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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

tigkeit, daß, wer nicht arbeitet, auch nicht esse. Dieser Grundsatz hat in
England zusammen mit der Geldgier, in Preußen zusammen mit der strengen
Pflichtmoral bewirkt, daß die Kräfte des Volkes aufs höchste angespannt
wurden. Dieser Kraftanspannung hat England den ungeheuern Reichtum der
obern Zehntausend, Preußen die Tüchtigkeit seines ganzen Volkes und eine"
leidlichen allgemeinen Wohlstand auf kargein Boden zu verdanken. Allein wie
alle guten Dinge, so hat auch der Nutzen jenes schonen Grundsatzes seine
Grenzen. Sobald die Überproduktion anfängt, kann daraus, daß alle arbeiten
wollen oder sollen, nur uoch Verlegenheit entspringen. Da heutzutage nicht
mehr für den Konsum, sondern für den Markt produzirt wird, so hört mit
dem Absatz auch die Produktion auf: für die Produktion unverkäuflicher
Waren findet sich kein Unternehmer. Sollte es einem der Phylloxera ver¬
wandten Insekt einfallen, die Baumwollenstauden, die Lemensaatcn nud die
Seidenwürmer zu überfallen, so würde die Wolle enorm im Preise steigen,
und bei den heute herrschenden Grundsätzen der Produktion ist gar kein
Zweifel, daß dann einige Millionen Bauern, Knechte und Tagelöhner die
Arbeit verlieren und einigen tausend Schafhirten Platz machen würden. Auch
ohne eine solche Katastrophe wird sich schon nach wenigen Jahren die Zahl
der arbeitlosen Arbeitfähigcn, die nur durch Almosen erhalten werden können,
ans Hunderttausende belaufen. Gäbe es überall solche tapfere, barmherzige
Christen, wie der Pastor Klein in Reinerz einer ist, der sich endlich das Recht
erkämpft hat, die dortigen Hungernden mit wöchentlicher Brvtverteilung zu
speisen, so Hütten wir vielleicht jetzt schon in Deutschland fünf bis zehn
Millionen Almosenempfänger.

Das greift nun zugleich in die Rechtspflege ein. Wo nach katholischer
Anschauung das Almosengeben als ein gutes Werk gilt, da darf allenfalls die
Polizei, der öffentlichen Ordnung und Sicherheit wegen, gegen übermäßigen
Bettel einschreiten, aber kein Gesetz darf den Bettel zum Verbrechen stempeln.
Dieser kann zu einer großen Last sür die wohlhabendere Bevölkerung, aber
die Armut kann niemals zu einer Gefahr für den Staat werden. Im Pro¬
testantismus, wo man alles aufs Recht gestellt hat, mag man nun zusehen,
wie man mit dein Recht ans den vollen Arbeitsertrag und zunächst mit dein
Recht auf Arbeit fertig wird. Wo sich die Armen und Unglücklichen in jeder
verschuldeten oder unverschuldeten Notlage vertrauensvoll an die Mildhcrzigteit
der Begüterten wenden können, bedarf es keiner Feststellung ihrer Rechte;
anders bei uns, wo das geradezu verboten ist. Der Richter in großen Städten
kommt heute sehr häufig in die Lage, Dutzende von "Strolchen" -- vor
fünfzig Jahren hießen sie noch arme Reisende -- aburteilen zu müssen. Sie
werden verurteilt, entweder weil sie gebettelt oder sich keine Wohnung ver¬
schafft habeii. Der verurteilende Richter weiß es ganz genau, daß in einer
Zeit, wo es schon anständig gekleideten und tüchtigen Menschen oft schwer


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche

tigkeit, daß, wer nicht arbeitet, auch nicht esse. Dieser Grundsatz hat in
England zusammen mit der Geldgier, in Preußen zusammen mit der strengen
Pflichtmoral bewirkt, daß die Kräfte des Volkes aufs höchste angespannt
wurden. Dieser Kraftanspannung hat England den ungeheuern Reichtum der
obern Zehntausend, Preußen die Tüchtigkeit seines ganzen Volkes und eine»
leidlichen allgemeinen Wohlstand auf kargein Boden zu verdanken. Allein wie
alle guten Dinge, so hat auch der Nutzen jenes schonen Grundsatzes seine
Grenzen. Sobald die Überproduktion anfängt, kann daraus, daß alle arbeiten
wollen oder sollen, nur uoch Verlegenheit entspringen. Da heutzutage nicht
mehr für den Konsum, sondern für den Markt produzirt wird, so hört mit
dem Absatz auch die Produktion auf: für die Produktion unverkäuflicher
Waren findet sich kein Unternehmer. Sollte es einem der Phylloxera ver¬
wandten Insekt einfallen, die Baumwollenstauden, die Lemensaatcn nud die
Seidenwürmer zu überfallen, so würde die Wolle enorm im Preise steigen,
und bei den heute herrschenden Grundsätzen der Produktion ist gar kein
Zweifel, daß dann einige Millionen Bauern, Knechte und Tagelöhner die
Arbeit verlieren und einigen tausend Schafhirten Platz machen würden. Auch
ohne eine solche Katastrophe wird sich schon nach wenigen Jahren die Zahl
der arbeitlosen Arbeitfähigcn, die nur durch Almosen erhalten werden können,
ans Hunderttausende belaufen. Gäbe es überall solche tapfere, barmherzige
Christen, wie der Pastor Klein in Reinerz einer ist, der sich endlich das Recht
erkämpft hat, die dortigen Hungernden mit wöchentlicher Brvtverteilung zu
speisen, so Hütten wir vielleicht jetzt schon in Deutschland fünf bis zehn
Millionen Almosenempfänger.

Das greift nun zugleich in die Rechtspflege ein. Wo nach katholischer
Anschauung das Almosengeben als ein gutes Werk gilt, da darf allenfalls die
Polizei, der öffentlichen Ordnung und Sicherheit wegen, gegen übermäßigen
Bettel einschreiten, aber kein Gesetz darf den Bettel zum Verbrechen stempeln.
Dieser kann zu einer großen Last sür die wohlhabendere Bevölkerung, aber
die Armut kann niemals zu einer Gefahr für den Staat werden. Im Pro¬
testantismus, wo man alles aufs Recht gestellt hat, mag man nun zusehen,
wie man mit dein Recht ans den vollen Arbeitsertrag und zunächst mit dein
Recht auf Arbeit fertig wird. Wo sich die Armen und Unglücklichen in jeder
verschuldeten oder unverschuldeten Notlage vertrauensvoll an die Mildhcrzigteit
der Begüterten wenden können, bedarf es keiner Feststellung ihrer Rechte;
anders bei uns, wo das geradezu verboten ist. Der Richter in großen Städten
kommt heute sehr häufig in die Lage, Dutzende von „Strolchen" — vor
fünfzig Jahren hießen sie noch arme Reisende — aburteilen zu müssen. Sie
werden verurteilt, entweder weil sie gebettelt oder sich keine Wohnung ver¬
schafft habeii. Der verurteilende Richter weiß es ganz genau, daß in einer
Zeit, wo es schon anständig gekleideten und tüchtigen Menschen oft schwer


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[0542] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche tigkeit, daß, wer nicht arbeitet, auch nicht esse. Dieser Grundsatz hat in England zusammen mit der Geldgier, in Preußen zusammen mit der strengen Pflichtmoral bewirkt, daß die Kräfte des Volkes aufs höchste angespannt wurden. Dieser Kraftanspannung hat England den ungeheuern Reichtum der obern Zehntausend, Preußen die Tüchtigkeit seines ganzen Volkes und eine» leidlichen allgemeinen Wohlstand auf kargein Boden zu verdanken. Allein wie alle guten Dinge, so hat auch der Nutzen jenes schonen Grundsatzes seine Grenzen. Sobald die Überproduktion anfängt, kann daraus, daß alle arbeiten wollen oder sollen, nur uoch Verlegenheit entspringen. Da heutzutage nicht mehr für den Konsum, sondern für den Markt produzirt wird, so hört mit dem Absatz auch die Produktion auf: für die Produktion unverkäuflicher Waren findet sich kein Unternehmer. Sollte es einem der Phylloxera ver¬ wandten Insekt einfallen, die Baumwollenstauden, die Lemensaatcn nud die Seidenwürmer zu überfallen, so würde die Wolle enorm im Preise steigen, und bei den heute herrschenden Grundsätzen der Produktion ist gar kein Zweifel, daß dann einige Millionen Bauern, Knechte und Tagelöhner die Arbeit verlieren und einigen tausend Schafhirten Platz machen würden. Auch ohne eine solche Katastrophe wird sich schon nach wenigen Jahren die Zahl der arbeitlosen Arbeitfähigcn, die nur durch Almosen erhalten werden können, ans Hunderttausende belaufen. Gäbe es überall solche tapfere, barmherzige Christen, wie der Pastor Klein in Reinerz einer ist, der sich endlich das Recht erkämpft hat, die dortigen Hungernden mit wöchentlicher Brvtverteilung zu speisen, so Hütten wir vielleicht jetzt schon in Deutschland fünf bis zehn Millionen Almosenempfänger. Das greift nun zugleich in die Rechtspflege ein. Wo nach katholischer Anschauung das Almosengeben als ein gutes Werk gilt, da darf allenfalls die Polizei, der öffentlichen Ordnung und Sicherheit wegen, gegen übermäßigen Bettel einschreiten, aber kein Gesetz darf den Bettel zum Verbrechen stempeln. Dieser kann zu einer großen Last sür die wohlhabendere Bevölkerung, aber die Armut kann niemals zu einer Gefahr für den Staat werden. Im Pro¬ testantismus, wo man alles aufs Recht gestellt hat, mag man nun zusehen, wie man mit dein Recht ans den vollen Arbeitsertrag und zunächst mit dein Recht auf Arbeit fertig wird. Wo sich die Armen und Unglücklichen in jeder verschuldeten oder unverschuldeten Notlage vertrauensvoll an die Mildhcrzigteit der Begüterten wenden können, bedarf es keiner Feststellung ihrer Rechte; anders bei uns, wo das geradezu verboten ist. Der Richter in großen Städten kommt heute sehr häufig in die Lage, Dutzende von „Strolchen" — vor fünfzig Jahren hießen sie noch arme Reisende — aburteilen zu müssen. Sie werden verurteilt, entweder weil sie gebettelt oder sich keine Wohnung ver¬ schafft habeii. Der verurteilende Richter weiß es ganz genau, daß in einer Zeit, wo es schon anständig gekleideten und tüchtigen Menschen oft schwer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/542>, abgerufen am 23.07.2024.