Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.Goethes Straßburger lyrische Gedichte konnten, Nun hätte er freilich auch darin von der Wirklichkeit abweichen können, Goethes Straßburger lyrische Gedichte konnten, Nun hätte er freilich auch darin von der Wirklichkeit abweichen können, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0463" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211631"/> <fw type="header" place="top"> Goethes Straßburger lyrische Gedichte</fw><lb/> <p xml:id="ID_1365" prev="#ID_1364" next="#ID_1366"> konnten, Nun hätte er freilich auch darin von der Wirklichkeit abweichen können,<lb/> aber er fand es, wie auffallend es auch scheinen mag, aus anderm Grunde<lb/> angemessen (Wohl weil er über den Anfang der Rückreise ausführlich nach den<lb/> anziehenden Mitteilungen seines Tagebuchs berichten wollte), den Gedanken<lb/> an die ferne Geliebte erst später einzuführen. Drei Tage blieben Goethe und<lb/> Weyland in Saarbrücken. Daß Goethe damals noch ein weiteres Lied gelungen sei,<lb/> ist freilich nicht unmöglich, doch dürfte ihm eher die bloß in Weylands Beglei¬<lb/> tung angetretne Rückreise ein solches eingegeben haben, und so konnte man<lb/> glauben, das später als „Willkommen und Abschied" bezeichnete Lied, das ur¬<lb/> sprünglich ohne jede Überschrift unmittelbar nach zwei Liedern auf Lili in Jacobis<lb/> „Iris" erschien, sei eine Frucht dieser Rückreise gewesen. Ja man möchte es nicht<lb/> unwahrscheinlich finden, daß es zu Neukirch wenigstens ersonnen sei, als Goethe<lb/> am späten Abend allein vor den Glasthüren des dortigen höher gelegnen<lb/> Jagdhauses saß, wo ihn ein paar aus der Ferne erschallende Waldhörner<lb/> lieblich überraschten. In „Wahrheit und Dichtung" wird dies mit der Er¬<lb/> innerung an Friederiken in Verbindung gesetzt. Da dieses aber offenbar<lb/> zum Zweck erfunden ist, so könnte man die überhaupt in Goethes Dichtung<lb/> beliebten plötzlich erschallenden Waldhörner hier für erfunden halten und der<lb/> Vermutung zuneigen, an diesem Abende habe es ihn dichterisch angeweht, so<lb/> daß er sich den herzlichen Empfang von der Geliebten nach einem schweren<lb/> Nachernte und die rührende Trennung des von der Gewißheit freier gegen¬<lb/> seitiger Neigung innig bewegten Paares ausgemalt habe. Ich gebe das nur<lb/> als anspruchslosen Gedanken; aber da Friederike dieses und das vorige Lied,<lb/> die sich beide nicht persönlich auf sie beziehen, von Goethes Hand besaß, so<lb/> dürste es nicht unwahrscheinlich sein, daß, wie das vorige, so auch dieses vor<lb/> die Bekanntschaft fällt. Freilich bezog es Goethe selbst im elften Buch von<lb/> „Wahrheit und Dichtung" auf einen bestimmten Besuch Friederikens, ja er<lb/> nahm daraus seiue Beschreibung des damaligen Rittes; aber daß das ein Irr¬<lb/> tum war, ist unzweifelhaft, da der Schluß dieses Gedichtes in der erhaltnen ur¬<lb/> sprünglichen Fassung dein von ihm erzählten Abschiede geradezu widerspricht:<lb/> im Liede ist der Abschied „bedrängt" und „trübe," und in den Küssen der<lb/> Geliebte» genießt er Liebe, Wonne und Schmerz, wogegen bei dem geschilderten<lb/> Besuche in Sesenheim die Liebenden froh, in der Gewißheit, sich ewig anzu¬<lb/> gehören, von einander scheiden, er aber aus Aberglauben sie noch nicht zu küssen<lb/> gewagt hat. Eine abenteuerliche Entdeckung hat Bielschowskh gemacht. Er be¬<lb/> weist aus dem in der Weimarer Ausgabe I, 356 fg. abgedruckten Liederverzeich¬<lb/> nis der Frau Schultheß, das Lied sei am 30. März 1771 gedichtet. Dort<lb/> findet sich nämlich verzeichnet: „Den XXX abend. Mir schlug das Herz."<lb/> Nichts kann unwahrscheinlicher sein (denn die Nnmerirnng der Lieder, wobei<lb/> diese Kopulation geschieht, ist eine unglückliche Zuthat des Herausgebers), als<lb/> daß beide Bezeichnungen ans dasselbe Gedicht gehen. Auch wissen wir, daß</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0463]
Goethes Straßburger lyrische Gedichte
konnten, Nun hätte er freilich auch darin von der Wirklichkeit abweichen können,
aber er fand es, wie auffallend es auch scheinen mag, aus anderm Grunde
angemessen (Wohl weil er über den Anfang der Rückreise ausführlich nach den
anziehenden Mitteilungen seines Tagebuchs berichten wollte), den Gedanken
an die ferne Geliebte erst später einzuführen. Drei Tage blieben Goethe und
Weyland in Saarbrücken. Daß Goethe damals noch ein weiteres Lied gelungen sei,
ist freilich nicht unmöglich, doch dürfte ihm eher die bloß in Weylands Beglei¬
tung angetretne Rückreise ein solches eingegeben haben, und so konnte man
glauben, das später als „Willkommen und Abschied" bezeichnete Lied, das ur¬
sprünglich ohne jede Überschrift unmittelbar nach zwei Liedern auf Lili in Jacobis
„Iris" erschien, sei eine Frucht dieser Rückreise gewesen. Ja man möchte es nicht
unwahrscheinlich finden, daß es zu Neukirch wenigstens ersonnen sei, als Goethe
am späten Abend allein vor den Glasthüren des dortigen höher gelegnen
Jagdhauses saß, wo ihn ein paar aus der Ferne erschallende Waldhörner
lieblich überraschten. In „Wahrheit und Dichtung" wird dies mit der Er¬
innerung an Friederiken in Verbindung gesetzt. Da dieses aber offenbar
zum Zweck erfunden ist, so könnte man die überhaupt in Goethes Dichtung
beliebten plötzlich erschallenden Waldhörner hier für erfunden halten und der
Vermutung zuneigen, an diesem Abende habe es ihn dichterisch angeweht, so
daß er sich den herzlichen Empfang von der Geliebten nach einem schweren
Nachernte und die rührende Trennung des von der Gewißheit freier gegen¬
seitiger Neigung innig bewegten Paares ausgemalt habe. Ich gebe das nur
als anspruchslosen Gedanken; aber da Friederike dieses und das vorige Lied,
die sich beide nicht persönlich auf sie beziehen, von Goethes Hand besaß, so
dürste es nicht unwahrscheinlich sein, daß, wie das vorige, so auch dieses vor
die Bekanntschaft fällt. Freilich bezog es Goethe selbst im elften Buch von
„Wahrheit und Dichtung" auf einen bestimmten Besuch Friederikens, ja er
nahm daraus seiue Beschreibung des damaligen Rittes; aber daß das ein Irr¬
tum war, ist unzweifelhaft, da der Schluß dieses Gedichtes in der erhaltnen ur¬
sprünglichen Fassung dein von ihm erzählten Abschiede geradezu widerspricht:
im Liede ist der Abschied „bedrängt" und „trübe," und in den Küssen der
Geliebte» genießt er Liebe, Wonne und Schmerz, wogegen bei dem geschilderten
Besuche in Sesenheim die Liebenden froh, in der Gewißheit, sich ewig anzu¬
gehören, von einander scheiden, er aber aus Aberglauben sie noch nicht zu küssen
gewagt hat. Eine abenteuerliche Entdeckung hat Bielschowskh gemacht. Er be¬
weist aus dem in der Weimarer Ausgabe I, 356 fg. abgedruckten Liederverzeich¬
nis der Frau Schultheß, das Lied sei am 30. März 1771 gedichtet. Dort
findet sich nämlich verzeichnet: „Den XXX abend. Mir schlug das Herz."
Nichts kann unwahrscheinlicher sein (denn die Nnmerirnng der Lieder, wobei
diese Kopulation geschieht, ist eine unglückliche Zuthat des Herausgebers), als
daß beide Bezeichnungen ans dasselbe Gedicht gehen. Auch wissen wir, daß
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