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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Lhristcntnm, Steine "ut Kirche

Frciuen haben ganz allein Asien und Afrika kreuz und quer durchstreift, ohne
daß ihnen etwas schlimmes begegnet wäre. Erst kürzlich ist eine Mrs. Sheldcm
unversehrt von den kriegerischen Massais zurückgekommen, die sie gern als
ihre Königin bei sich behalten hätten, namentlich, weil sie von einem weiß-
seidnen Kleide der Dame bezaubert waren. Anständige Frauen, die ein Mar¬
tyrium der Schamhaftigkeit bestehen wollen, müssen sich schon nach Berlin
oder Breslau bemühen, wo es ihnen begegnen kann, daß sie von Studenten,
unsern zukünftigen Richtern und Gesetzgebern, als Dirnen angesprochen oder
mit Schirmen und Stöcken ins Gesicht geschlagen werden.

Eine feste Staatsordnung ist freilich um so nötiger, je enger an einander
gedrängt die Menschen leben; aber sie stellt sich mit dem Bedürfnis überall
von selbst ein, und nur das Erbsünddvgma konnte die ganz ungeschichtliche
Vorstellung erzeugen, die Abschaffung einer bestehenden alten Ordnung müsse
notwendigerweise die Menschen in lauter Unholde verwandeln. Die Vorstellung
vom radikalen Bösen ist ebenso falsch wie die entgegengesetzte, daß die Menschen
von Natur sittlich gut seien. Die natürlichen Begierden sind an sich sittlich
indifferent, gut aber nicht im ethischen, sondern in dem Sinne, wie der Optimist
die ganze Schöpfung gut nennt, indem sie einen unentbehrlichen Bestandteil
des Menschenwesens bilden. Sittliche Bedeutung empfangen sie uach und
nach in der Gesellschaft, indem die Vernunft ihre Befriedigung ordnet. Diese
Ordnung gestattet ihnen einen gewissen Spielraum; überschreiten sie dessen
Grenze, so werden sie unsittlich. Einen zweiten weitern Kreis zieht die
bürgerliche Ordnung, und überschreiten sie auch diesen, so richten sie Ver¬
derben an. Wo einer geordneten müßigen Befriedigung der Bedürfnisse keine
gar zu großen Hindernisse im Wege stehen, da pflegt sich die Mehrzahl inner¬
halb des ersten engern Kreises zu halten, und die Überschreitung des zweiten,
weitern kommt nur ausnahmsweise vor. Erfahrungsgemäß aber tritt die
Überschreitung in großem Maßstabe und massenhaft stets in folgenden drei
Fällen ein: unter der Einwirkung des Fanatismus, bei großer Machtfülle
(Cäsarenwahnsinn und Übermut des Reichtums), und wenn durch materielle
Not oder durch Staatszwang der Masse ein Maß von Selbstüberwindung
zugemutet wird, das die Durchschuittskraft übersteigt. Wenn sich in dem zuletzt
genannten Falle die Natur gegen die künstlichen Schranken empört, so ist das
nicht ein Unglück, sondern ein Glück für ein Volk. Ein Volk frommer Lämmer
würde zwar ein Schauspiel für die Engel des Himmels sein, aber nicht lange,
da es bald von den Wölfen gefressen werden würde, denn die Schafsnatnr
der einen weckt in den kräftigern Nachbarn einen Wolfshunger. Lerne leiden,
ohne zu klagen ist! ein sehr schöner Wahlspruch für den einzelnen Christen,
aber er taugt nichts für einen ganzen Stand oder gar für ein Volk; denen
frommt der andre mehr: Artige Kinder kriegen nichts. So wäre es ja auch
gewiß ein rührender Anblick, wenn sich die gesamte Jugend der gebildeten


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Lhristcntnm, Steine »ut Kirche

Frciuen haben ganz allein Asien und Afrika kreuz und quer durchstreift, ohne
daß ihnen etwas schlimmes begegnet wäre. Erst kürzlich ist eine Mrs. Sheldcm
unversehrt von den kriegerischen Massais zurückgekommen, die sie gern als
ihre Königin bei sich behalten hätten, namentlich, weil sie von einem weiß-
seidnen Kleide der Dame bezaubert waren. Anständige Frauen, die ein Mar¬
tyrium der Schamhaftigkeit bestehen wollen, müssen sich schon nach Berlin
oder Breslau bemühen, wo es ihnen begegnen kann, daß sie von Studenten,
unsern zukünftigen Richtern und Gesetzgebern, als Dirnen angesprochen oder
mit Schirmen und Stöcken ins Gesicht geschlagen werden.

Eine feste Staatsordnung ist freilich um so nötiger, je enger an einander
gedrängt die Menschen leben; aber sie stellt sich mit dem Bedürfnis überall
von selbst ein, und nur das Erbsünddvgma konnte die ganz ungeschichtliche
Vorstellung erzeugen, die Abschaffung einer bestehenden alten Ordnung müsse
notwendigerweise die Menschen in lauter Unholde verwandeln. Die Vorstellung
vom radikalen Bösen ist ebenso falsch wie die entgegengesetzte, daß die Menschen
von Natur sittlich gut seien. Die natürlichen Begierden sind an sich sittlich
indifferent, gut aber nicht im ethischen, sondern in dem Sinne, wie der Optimist
die ganze Schöpfung gut nennt, indem sie einen unentbehrlichen Bestandteil
des Menschenwesens bilden. Sittliche Bedeutung empfangen sie uach und
nach in der Gesellschaft, indem die Vernunft ihre Befriedigung ordnet. Diese
Ordnung gestattet ihnen einen gewissen Spielraum; überschreiten sie dessen
Grenze, so werden sie unsittlich. Einen zweiten weitern Kreis zieht die
bürgerliche Ordnung, und überschreiten sie auch diesen, so richten sie Ver¬
derben an. Wo einer geordneten müßigen Befriedigung der Bedürfnisse keine
gar zu großen Hindernisse im Wege stehen, da pflegt sich die Mehrzahl inner¬
halb des ersten engern Kreises zu halten, und die Überschreitung des zweiten,
weitern kommt nur ausnahmsweise vor. Erfahrungsgemäß aber tritt die
Überschreitung in großem Maßstabe und massenhaft stets in folgenden drei
Fällen ein: unter der Einwirkung des Fanatismus, bei großer Machtfülle
(Cäsarenwahnsinn und Übermut des Reichtums), und wenn durch materielle
Not oder durch Staatszwang der Masse ein Maß von Selbstüberwindung
zugemutet wird, das die Durchschuittskraft übersteigt. Wenn sich in dem zuletzt
genannten Falle die Natur gegen die künstlichen Schranken empört, so ist das
nicht ein Unglück, sondern ein Glück für ein Volk. Ein Volk frommer Lämmer
würde zwar ein Schauspiel für die Engel des Himmels sein, aber nicht lange,
da es bald von den Wölfen gefressen werden würde, denn die Schafsnatnr
der einen weckt in den kräftigern Nachbarn einen Wolfshunger. Lerne leiden,
ohne zu klagen ist! ein sehr schöner Wahlspruch für den einzelnen Christen,
aber er taugt nichts für einen ganzen Stand oder gar für ein Volk; denen
frommt der andre mehr: Artige Kinder kriegen nichts. So wäre es ja auch
gewiß ein rührender Anblick, wenn sich die gesamte Jugend der gebildeten


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[0499] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Lhristcntnm, Steine »ut Kirche Frciuen haben ganz allein Asien und Afrika kreuz und quer durchstreift, ohne daß ihnen etwas schlimmes begegnet wäre. Erst kürzlich ist eine Mrs. Sheldcm unversehrt von den kriegerischen Massais zurückgekommen, die sie gern als ihre Königin bei sich behalten hätten, namentlich, weil sie von einem weiß- seidnen Kleide der Dame bezaubert waren. Anständige Frauen, die ein Mar¬ tyrium der Schamhaftigkeit bestehen wollen, müssen sich schon nach Berlin oder Breslau bemühen, wo es ihnen begegnen kann, daß sie von Studenten, unsern zukünftigen Richtern und Gesetzgebern, als Dirnen angesprochen oder mit Schirmen und Stöcken ins Gesicht geschlagen werden. Eine feste Staatsordnung ist freilich um so nötiger, je enger an einander gedrängt die Menschen leben; aber sie stellt sich mit dem Bedürfnis überall von selbst ein, und nur das Erbsünddvgma konnte die ganz ungeschichtliche Vorstellung erzeugen, die Abschaffung einer bestehenden alten Ordnung müsse notwendigerweise die Menschen in lauter Unholde verwandeln. Die Vorstellung vom radikalen Bösen ist ebenso falsch wie die entgegengesetzte, daß die Menschen von Natur sittlich gut seien. Die natürlichen Begierden sind an sich sittlich indifferent, gut aber nicht im ethischen, sondern in dem Sinne, wie der Optimist die ganze Schöpfung gut nennt, indem sie einen unentbehrlichen Bestandteil des Menschenwesens bilden. Sittliche Bedeutung empfangen sie uach und nach in der Gesellschaft, indem die Vernunft ihre Befriedigung ordnet. Diese Ordnung gestattet ihnen einen gewissen Spielraum; überschreiten sie dessen Grenze, so werden sie unsittlich. Einen zweiten weitern Kreis zieht die bürgerliche Ordnung, und überschreiten sie auch diesen, so richten sie Ver¬ derben an. Wo einer geordneten müßigen Befriedigung der Bedürfnisse keine gar zu großen Hindernisse im Wege stehen, da pflegt sich die Mehrzahl inner¬ halb des ersten engern Kreises zu halten, und die Überschreitung des zweiten, weitern kommt nur ausnahmsweise vor. Erfahrungsgemäß aber tritt die Überschreitung in großem Maßstabe und massenhaft stets in folgenden drei Fällen ein: unter der Einwirkung des Fanatismus, bei großer Machtfülle (Cäsarenwahnsinn und Übermut des Reichtums), und wenn durch materielle Not oder durch Staatszwang der Masse ein Maß von Selbstüberwindung zugemutet wird, das die Durchschuittskraft übersteigt. Wenn sich in dem zuletzt genannten Falle die Natur gegen die künstlichen Schranken empört, so ist das nicht ein Unglück, sondern ein Glück für ein Volk. Ein Volk frommer Lämmer würde zwar ein Schauspiel für die Engel des Himmels sein, aber nicht lange, da es bald von den Wölfen gefressen werden würde, denn die Schafsnatnr der einen weckt in den kräftigern Nachbarn einen Wolfshunger. Lerne leiden, ohne zu klagen ist! ein sehr schöner Wahlspruch für den einzelnen Christen, aber er taugt nichts für einen ganzen Stand oder gar für ein Volk; denen frommt der andre mehr: Artige Kinder kriegen nichts. So wäre es ja auch gewiß ein rührender Anblick, wenn sich die gesamte Jugend der gebildeten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/499>, abgerufen am 23.07.2024.