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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Straßburger lyrische Gedichte

Gegenwart freue. Dem leidenschaftliche!, Gefühl entspricht durchaus ein solcher
Ausbruch in kurzen, sich ergänzenden Fragen. Mit solchen Nichtigkeiten wagt
mau einem Liede zu Leibe zu gehen, das eine neue Entwicklung des Dichters
zeigt, der sich hier zuerst im Geiste des Volksliedes erging, jetzt frisch gesundet
nud von heiterer Stimmung durch die tagelnnge Bewegung in der freien
Natur wunderbar gehoben! Auch die Strvpheuform ist glücklich gewählt. Von
den vier abwechselnd reimenden ländischen Versen sind die ungeraden sechste-
halb-, die geraden zweifüßig; doch haben die erstern regelmäßig einen starken Ab¬
schnitt nach dem zweiten Fuße, sodaß der Anfang rhythmisch ganz dem fol¬
genden kurzen Verse entspricht, woraus eine eigentümliche, das Gedicht sehr wohl
kleidende Bewegung entspringt. Die erste und die letzte Strophe zerfallen dem
Sinne nach in zwei Hälften, wogegen in den beiden etwas ruhigern Mittel¬
strophen der zweite und dritte Vers untrennbar verbunden sind; die starke
Interpunktion Vers 11 nach "Feld" ist ungehörig, sie stört den Fluß der
Rede, fand sich wohl anch kaum in der Handschrift. Der Aufbau des Liedes ist
einfach und klar. Nach den sehnsüchtigen Fragen hören wir, daß seit der
Entfernung der Geliebten das Wetter trüb und regnerisch geworden ist, als ob
der Himmel mit ihm traure; die Lust, die früher Stadt und Land erfüllt hat,
ist geschwunden, auch die Nachtigall ist ihr gefolgt. Der Schluß spricht den
Wunsch nach ihrer Rückkehr aus, wobei hervorgehoben wird, daß auch Hirt und
Heerden sich nach ihr sehnen (bei dem Regenwetter fühlen sich diese, deren
die Geliebte sich gefreut hat, unbehaglich), jn, wenn sie länger ausbleibt, wird
der Mai zum Winter werden. Daß sich der Dichter aus dem Juni in den
Mai versetzt, mag zunächst durch den Reim veranlaßt sein, es war aber auch
ganz unbedenklich, da, wenn auch der trübe Regentag aus der Gegenwart
genommen ist, doch das Lied bei aller Frische glücklich allgemein gehalten ist.

Haben wir so die Haltlosigkeit aller Augriffe auf dieses hübsche Lied nach¬
gewiesen, die leider zeigen, an welcher unkritischen Kritik unsre sich hoch
dünkende Goetheforschung krankt, so ist zugleich eine feste Burg gewonnen, von
der aus wir die Verdächtigungen der auf gleicher Überlieferung beruhenden
andern Straßburger Gedichte nun mit Ruhe abweisen können. Fragen
wir, welche weitern Gedichte und in welcher Folge sie während der Straßburger
Zeit entstanden sind. Bei der Darstellung der Saarbrücker Reise in "Wahrheit
und Dichtung" lag Goethe ein ziemlich ausführliches Tagebuch vor, das er
nach der Benutzung, wie er zu thun pflegte, vernichtet zu haben scheint, wenn
es nicht, wie leider so vieles, verkommen oder verschleppt ist. Aber da er
nach der getroffnen Anordnung uns dem Rückwege allein nach Sesenheim
kommen sollte, obgleich in Wahrheit zwischen dieser Reise und der ersten Bekannt¬
schaft Friederikens drittehalb Monate lagen, mußte das Ende ganz verändert
werden. Das Tagebuch wird auch wohl des einen oder mehrerer Gedichte
dieser Reise gedacht haben, die nicht der noch ungekannten Friederike gelten


Goethes Straßburger lyrische Gedichte

Gegenwart freue. Dem leidenschaftliche!, Gefühl entspricht durchaus ein solcher
Ausbruch in kurzen, sich ergänzenden Fragen. Mit solchen Nichtigkeiten wagt
mau einem Liede zu Leibe zu gehen, das eine neue Entwicklung des Dichters
zeigt, der sich hier zuerst im Geiste des Volksliedes erging, jetzt frisch gesundet
nud von heiterer Stimmung durch die tagelnnge Bewegung in der freien
Natur wunderbar gehoben! Auch die Strvpheuform ist glücklich gewählt. Von
den vier abwechselnd reimenden ländischen Versen sind die ungeraden sechste-
halb-, die geraden zweifüßig; doch haben die erstern regelmäßig einen starken Ab¬
schnitt nach dem zweiten Fuße, sodaß der Anfang rhythmisch ganz dem fol¬
genden kurzen Verse entspricht, woraus eine eigentümliche, das Gedicht sehr wohl
kleidende Bewegung entspringt. Die erste und die letzte Strophe zerfallen dem
Sinne nach in zwei Hälften, wogegen in den beiden etwas ruhigern Mittel¬
strophen der zweite und dritte Vers untrennbar verbunden sind; die starke
Interpunktion Vers 11 nach „Feld" ist ungehörig, sie stört den Fluß der
Rede, fand sich wohl anch kaum in der Handschrift. Der Aufbau des Liedes ist
einfach und klar. Nach den sehnsüchtigen Fragen hören wir, daß seit der
Entfernung der Geliebten das Wetter trüb und regnerisch geworden ist, als ob
der Himmel mit ihm traure; die Lust, die früher Stadt und Land erfüllt hat,
ist geschwunden, auch die Nachtigall ist ihr gefolgt. Der Schluß spricht den
Wunsch nach ihrer Rückkehr aus, wobei hervorgehoben wird, daß auch Hirt und
Heerden sich nach ihr sehnen (bei dem Regenwetter fühlen sich diese, deren
die Geliebte sich gefreut hat, unbehaglich), jn, wenn sie länger ausbleibt, wird
der Mai zum Winter werden. Daß sich der Dichter aus dem Juni in den
Mai versetzt, mag zunächst durch den Reim veranlaßt sein, es war aber auch
ganz unbedenklich, da, wenn auch der trübe Regentag aus der Gegenwart
genommen ist, doch das Lied bei aller Frische glücklich allgemein gehalten ist.

Haben wir so die Haltlosigkeit aller Augriffe auf dieses hübsche Lied nach¬
gewiesen, die leider zeigen, an welcher unkritischen Kritik unsre sich hoch
dünkende Goetheforschung krankt, so ist zugleich eine feste Burg gewonnen, von
der aus wir die Verdächtigungen der auf gleicher Überlieferung beruhenden
andern Straßburger Gedichte nun mit Ruhe abweisen können. Fragen
wir, welche weitern Gedichte und in welcher Folge sie während der Straßburger
Zeit entstanden sind. Bei der Darstellung der Saarbrücker Reise in „Wahrheit
und Dichtung" lag Goethe ein ziemlich ausführliches Tagebuch vor, das er
nach der Benutzung, wie er zu thun pflegte, vernichtet zu haben scheint, wenn
es nicht, wie leider so vieles, verkommen oder verschleppt ist. Aber da er
nach der getroffnen Anordnung uns dem Rückwege allein nach Sesenheim
kommen sollte, obgleich in Wahrheit zwischen dieser Reise und der ersten Bekannt¬
schaft Friederikens drittehalb Monate lagen, mußte das Ende ganz verändert
werden. Das Tagebuch wird auch wohl des einen oder mehrerer Gedichte
dieser Reise gedacht haben, die nicht der noch ungekannten Friederike gelten


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[0462] Goethes Straßburger lyrische Gedichte Gegenwart freue. Dem leidenschaftliche!, Gefühl entspricht durchaus ein solcher Ausbruch in kurzen, sich ergänzenden Fragen. Mit solchen Nichtigkeiten wagt mau einem Liede zu Leibe zu gehen, das eine neue Entwicklung des Dichters zeigt, der sich hier zuerst im Geiste des Volksliedes erging, jetzt frisch gesundet nud von heiterer Stimmung durch die tagelnnge Bewegung in der freien Natur wunderbar gehoben! Auch die Strvpheuform ist glücklich gewählt. Von den vier abwechselnd reimenden ländischen Versen sind die ungeraden sechste- halb-, die geraden zweifüßig; doch haben die erstern regelmäßig einen starken Ab¬ schnitt nach dem zweiten Fuße, sodaß der Anfang rhythmisch ganz dem fol¬ genden kurzen Verse entspricht, woraus eine eigentümliche, das Gedicht sehr wohl kleidende Bewegung entspringt. Die erste und die letzte Strophe zerfallen dem Sinne nach in zwei Hälften, wogegen in den beiden etwas ruhigern Mittel¬ strophen der zweite und dritte Vers untrennbar verbunden sind; die starke Interpunktion Vers 11 nach „Feld" ist ungehörig, sie stört den Fluß der Rede, fand sich wohl anch kaum in der Handschrift. Der Aufbau des Liedes ist einfach und klar. Nach den sehnsüchtigen Fragen hören wir, daß seit der Entfernung der Geliebten das Wetter trüb und regnerisch geworden ist, als ob der Himmel mit ihm traure; die Lust, die früher Stadt und Land erfüllt hat, ist geschwunden, auch die Nachtigall ist ihr gefolgt. Der Schluß spricht den Wunsch nach ihrer Rückkehr aus, wobei hervorgehoben wird, daß auch Hirt und Heerden sich nach ihr sehnen (bei dem Regenwetter fühlen sich diese, deren die Geliebte sich gefreut hat, unbehaglich), jn, wenn sie länger ausbleibt, wird der Mai zum Winter werden. Daß sich der Dichter aus dem Juni in den Mai versetzt, mag zunächst durch den Reim veranlaßt sein, es war aber auch ganz unbedenklich, da, wenn auch der trübe Regentag aus der Gegenwart genommen ist, doch das Lied bei aller Frische glücklich allgemein gehalten ist. Haben wir so die Haltlosigkeit aller Augriffe auf dieses hübsche Lied nach¬ gewiesen, die leider zeigen, an welcher unkritischen Kritik unsre sich hoch dünkende Goetheforschung krankt, so ist zugleich eine feste Burg gewonnen, von der aus wir die Verdächtigungen der auf gleicher Überlieferung beruhenden andern Straßburger Gedichte nun mit Ruhe abweisen können. Fragen wir, welche weitern Gedichte und in welcher Folge sie während der Straßburger Zeit entstanden sind. Bei der Darstellung der Saarbrücker Reise in „Wahrheit und Dichtung" lag Goethe ein ziemlich ausführliches Tagebuch vor, das er nach der Benutzung, wie er zu thun pflegte, vernichtet zu haben scheint, wenn es nicht, wie leider so vieles, verkommen oder verschleppt ist. Aber da er nach der getroffnen Anordnung uns dem Rückwege allein nach Sesenheim kommen sollte, obgleich in Wahrheit zwischen dieser Reise und der ersten Bekannt¬ schaft Friederikens drittehalb Monate lagen, mußte das Ende ganz verändert werden. Das Tagebuch wird auch wohl des einen oder mehrerer Gedichte dieser Reise gedacht haben, die nicht der noch ungekannten Friederike gelten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/462>, abgerufen am 23.07.2024.