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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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das er nicht wenig beneidet wurde. Und nun sollte er sich am Polterabend
Fräulein Hermensteins teilnahmlos verhalten, er, der beste Polterer der Stadt?
Es ging nicht, wirklich nicht, wir Jüngern sahen das nur zu deutlich ein,
und wir sahen uns auch schon in der düstersten Zelle des Rathauses, zu verschärfter,
d. h. lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt.

Wir Kleinen konnten wohl auch wie der Wind laufen; doch gegen
Bruder Heinrich waren wir ungeschickte Tölpel. Mit einem merkwürdig
gewandten Körper begabt, verstand er es, mit indianerartiger Geschicklichkeit
zu verschwinden. Andre Jungen machen Lärm, wenn sie laufen und
klettern; er glitt unhörbar über eine Mauer oder schnellte sich, wie
von Federn getragen, so außer Schußweite, daß es keinem Menschen ein¬
fiel, ihn zu verfolgen. Deshalb wußten wir auch genau, daß Polizeidiener
Weber trotz seiner langen Beine Heinrich niemals einfangen würde. Wenn
jemand erwischt wurde, so waren wir es, das wußten wir sehr Wohl; dennoch
fiel es uns keinen Augenblick ein, diese Gelegenheit, unsern Mut zu beweisen,
unbenutzt vorübergehen zu lassen. Heinrich konnte uns auch gar nicht ent¬
behren, denn wir trugen die meisten Wurfgeschosse und mußten sie ihm nachher
zulangen. Kam doch auf sichres Zielen und einen geschickten Wurf sehr viel
an. Gerade vor die Hausthür, vielleicht auch an sie selbst, sollten die Scherben
fliegen, niemals an die Fenster. Heinrich würde wegen solcher Ungeschicklichkeit
sich selbst verachtet und vielleicht niemals wieder gepoltert haben. Deshalb
begnügten wir Kleinen n"s auch stets mit leeren Tintenflaschen und andern
leicht zu werfenden Sachen, die auch ihr Spektakelchen machten und doch
wenig Unheil anrichten konnten.

Fräulein Hermensteins Hochzeit war Ende Oktober. Diese Jahreszeit
hatte, der dunkeln Abende wegen, ihr Angenehmes. Straßenbeleuchtung kannte
unser Städtchen natürlich noch nicht, und es war zu hoffen, daß uns Weber
gar nicht sehen würde. In diesem Sinne äußerte ich mich gegen Jürgen,
der mir achselzuckend erwiderte, daß die dunkeln Abende für den Polterabend
allerdings sehr vorteilhaft wären, für das Gefängnis aber nicht.

Wie so? fragte ich mit einem Gefühl banger Ahnung.

Jürgen versuchte ein gleichgiltiges Gesicht zu machen. Man kriegt gar
kein Licht im Gefängnis!

Gar kein Licht! Muß man immer im Dunkeln sitzen?

Jürgen nickte finster, und ich wurde sehr nachdenklich. Jürgen, fragte
ich besorgt, wir dürfen doch Weihnachtsabend nach Hause gehn? Das wird
Weber doch erlauben?

Jürgen schüttelte den Kopf. Wer gefangen ist, ist gefangen!

Aber unser Weihnachtsbaum, Jürgen, und die Geschenke, und das Kuchen¬
bäcker?

Jürgen putzte sich lange die Nase, dann erzählte er mir, indem er mühsam


das er nicht wenig beneidet wurde. Und nun sollte er sich am Polterabend
Fräulein Hermensteins teilnahmlos verhalten, er, der beste Polterer der Stadt?
Es ging nicht, wirklich nicht, wir Jüngern sahen das nur zu deutlich ein,
und wir sahen uns auch schon in der düstersten Zelle des Rathauses, zu verschärfter,
d. h. lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt.

Wir Kleinen konnten wohl auch wie der Wind laufen; doch gegen
Bruder Heinrich waren wir ungeschickte Tölpel. Mit einem merkwürdig
gewandten Körper begabt, verstand er es, mit indianerartiger Geschicklichkeit
zu verschwinden. Andre Jungen machen Lärm, wenn sie laufen und
klettern; er glitt unhörbar über eine Mauer oder schnellte sich, wie
von Federn getragen, so außer Schußweite, daß es keinem Menschen ein¬
fiel, ihn zu verfolgen. Deshalb wußten wir auch genau, daß Polizeidiener
Weber trotz seiner langen Beine Heinrich niemals einfangen würde. Wenn
jemand erwischt wurde, so waren wir es, das wußten wir sehr Wohl; dennoch
fiel es uns keinen Augenblick ein, diese Gelegenheit, unsern Mut zu beweisen,
unbenutzt vorübergehen zu lassen. Heinrich konnte uns auch gar nicht ent¬
behren, denn wir trugen die meisten Wurfgeschosse und mußten sie ihm nachher
zulangen. Kam doch auf sichres Zielen und einen geschickten Wurf sehr viel
an. Gerade vor die Hausthür, vielleicht auch an sie selbst, sollten die Scherben
fliegen, niemals an die Fenster. Heinrich würde wegen solcher Ungeschicklichkeit
sich selbst verachtet und vielleicht niemals wieder gepoltert haben. Deshalb
begnügten wir Kleinen n»s auch stets mit leeren Tintenflaschen und andern
leicht zu werfenden Sachen, die auch ihr Spektakelchen machten und doch
wenig Unheil anrichten konnten.

Fräulein Hermensteins Hochzeit war Ende Oktober. Diese Jahreszeit
hatte, der dunkeln Abende wegen, ihr Angenehmes. Straßenbeleuchtung kannte
unser Städtchen natürlich noch nicht, und es war zu hoffen, daß uns Weber
gar nicht sehen würde. In diesem Sinne äußerte ich mich gegen Jürgen,
der mir achselzuckend erwiderte, daß die dunkeln Abende für den Polterabend
allerdings sehr vorteilhaft wären, für das Gefängnis aber nicht.

Wie so? fragte ich mit einem Gefühl banger Ahnung.

Jürgen versuchte ein gleichgiltiges Gesicht zu machen. Man kriegt gar
kein Licht im Gefängnis!

Gar kein Licht! Muß man immer im Dunkeln sitzen?

Jürgen nickte finster, und ich wurde sehr nachdenklich. Jürgen, fragte
ich besorgt, wir dürfen doch Weihnachtsabend nach Hause gehn? Das wird
Weber doch erlauben?

Jürgen schüttelte den Kopf. Wer gefangen ist, ist gefangen!

Aber unser Weihnachtsbaum, Jürgen, und die Geschenke, und das Kuchen¬
bäcker?

Jürgen putzte sich lange die Nase, dann erzählte er mir, indem er mühsam


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[0559] das er nicht wenig beneidet wurde. Und nun sollte er sich am Polterabend Fräulein Hermensteins teilnahmlos verhalten, er, der beste Polterer der Stadt? Es ging nicht, wirklich nicht, wir Jüngern sahen das nur zu deutlich ein, und wir sahen uns auch schon in der düstersten Zelle des Rathauses, zu verschärfter, d. h. lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt. Wir Kleinen konnten wohl auch wie der Wind laufen; doch gegen Bruder Heinrich waren wir ungeschickte Tölpel. Mit einem merkwürdig gewandten Körper begabt, verstand er es, mit indianerartiger Geschicklichkeit zu verschwinden. Andre Jungen machen Lärm, wenn sie laufen und klettern; er glitt unhörbar über eine Mauer oder schnellte sich, wie von Federn getragen, so außer Schußweite, daß es keinem Menschen ein¬ fiel, ihn zu verfolgen. Deshalb wußten wir auch genau, daß Polizeidiener Weber trotz seiner langen Beine Heinrich niemals einfangen würde. Wenn jemand erwischt wurde, so waren wir es, das wußten wir sehr Wohl; dennoch fiel es uns keinen Augenblick ein, diese Gelegenheit, unsern Mut zu beweisen, unbenutzt vorübergehen zu lassen. Heinrich konnte uns auch gar nicht ent¬ behren, denn wir trugen die meisten Wurfgeschosse und mußten sie ihm nachher zulangen. Kam doch auf sichres Zielen und einen geschickten Wurf sehr viel an. Gerade vor die Hausthür, vielleicht auch an sie selbst, sollten die Scherben fliegen, niemals an die Fenster. Heinrich würde wegen solcher Ungeschicklichkeit sich selbst verachtet und vielleicht niemals wieder gepoltert haben. Deshalb begnügten wir Kleinen n»s auch stets mit leeren Tintenflaschen und andern leicht zu werfenden Sachen, die auch ihr Spektakelchen machten und doch wenig Unheil anrichten konnten. Fräulein Hermensteins Hochzeit war Ende Oktober. Diese Jahreszeit hatte, der dunkeln Abende wegen, ihr Angenehmes. Straßenbeleuchtung kannte unser Städtchen natürlich noch nicht, und es war zu hoffen, daß uns Weber gar nicht sehen würde. In diesem Sinne äußerte ich mich gegen Jürgen, der mir achselzuckend erwiderte, daß die dunkeln Abende für den Polterabend allerdings sehr vorteilhaft wären, für das Gefängnis aber nicht. Wie so? fragte ich mit einem Gefühl banger Ahnung. Jürgen versuchte ein gleichgiltiges Gesicht zu machen. Man kriegt gar kein Licht im Gefängnis! Gar kein Licht! Muß man immer im Dunkeln sitzen? Jürgen nickte finster, und ich wurde sehr nachdenklich. Jürgen, fragte ich besorgt, wir dürfen doch Weihnachtsabend nach Hause gehn? Das wird Weber doch erlauben? Jürgen schüttelte den Kopf. Wer gefangen ist, ist gefangen! Aber unser Weihnachtsbaum, Jürgen, und die Geschenke, und das Kuchen¬ bäcker? Jürgen putzte sich lange die Nase, dann erzählte er mir, indem er mühsam

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/559>, abgerufen am 23.07.2024.