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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu ö^ristentmn, Staat und Rirche

Stände aus lautern Pflichtgefühl krumm, lahm, blind und schwindsüchtig
büffelte, was unter der Alleinherrschaft des pflichtmäßigen Gehorsams
ganz gewiß geschehen würde, denu die Herren Lehrer würden in der schwei¬
genden Geduld, mit der die auferlegten Lasten getragen würden, immer nur
die Aufforderung zu weiterer Belastung sehen. Aber heilsamer ist es denu
doch wohl für die Jugend wie fürs Vaterland, wenn sich das Fleisch wider
den Geist ein wenig empört und dem Lehreifer durch jenen passiven Wider¬
stand, den man Faulheit nennt, gewisse Schranken zieht.

Die Tugenden wie die Laster des edlern Heidentums sind menschlich
geartet, das Christentum hat den Himmelsglanz seiner göttlichen Tugenden
durch das unheimliche Feuer höllischer Bosheit verdüstert. Wenn deu von
der Schönheit berauschten und zärtlich gestimmten Hellenen, mit Sokrates zu
reden, die Pferde durchgingen, so lag die Absicht fern, dem Gegenstande der
Begierden Schaden zuzufügen oder wehe zu thun; der heuchlerische Christ
zügelt die Begierden zum Schein und verbindet mit ihrer heimlichen Befrie¬
digung die teuflische Lust, zu peinigen und zu zerstören. Möge uns auch
fernerhin das Gut des Christentums gewahrt bleiben! Aber die Himmelsblüteu
übernatürlicher Tugenden ans Seelen, in denen ihr Keim nicht liegt, zwangs¬
weise hervortreiben wollen, ist wahnsinniger Frevel; er kann zu Scheußlich¬
keiten führen, wie deu oben geschilderten, oder zu solchen, wie sie deu mittel¬
alterlichen Ketzern nachgesagt werden, und sich unter dem Namen Satanismus
in kleinen geheimen Gesellschaften bei deu Franzose" bis auf deu heutigen
Tag erhalten haben sollen. Dem Menschen von gewöhnlicher Begabung
genügt eine mit rein natürlichen Erwägungen begründete und nur mäßige
Anforderungen stellende Moral; sie genügt ihm nicht allein, sondern sie ist
ihm auch zuträglicher. Das schließt selbstverständlich die Verwendung der
christlichen Motive nicht aus, die aber an Wirksamkeit nicht gewinnen würden,
wenn mau die Religion in Kirche und Schule lediglich als Morallehre be¬
handeln und die kirchlichen Einrichtungen vorzüglich zur Sitteuzucht verwenden
wollte. Die Aufgabe der Religion ist es, das Gemüt mit heiligen Bildern
zu erfüllen, in eine höhere, reine Region zu erheben und mit Hoffnung zu
trösten; sie soll den ganzen Menschen, sein Empfinden, Wollen, Denken und
Vorstellen veredeln. Auf die Sittlichkeit wirkt sie um so stärker und sicherer,
je weniger eine unmittelbar darauf gerichtete Absicht zu erkennen ist; nichts
stößt mehr ab, als Moralpredigten und das ewige: Du sollst oder du sollst
nicht! Der Mensch braucht uur einen angemeßnen Wirkungskreis und Be¬
friedigung seiner Notdurft zu finden, so thut er das Gute und unterläßt das
Schlechte von selbst. Die sittlichen Grundbegriffe soll sich allerdings jeder,
jedoch ohne Grübelei, aneigne"; aber daß sich jeder über den Unterschied der
natürlichen, der philosophische" und der christlichen Antriebe klar werde, ist
nicht nötig. Wählt der Gebildete mit Bewußtsein die natürliche Nützlichkeits-


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu ö^ristentmn, Staat und Rirche

Stände aus lautern Pflichtgefühl krumm, lahm, blind und schwindsüchtig
büffelte, was unter der Alleinherrschaft des pflichtmäßigen Gehorsams
ganz gewiß geschehen würde, denu die Herren Lehrer würden in der schwei¬
genden Geduld, mit der die auferlegten Lasten getragen würden, immer nur
die Aufforderung zu weiterer Belastung sehen. Aber heilsamer ist es denu
doch wohl für die Jugend wie fürs Vaterland, wenn sich das Fleisch wider
den Geist ein wenig empört und dem Lehreifer durch jenen passiven Wider¬
stand, den man Faulheit nennt, gewisse Schranken zieht.

Die Tugenden wie die Laster des edlern Heidentums sind menschlich
geartet, das Christentum hat den Himmelsglanz seiner göttlichen Tugenden
durch das unheimliche Feuer höllischer Bosheit verdüstert. Wenn deu von
der Schönheit berauschten und zärtlich gestimmten Hellenen, mit Sokrates zu
reden, die Pferde durchgingen, so lag die Absicht fern, dem Gegenstande der
Begierden Schaden zuzufügen oder wehe zu thun; der heuchlerische Christ
zügelt die Begierden zum Schein und verbindet mit ihrer heimlichen Befrie¬
digung die teuflische Lust, zu peinigen und zu zerstören. Möge uns auch
fernerhin das Gut des Christentums gewahrt bleiben! Aber die Himmelsblüteu
übernatürlicher Tugenden ans Seelen, in denen ihr Keim nicht liegt, zwangs¬
weise hervortreiben wollen, ist wahnsinniger Frevel; er kann zu Scheußlich¬
keiten führen, wie deu oben geschilderten, oder zu solchen, wie sie deu mittel¬
alterlichen Ketzern nachgesagt werden, und sich unter dem Namen Satanismus
in kleinen geheimen Gesellschaften bei deu Franzose» bis auf deu heutigen
Tag erhalten haben sollen. Dem Menschen von gewöhnlicher Begabung
genügt eine mit rein natürlichen Erwägungen begründete und nur mäßige
Anforderungen stellende Moral; sie genügt ihm nicht allein, sondern sie ist
ihm auch zuträglicher. Das schließt selbstverständlich die Verwendung der
christlichen Motive nicht aus, die aber an Wirksamkeit nicht gewinnen würden,
wenn mau die Religion in Kirche und Schule lediglich als Morallehre be¬
handeln und die kirchlichen Einrichtungen vorzüglich zur Sitteuzucht verwenden
wollte. Die Aufgabe der Religion ist es, das Gemüt mit heiligen Bildern
zu erfüllen, in eine höhere, reine Region zu erheben und mit Hoffnung zu
trösten; sie soll den ganzen Menschen, sein Empfinden, Wollen, Denken und
Vorstellen veredeln. Auf die Sittlichkeit wirkt sie um so stärker und sicherer,
je weniger eine unmittelbar darauf gerichtete Absicht zu erkennen ist; nichts
stößt mehr ab, als Moralpredigten und das ewige: Du sollst oder du sollst
nicht! Der Mensch braucht uur einen angemeßnen Wirkungskreis und Be¬
friedigung seiner Notdurft zu finden, so thut er das Gute und unterläßt das
Schlechte von selbst. Die sittlichen Grundbegriffe soll sich allerdings jeder,
jedoch ohne Grübelei, aneigne»; aber daß sich jeder über den Unterschied der
natürlichen, der philosophische» und der christlichen Antriebe klar werde, ist
nicht nötig. Wählt der Gebildete mit Bewußtsein die natürliche Nützlichkeits-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/500>, abgerufen am 23.07.2024.