Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Philipp Albert Stapfer

dachte. In einem Briefe vom Jahre 1815 spricht er sich mit Bitterkeit aus
über "eine Gesellschaft, wo man aus der Philisterei eine Art von Spie߬
bürgerehre macht und gemeine, pöbelhafte Urteile und Empfindungen wohl gar
verdienstlich glaubt, weil man ohne Delikatesse und mit Grobheit zur Schau
trügt, was man anderwärts aus Zartgefühl und Schicklichkeitsgefühl so sehr
als möglich verbirgt. Ich sträube mich seit Jahren, aber ohne Erfolg, gegen
die traurige Überzeugung, daß die obern, leitenden Volksklassen in unserm
Lande der Ehre, das Haupt eines biedern freiheitsliebenden Volkes zu sein, sehr
unwürdig waren." Über die Ursachen dieser Allsartung lasse sich ein Buch
schreiben. Der lange Friede habe entnervt, ohne Arbeit und Anstregung seien
die Patrizier in den Besitz aller Stellen gelangt, für andre sei das willenlose
Sichauschmiegeu an einflußreiche Familien das Mittel gewesen, emporzukommen.
Er schildert umständlich die Vernachlässigung aller geistigen Interessen ("in Bern
fast ausschließlich französische Leserei"), Reislaufen, Geldspekulationen als die
natürlichen Ursachen des Mangels an fähigen, charaktervoller Männern, den die
Revolution und die Ereignisse nach 1813 aus eine so klägliche Art vor den
Augen Europas enthüllt hätten. Daß es in Zürich besser stehe, sei der de¬
mokratischen Verfassung und der Nähe Deutschlands zuzuschreiben. Zu solcher
Abneigung gegen schweizerisches Wesen kam aber noch ein Umstand, der Stapfer
zur Niederlassung in Frankreich bestimmte: er war mit einer Französin ver¬
heiratet. Ließe sich statistisch feststelle", wie viele Deutsche dem Vaterlande
verloren gehen durch Eheschließung mit Französinnen, Engländerinnen,
Russinnen, Polinnen u. s. w., wir würden überraschende Ziffern erhalten,
überraschend zumal im Vergleich mit Fälle" eines umgekehrten Verhältnisses.
Wie lange dauert es in der Regel, bis nach Deutschland eingewanderte Aus¬
länder, Männer und ganz besonders Frauen, die Einbürgerung nicht als ein
Hinabsteigen ansehen! Auch Stapfers Söhne wurden Franzosen; Guizot war
>hr Hauslehrer, einer übersetzte den Faust ins Französische.

Der Vater selbst freilich bleibt beidlebig, unterhält einen lebhaften Brief¬
wechsel nach beiden Seiten, vor allen mit Usteri und Laharpe und mit vielen
andern Gelehrten und Staatsmännern, darunter beiden Humboldt, Eichhorn,
Ölsner. Ch. Bitt. Bonstetten, den Monods, Zschokke, Volneh u. a., seine
Thätigkeit für die Sache des Protestantismus bringt ihn wie mit Aug. de
Stael auch mit Hengstenberg und Tholuck in Verkehr. Natürlich laufen dabei
Urteile über die zeitgenössische Litteratur mit unter, von denen eins über¬
raschend klingt; die deutsche Litteratur, schreibt er 1808 um Laharpe, sei viel¬
leicht noch uicht <z" äL0et>äöue,v, nrilis s" clolirs. Goethe und die Schlegel auf
der einen Seite, die Ultra-Kantianer auf der andern hätten die Sprache wahr¬
haft entstellt und die Geistesrichtung verdorben! Mehr einverstanden kann
mau mit den Aussprüchen über Johannes v. Müller sein, die sich überein¬
stimmend in Briefen an Laharpe und Usteri finden. Er erkennt die Gelehr-


Philipp Albert Stapfer

dachte. In einem Briefe vom Jahre 1815 spricht er sich mit Bitterkeit aus
über „eine Gesellschaft, wo man aus der Philisterei eine Art von Spie߬
bürgerehre macht und gemeine, pöbelhafte Urteile und Empfindungen wohl gar
verdienstlich glaubt, weil man ohne Delikatesse und mit Grobheit zur Schau
trügt, was man anderwärts aus Zartgefühl und Schicklichkeitsgefühl so sehr
als möglich verbirgt. Ich sträube mich seit Jahren, aber ohne Erfolg, gegen
die traurige Überzeugung, daß die obern, leitenden Volksklassen in unserm
Lande der Ehre, das Haupt eines biedern freiheitsliebenden Volkes zu sein, sehr
unwürdig waren." Über die Ursachen dieser Allsartung lasse sich ein Buch
schreiben. Der lange Friede habe entnervt, ohne Arbeit und Anstregung seien
die Patrizier in den Besitz aller Stellen gelangt, für andre sei das willenlose
Sichauschmiegeu an einflußreiche Familien das Mittel gewesen, emporzukommen.
Er schildert umständlich die Vernachlässigung aller geistigen Interessen („in Bern
fast ausschließlich französische Leserei"), Reislaufen, Geldspekulationen als die
natürlichen Ursachen des Mangels an fähigen, charaktervoller Männern, den die
Revolution und die Ereignisse nach 1813 aus eine so klägliche Art vor den
Augen Europas enthüllt hätten. Daß es in Zürich besser stehe, sei der de¬
mokratischen Verfassung und der Nähe Deutschlands zuzuschreiben. Zu solcher
Abneigung gegen schweizerisches Wesen kam aber noch ein Umstand, der Stapfer
zur Niederlassung in Frankreich bestimmte: er war mit einer Französin ver¬
heiratet. Ließe sich statistisch feststelle», wie viele Deutsche dem Vaterlande
verloren gehen durch Eheschließung mit Französinnen, Engländerinnen,
Russinnen, Polinnen u. s. w., wir würden überraschende Ziffern erhalten,
überraschend zumal im Vergleich mit Fälle» eines umgekehrten Verhältnisses.
Wie lange dauert es in der Regel, bis nach Deutschland eingewanderte Aus¬
länder, Männer und ganz besonders Frauen, die Einbürgerung nicht als ein
Hinabsteigen ansehen! Auch Stapfers Söhne wurden Franzosen; Guizot war
>hr Hauslehrer, einer übersetzte den Faust ins Französische.

Der Vater selbst freilich bleibt beidlebig, unterhält einen lebhaften Brief¬
wechsel nach beiden Seiten, vor allen mit Usteri und Laharpe und mit vielen
andern Gelehrten und Staatsmännern, darunter beiden Humboldt, Eichhorn,
Ölsner. Ch. Bitt. Bonstetten, den Monods, Zschokke, Volneh u. a., seine
Thätigkeit für die Sache des Protestantismus bringt ihn wie mit Aug. de
Stael auch mit Hengstenberg und Tholuck in Verkehr. Natürlich laufen dabei
Urteile über die zeitgenössische Litteratur mit unter, von denen eins über¬
raschend klingt; die deutsche Litteratur, schreibt er 1808 um Laharpe, sei viel¬
leicht noch uicht <z» äL0et>äöue,v, nrilis s» clolirs. Goethe und die Schlegel auf
der einen Seite, die Ultra-Kantianer auf der andern hätten die Sprache wahr¬
haft entstellt und die Geistesrichtung verdorben! Mehr einverstanden kann
mau mit den Aussprüchen über Johannes v. Müller sein, die sich überein¬
stimmend in Briefen an Laharpe und Usteri finden. Er erkennt die Gelehr-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0547" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211715"/>
          <fw type="header" place="top"> Philipp Albert Stapfer</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1591" prev="#ID_1590"> dachte. In einem Briefe vom Jahre 1815 spricht er sich mit Bitterkeit aus<lb/>
über &#x201E;eine Gesellschaft, wo man aus der Philisterei eine Art von Spie߬<lb/>
bürgerehre macht und gemeine, pöbelhafte Urteile und Empfindungen wohl gar<lb/>
verdienstlich glaubt, weil man ohne Delikatesse und mit Grobheit zur Schau<lb/>
trügt, was man anderwärts aus Zartgefühl und Schicklichkeitsgefühl so sehr<lb/>
als möglich verbirgt. Ich sträube mich seit Jahren, aber ohne Erfolg, gegen<lb/>
die traurige Überzeugung, daß die obern, leitenden Volksklassen in unserm<lb/>
Lande der Ehre, das Haupt eines biedern freiheitsliebenden Volkes zu sein, sehr<lb/>
unwürdig waren." Über die Ursachen dieser Allsartung lasse sich ein Buch<lb/>
schreiben. Der lange Friede habe entnervt, ohne Arbeit und Anstregung seien<lb/>
die Patrizier in den Besitz aller Stellen gelangt, für andre sei das willenlose<lb/>
Sichauschmiegeu an einflußreiche Familien das Mittel gewesen, emporzukommen.<lb/>
Er schildert umständlich die Vernachlässigung aller geistigen Interessen (&#x201E;in Bern<lb/>
fast ausschließlich französische Leserei"), Reislaufen, Geldspekulationen als die<lb/>
natürlichen Ursachen des Mangels an fähigen, charaktervoller Männern, den die<lb/>
Revolution und die Ereignisse nach 1813 aus eine so klägliche Art vor den<lb/>
Augen Europas enthüllt hätten. Daß es in Zürich besser stehe, sei der de¬<lb/>
mokratischen Verfassung und der Nähe Deutschlands zuzuschreiben. Zu solcher<lb/>
Abneigung gegen schweizerisches Wesen kam aber noch ein Umstand, der Stapfer<lb/>
zur Niederlassung in Frankreich bestimmte: er war mit einer Französin ver¬<lb/>
heiratet. Ließe sich statistisch feststelle», wie viele Deutsche dem Vaterlande<lb/>
verloren gehen durch Eheschließung mit Französinnen, Engländerinnen,<lb/>
Russinnen, Polinnen u. s. w., wir würden überraschende Ziffern erhalten,<lb/>
überraschend zumal im Vergleich mit Fälle» eines umgekehrten Verhältnisses.<lb/>
Wie lange dauert es in der Regel, bis nach Deutschland eingewanderte Aus¬<lb/>
länder, Männer und ganz besonders Frauen, die Einbürgerung nicht als ein<lb/>
Hinabsteigen ansehen! Auch Stapfers Söhne wurden Franzosen; Guizot war<lb/>
&gt;hr Hauslehrer, einer übersetzte den Faust ins Französische.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1592" next="#ID_1593"> Der Vater selbst freilich bleibt beidlebig, unterhält einen lebhaften Brief¬<lb/>
wechsel nach beiden Seiten, vor allen mit Usteri und Laharpe und mit vielen<lb/>
andern Gelehrten und Staatsmännern, darunter beiden Humboldt, Eichhorn,<lb/>
Ölsner. Ch. Bitt. Bonstetten, den Monods, Zschokke, Volneh u. a., seine<lb/>
Thätigkeit für die Sache des Protestantismus bringt ihn wie mit Aug. de<lb/>
Stael auch mit Hengstenberg und Tholuck in Verkehr. Natürlich laufen dabei<lb/>
Urteile über die zeitgenössische Litteratur mit unter, von denen eins über¬<lb/>
raschend klingt; die deutsche Litteratur, schreibt er 1808 um Laharpe, sei viel¬<lb/>
leicht noch uicht &lt;z» äL0et&gt;äöue,v, nrilis s» clolirs. Goethe und die Schlegel auf<lb/>
der einen Seite, die Ultra-Kantianer auf der andern hätten die Sprache wahr¬<lb/>
haft entstellt und die Geistesrichtung verdorben! Mehr einverstanden kann<lb/>
mau mit den Aussprüchen über Johannes v. Müller sein, die sich überein¬<lb/>
stimmend in Briefen an Laharpe und Usteri finden.  Er erkennt die Gelehr-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0547] Philipp Albert Stapfer dachte. In einem Briefe vom Jahre 1815 spricht er sich mit Bitterkeit aus über „eine Gesellschaft, wo man aus der Philisterei eine Art von Spie߬ bürgerehre macht und gemeine, pöbelhafte Urteile und Empfindungen wohl gar verdienstlich glaubt, weil man ohne Delikatesse und mit Grobheit zur Schau trügt, was man anderwärts aus Zartgefühl und Schicklichkeitsgefühl so sehr als möglich verbirgt. Ich sträube mich seit Jahren, aber ohne Erfolg, gegen die traurige Überzeugung, daß die obern, leitenden Volksklassen in unserm Lande der Ehre, das Haupt eines biedern freiheitsliebenden Volkes zu sein, sehr unwürdig waren." Über die Ursachen dieser Allsartung lasse sich ein Buch schreiben. Der lange Friede habe entnervt, ohne Arbeit und Anstregung seien die Patrizier in den Besitz aller Stellen gelangt, für andre sei das willenlose Sichauschmiegeu an einflußreiche Familien das Mittel gewesen, emporzukommen. Er schildert umständlich die Vernachlässigung aller geistigen Interessen („in Bern fast ausschließlich französische Leserei"), Reislaufen, Geldspekulationen als die natürlichen Ursachen des Mangels an fähigen, charaktervoller Männern, den die Revolution und die Ereignisse nach 1813 aus eine so klägliche Art vor den Augen Europas enthüllt hätten. Daß es in Zürich besser stehe, sei der de¬ mokratischen Verfassung und der Nähe Deutschlands zuzuschreiben. Zu solcher Abneigung gegen schweizerisches Wesen kam aber noch ein Umstand, der Stapfer zur Niederlassung in Frankreich bestimmte: er war mit einer Französin ver¬ heiratet. Ließe sich statistisch feststelle», wie viele Deutsche dem Vaterlande verloren gehen durch Eheschließung mit Französinnen, Engländerinnen, Russinnen, Polinnen u. s. w., wir würden überraschende Ziffern erhalten, überraschend zumal im Vergleich mit Fälle» eines umgekehrten Verhältnisses. Wie lange dauert es in der Regel, bis nach Deutschland eingewanderte Aus¬ länder, Männer und ganz besonders Frauen, die Einbürgerung nicht als ein Hinabsteigen ansehen! Auch Stapfers Söhne wurden Franzosen; Guizot war >hr Hauslehrer, einer übersetzte den Faust ins Französische. Der Vater selbst freilich bleibt beidlebig, unterhält einen lebhaften Brief¬ wechsel nach beiden Seiten, vor allen mit Usteri und Laharpe und mit vielen andern Gelehrten und Staatsmännern, darunter beiden Humboldt, Eichhorn, Ölsner. Ch. Bitt. Bonstetten, den Monods, Zschokke, Volneh u. a., seine Thätigkeit für die Sache des Protestantismus bringt ihn wie mit Aug. de Stael auch mit Hengstenberg und Tholuck in Verkehr. Natürlich laufen dabei Urteile über die zeitgenössische Litteratur mit unter, von denen eins über¬ raschend klingt; die deutsche Litteratur, schreibt er 1808 um Laharpe, sei viel¬ leicht noch uicht <z» äL0et>äöue,v, nrilis s» clolirs. Goethe und die Schlegel auf der einen Seite, die Ultra-Kantianer auf der andern hätten die Sprache wahr¬ haft entstellt und die Geistesrichtung verdorben! Mehr einverstanden kann mau mit den Aussprüchen über Johannes v. Müller sein, die sich überein¬ stimmend in Briefen an Laharpe und Usteri finden. Er erkennt die Gelehr-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/547
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/547>, abgerufen am 23.07.2024.