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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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nicht Mi.' in dein Verzeichnis angeführten Gedichte wirklich Goethe angehören.
B. hält das Unmögliche für gewiß, daß hier der dreißigste März gemeint sei.
Aber sollte wirklich ein bestimmter Tag zur Bezeichnung eines Gedichtes gewählt
werden, so mußten doch, wenn nicht ein allgemein bekannter Festtag, wie Ostern,
Pfingsten, Weihnachten, als solcher genannt wurde, Monat und Jahr hinzu¬
gefügt sein. Der dreißigste Abend als Tagesangabe der Entstehung eiues
Liebesgedichtes wäre eine Albernheit. Ich habe längst in meiner Anzeige der
Weimarer Ausgabe die Auslosung "den Christabend" gegeben, und finde uoch
immer nichts Besseres. Von selbst ergiebt sich daraus, daß dieses so bezeichnete
Gedicht nichts mit dem darauf durch die Anfangsworte bezeichneten gemein
hat. Es wäre zu wünschen, daß dieser Teil des Verzeichnisses facsimilirt
würde, um zu scheu, wie es wirklich mit dein etwas sonderbar vortretenden
"Den XXX abend" bestellt sei; ich habe darüber eine eigene Vermutung. Die
Weimarer Ausgabe hat es leider in ihrer Vornehmheit nicht für würdig ge>
halten, die nötigen Facsimiles zu geben. Bielschowsky findet es nach seiner
kostbaren Entdeckung selbstverständlich, daß das ganze Gedicht nicht an dem¬
selben Abend geschrieben sein könne; mir scheint es offenbar, daß es thöricht
gewesen wäre, dem Gedichte eine Zeitbestimmung zu geben, die dem Inhalte
Widersprüche, und daß sich die rätselhafte Datirung nicht auf das in Rede
stehende Lied beziehen kann. "Willkommen und Abschied" bildet gegen das
einfache Saarbrücker Lied einen entschiednen Fortschritt. Mit lebhaften Farben
schildert der Dichter den Gegensatz des Empfangs und des Abschieds, und
dem heitern Willkommen läßt er gleichfalls einen Gegensatz, den des leiden-
schaftliche,u Nachtrittes durch den schaurigen Wald, vorangehen. Das er¬
greifende Zusammenwirken so verschiedner Gefühle giebt der Dichtung einen
bedeutenden Wert und zeigt die ganze frische Gestaltungskraft eiues wahren
Dichters; nur darin könnte man einen Mangel finde", daß nicht klar hervor¬
tritt, ob der Abschied vor einer notwendigen Trennung für immer erfolgt
oder mit der Aussicht auf Wiedersehn. Wahrscheinlich ist das erstere ge¬
meint, und so wäre das Gedicht gleichsam ein merkwürdiges Vorgesicht der wirk¬
lichen Trennung, zu der es im folgenden Jahre kam. Daß wir erst in der
dritten Strophe hören, wohin das verzehrende Geistesfeuer und die Glut des
Herzens den'Dichter treiben, der sich mit dem Ungestüm eines zur Schlacht
eilenden Helden aufs Pferd schwingt, stört die Wirkung durchaus nicht, viel¬
mehr wirkt der schroffe Übergang bedeutend. Freilich sahen die "Studien zur
Goethephilologie" (1880 S. N> f.) auch hier Anakreontik, die gegen die verun¬
glückte Schilderung der finstern Nacht kontrastire, aber auch hier ist ebenso
wenig Auakreontik (wenn nicht der treffende Gebrauch von Worten, dessen sich
diese spielend bedient, so heißen soll) wie verfehlte Nachahmung von Klopstock,
vielmehr Kraft, Anschaulichkeit und Eigentümlichkeit, wie man sie einen" so
jungen Dichter kaum zutrauen sollte. Selbst das Wort "wild" möchte ich


nicht Mi.' in dein Verzeichnis angeführten Gedichte wirklich Goethe angehören.
B. hält das Unmögliche für gewiß, daß hier der dreißigste März gemeint sei.
Aber sollte wirklich ein bestimmter Tag zur Bezeichnung eines Gedichtes gewählt
werden, so mußten doch, wenn nicht ein allgemein bekannter Festtag, wie Ostern,
Pfingsten, Weihnachten, als solcher genannt wurde, Monat und Jahr hinzu¬
gefügt sein. Der dreißigste Abend als Tagesangabe der Entstehung eiues
Liebesgedichtes wäre eine Albernheit. Ich habe längst in meiner Anzeige der
Weimarer Ausgabe die Auslosung „den Christabend" gegeben, und finde uoch
immer nichts Besseres. Von selbst ergiebt sich daraus, daß dieses so bezeichnete
Gedicht nichts mit dem darauf durch die Anfangsworte bezeichneten gemein
hat. Es wäre zu wünschen, daß dieser Teil des Verzeichnisses facsimilirt
würde, um zu scheu, wie es wirklich mit dein etwas sonderbar vortretenden
„Den XXX abend" bestellt sei; ich habe darüber eine eigene Vermutung. Die
Weimarer Ausgabe hat es leider in ihrer Vornehmheit nicht für würdig ge>
halten, die nötigen Facsimiles zu geben. Bielschowsky findet es nach seiner
kostbaren Entdeckung selbstverständlich, daß das ganze Gedicht nicht an dem¬
selben Abend geschrieben sein könne; mir scheint es offenbar, daß es thöricht
gewesen wäre, dem Gedichte eine Zeitbestimmung zu geben, die dem Inhalte
Widersprüche, und daß sich die rätselhafte Datirung nicht auf das in Rede
stehende Lied beziehen kann. „Willkommen und Abschied" bildet gegen das
einfache Saarbrücker Lied einen entschiednen Fortschritt. Mit lebhaften Farben
schildert der Dichter den Gegensatz des Empfangs und des Abschieds, und
dem heitern Willkommen läßt er gleichfalls einen Gegensatz, den des leiden-
schaftliche,u Nachtrittes durch den schaurigen Wald, vorangehen. Das er¬
greifende Zusammenwirken so verschiedner Gefühle giebt der Dichtung einen
bedeutenden Wert und zeigt die ganze frische Gestaltungskraft eiues wahren
Dichters; nur darin könnte man einen Mangel finde», daß nicht klar hervor¬
tritt, ob der Abschied vor einer notwendigen Trennung für immer erfolgt
oder mit der Aussicht auf Wiedersehn. Wahrscheinlich ist das erstere ge¬
meint, und so wäre das Gedicht gleichsam ein merkwürdiges Vorgesicht der wirk¬
lichen Trennung, zu der es im folgenden Jahre kam. Daß wir erst in der
dritten Strophe hören, wohin das verzehrende Geistesfeuer und die Glut des
Herzens den'Dichter treiben, der sich mit dem Ungestüm eines zur Schlacht
eilenden Helden aufs Pferd schwingt, stört die Wirkung durchaus nicht, viel¬
mehr wirkt der schroffe Übergang bedeutend. Freilich sahen die „Studien zur
Goethephilologie" (1880 S. N> f.) auch hier Anakreontik, die gegen die verun¬
glückte Schilderung der finstern Nacht kontrastire, aber auch hier ist ebenso
wenig Auakreontik (wenn nicht der treffende Gebrauch von Worten, dessen sich
diese spielend bedient, so heißen soll) wie verfehlte Nachahmung von Klopstock,
vielmehr Kraft, Anschaulichkeit und Eigentümlichkeit, wie man sie einen« so
jungen Dichter kaum zutrauen sollte. Selbst das Wort „wild" möchte ich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/464>, abgerufen am 23.07.2024.