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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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fällt, Arbeit zu finden, so ein heruutergekommner Schelm gnr keine Aussicht
hat, daß er höchstens hinausgeworfen werden würde, wenn er sich einem
Hauswirt als Mieter vorstellen wollte, daß ihm also nach Verbüßung seiner
Haft, wenn er sich nicht aufhängen will, gar nichts anders übrig bleiben wird,
als sich wieder bettelnd oder fechtend herumzutreiben, falls er es nicht vor¬
zieht, sich durch Einschlagen eines Schaufensters das Recht auf die Rückkehr
ins Gefängnis zu erzwingen; aber der Paragraph steht einmal da, und so
muß denn der Mann verurteilt werden. Daß die Verurteilung ungerecht und
grausam ist, kommt hier nicht in Betracht. Wir haben nur das eine hervor¬
zuheben, daß sie wegen eines Vergehens verhängt wird, das zu unterlassen
unmöglich ist, und daß, wenn sich dergleichen Verurteilungen häufen (was
bekanntlich auch in andern Gebieten des Strafrechts geschieht), die Strafrechts¬
pflege ihren Sinn und ihre natürliche Grundlage verliert. Den Zweck, durch
Abschreckung von Übertretungen die öffentliche Ordnung und Sicherheit auf¬
recht zu erhalten, erfüllt die Strafrechtspflege nur dann, wenn kein Übertreter
des Gesetzes, der entdeckt wird, der Strafe entgeht, und wenn nichts Unmög¬
liches geboten wird. Mit der Möglichkeit der Beobachtung des Gesetzes hört
dessen verpflichtende Kraft, und mit einer nach zehntcmsenden zählenden Menge
der Übertretungen die Möglichkeit feiner durchgreifenden Anwendung auf. Die
Verurteilung erscheint dann nicht mehr als unabwendbare Folge der Über¬
tretung, sondern als ein individuelles Unglück, dessen möglicher Eintritt so
wenig von der Übertretung abschreckt, wie der mögliche Katarrh vom Besuch
eines Balles; mit der Furcht wie mit der Ehrfurcht vor dem Gesetz ists
dann vorbei.

Ein Recht auf Arbeit giebt es ursprünglich so wenig wie irgend ein
anders angebornes Recht, aber der Staat kann es gleich andern positiven
Rechten schaffen, und indem er Bettel, Landstreichertum und Obdachlosigkeit
verbietet, hat er es schon geschaffen. Eine Rechtsordnung, die den Satz n-et,
>mxo88it)i1ig. nemo tonewr nicht berücksichtigen wollte, würde ihre Daseinsberech¬
tigung preisgeben. Verpflichtet der Staat jeden Mittellosen zur Arbeit, dann muß
er, das hat schon I. G. Fichte gesagt, auch einem jeden Arbeit verschaffen.
Auf dem gegenwärtigen Stundpnnkte stehen zu bleiben, ist ihm unmöglich;
er muß entweder zurück oder vorwärts, entweder das Betteln und Vagabun¬
diren gestatten oder für jedermann Arbeit schaffen. Man pflegt nun zwar
einzuwenden, die Vagabunden seien nicht sowohl arbeitslos als arbeitsschen
und verdienten daher die Strafe. Allein der Beweis der Arbeitsscheu ist gar
nicht zu erbringen, so lange der Staat nicht Arbeit schafft, zumal wenn er
gar, wie das diesen Winter geschehen ist, ans seinen Werkstätten noch eine
Menge Arbeiter entläßt und dadurch erklärt, daß das Angebot von Arbeit
die Nachfrage übersteigt. Der Einwurf trifft also den Gegenstand gar nicht.
Dazu richtet seine Beachtung wirtschaftlichen und sozialen Schaden an. Daß


fällt, Arbeit zu finden, so ein heruutergekommner Schelm gnr keine Aussicht
hat, daß er höchstens hinausgeworfen werden würde, wenn er sich einem
Hauswirt als Mieter vorstellen wollte, daß ihm also nach Verbüßung seiner
Haft, wenn er sich nicht aufhängen will, gar nichts anders übrig bleiben wird,
als sich wieder bettelnd oder fechtend herumzutreiben, falls er es nicht vor¬
zieht, sich durch Einschlagen eines Schaufensters das Recht auf die Rückkehr
ins Gefängnis zu erzwingen; aber der Paragraph steht einmal da, und so
muß denn der Mann verurteilt werden. Daß die Verurteilung ungerecht und
grausam ist, kommt hier nicht in Betracht. Wir haben nur das eine hervor¬
zuheben, daß sie wegen eines Vergehens verhängt wird, das zu unterlassen
unmöglich ist, und daß, wenn sich dergleichen Verurteilungen häufen (was
bekanntlich auch in andern Gebieten des Strafrechts geschieht), die Strafrechts¬
pflege ihren Sinn und ihre natürliche Grundlage verliert. Den Zweck, durch
Abschreckung von Übertretungen die öffentliche Ordnung und Sicherheit auf¬
recht zu erhalten, erfüllt die Strafrechtspflege nur dann, wenn kein Übertreter
des Gesetzes, der entdeckt wird, der Strafe entgeht, und wenn nichts Unmög¬
liches geboten wird. Mit der Möglichkeit der Beobachtung des Gesetzes hört
dessen verpflichtende Kraft, und mit einer nach zehntcmsenden zählenden Menge
der Übertretungen die Möglichkeit feiner durchgreifenden Anwendung auf. Die
Verurteilung erscheint dann nicht mehr als unabwendbare Folge der Über¬
tretung, sondern als ein individuelles Unglück, dessen möglicher Eintritt so
wenig von der Übertretung abschreckt, wie der mögliche Katarrh vom Besuch
eines Balles; mit der Furcht wie mit der Ehrfurcht vor dem Gesetz ists
dann vorbei.

Ein Recht auf Arbeit giebt es ursprünglich so wenig wie irgend ein
anders angebornes Recht, aber der Staat kann es gleich andern positiven
Rechten schaffen, und indem er Bettel, Landstreichertum und Obdachlosigkeit
verbietet, hat er es schon geschaffen. Eine Rechtsordnung, die den Satz n-et,
>mxo88it)i1ig. nemo tonewr nicht berücksichtigen wollte, würde ihre Daseinsberech¬
tigung preisgeben. Verpflichtet der Staat jeden Mittellosen zur Arbeit, dann muß
er, das hat schon I. G. Fichte gesagt, auch einem jeden Arbeit verschaffen.
Auf dem gegenwärtigen Stundpnnkte stehen zu bleiben, ist ihm unmöglich;
er muß entweder zurück oder vorwärts, entweder das Betteln und Vagabun¬
diren gestatten oder für jedermann Arbeit schaffen. Man pflegt nun zwar
einzuwenden, die Vagabunden seien nicht sowohl arbeitslos als arbeitsschen
und verdienten daher die Strafe. Allein der Beweis der Arbeitsscheu ist gar
nicht zu erbringen, so lange der Staat nicht Arbeit schafft, zumal wenn er
gar, wie das diesen Winter geschehen ist, ans seinen Werkstätten noch eine
Menge Arbeiter entläßt und dadurch erklärt, daß das Angebot von Arbeit
die Nachfrage übersteigt. Der Einwurf trifft also den Gegenstand gar nicht.
Dazu richtet seine Beachtung wirtschaftlichen und sozialen Schaden an. Daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/543>, abgerufen am 23.07.2024.