775 in Goethes Lieder eingetreten, und auch damals noch nicht in Liebeslieder; er habe überhaupt diese sentimentale Sängerin nicht geliebt, sei» Liebling sei die Lerche gewesen. Aber die Lerche nennt er nur wegen ihres hohen Fluges und ihrer noch „da droben" erschallenden Stimme; der Nachti¬ gall reizender Gesaug zog ihn an, und das Sesenheimer Nachtigallwäldchen wird Goethe anch wegen ihres Gesanges geliebt haben. Weiter fragt B. bei den Worten „Horch, Philomelens Kummer schweigt heute still," was die Auf¬ forderung zu horchen bedeute, dn die Nachtigall schweige. Der Dichter hat aber vorher das so leicht um Morgen weckende Zwitschern von Sperlingen und Schwalben („der Vögel sanft Geflüster") gehört, jetzt will er horchen, ob sich denn keine Nachtigall vernehmen lasse. In der dritten Strophe weiß B. nicht, warum betont werde, daß der Busen der neben ihr schlafenden Schwester für Friederiken schlage. Auch das Schlagen ihres Busens, meint der Dichter, müßte sie wecken, wobei er ihrer innige» Schwesterliebe gedenkt. Doch ärgert es ihn, weil sie sich so wohl fühlt, daß sie, statt zu erwache», immer fester einschläft, entschläft, wie es besonders bezeichnend heißt. Wahrend sonst am Morgen der Schlaf leiser wird und endlich in Erwache» übergeht, setzt sie eben, so Grenzboten I 1892 80

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/641>, abgerufen am 23.07.2024.