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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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übergegangen ist. Mit demselben Rechte, wie heute an den Universitäten die
Professoren der philosophischen Fakultät denen der andern im Range durch-
aus gleichstehen, kann der moderne akademisch gebildete Gymnasiallehrer,
dessen sittliche Verantwortlichkeit wahrhaftig schwer genug wiegt, fordern, daß
er nicht geringer geschätzt werde, als der Jurist oder der Arzt. Wo das noch
nicht geschieht, da ist das noch die innerlich unberechtigt gewordene Nach¬
wirkung eines längst überwundenen Zustandes.

Freilich fehlt offenbar noch viel, daß eine allgemeine Zufriedenheit mit
dieser Gestaltung des höhern Schulwesens herrschte. Das Gegenteil ist der
Fall, und auch die Berliner Konferenz im Dezember 1890, die deshalb be¬
rufen wurde, hat daran nichts geändert, sie ist überhaupt trotz alles Geistes
und aller Erfahrung, die sich in ihr vereinigten, zu keinem eigentlich greif¬
baren Ergebnisse gelangt. Innerhalb des humanistischen Ghmnasinms hat
sich mit voller Schärfe herausgestellt, daß das alte Ziel des klassischen Sprach¬
unterrichts, die Beherrschung des Lateinischen in Wort und Schrift, thatsäch¬
lich bereits aufgegeben und also auch grundsätzlich aufzugeben ist zu Gunsten
eines tiefern Verständnisses der Klassiker, und daß deshalb das Griechische
in den Oberklassen dein Lateinischen ebenbürtig zur Seite zu treten hat.
Damit ist an die Stelle des formalen Prinzips im wesentlichen das sachliche
getreten. Aber es machen sich auch bereits gewichtige Stimmen geltend, die
den allgemeinen Bildungswert der Mathematik in der bisherigen Ausdehnung
des Betriebes bezweifeln und zu Gunsten der weit überwiegenden Mehrzahl
aller Schüler eine Entlastung in dieser Beziehung fordern, weil die erst seit
einigen Jahrzehnten erhobne Forderung einer gleichmäßigen Ausbildung in den
sprachlich-historischen und in den exakten Fächern zugleich eine drückende
Schablone sei. Andrerseits kehrt sich die moderne realistische Strömung gegen
die humanistischen Gymnasien überhaupt, sei es, weil ihre Wortführer wirklich
von der Verwerflichkeit dieses ganzen Bildungsganges überzeugt sind, sei es,
weil sie von der mehr taktischen Ansicht ausgehe"?, daß jeder Schlag gegen
das humanistische Gymnasium ein Schlag für das Realgymnasium sei. Da¬
zwischen drängt sich ein rein äußerlicher Gesichtspunkt, das Verlange" näm¬
lich, daß, um den Übergang von der einen Anstalt zur andern zu erleichtern,
und zwar nicht nur zwischen dem humanistischen und dem Realgymnasium,
sondern mich zwischen diesen und den Realschule", um also die Notwendigkeit
für die Eltern, die Entscheidung über die Wahl des Berufes ihrer Söhne
möglichst weit hinauszuschieben, ein so einheitlicher Unterbau für alle höher"
Anstalten etwa nach schwedischen Muster hergestellt und somit der fremd¬
sprachige Unterricht mit den moderne" Sprachen begonnen werde. Diese For¬
derung ist wesentlich aus den vielfach verfahrne" Schulverhältnissen Preu¬
ßens entsprungen, wo die Gymnasien in unzweckmäßiger Weise vermehrt
worden sind und durch ihre "Vorschulen" eine verfrühte Sonderung ihrer


Mandlungen in unser», höher» Schulwesen

übergegangen ist. Mit demselben Rechte, wie heute an den Universitäten die
Professoren der philosophischen Fakultät denen der andern im Range durch-
aus gleichstehen, kann der moderne akademisch gebildete Gymnasiallehrer,
dessen sittliche Verantwortlichkeit wahrhaftig schwer genug wiegt, fordern, daß
er nicht geringer geschätzt werde, als der Jurist oder der Arzt. Wo das noch
nicht geschieht, da ist das noch die innerlich unberechtigt gewordene Nach¬
wirkung eines längst überwundenen Zustandes.

Freilich fehlt offenbar noch viel, daß eine allgemeine Zufriedenheit mit
dieser Gestaltung des höhern Schulwesens herrschte. Das Gegenteil ist der
Fall, und auch die Berliner Konferenz im Dezember 1890, die deshalb be¬
rufen wurde, hat daran nichts geändert, sie ist überhaupt trotz alles Geistes
und aller Erfahrung, die sich in ihr vereinigten, zu keinem eigentlich greif¬
baren Ergebnisse gelangt. Innerhalb des humanistischen Ghmnasinms hat
sich mit voller Schärfe herausgestellt, daß das alte Ziel des klassischen Sprach¬
unterrichts, die Beherrschung des Lateinischen in Wort und Schrift, thatsäch¬
lich bereits aufgegeben und also auch grundsätzlich aufzugeben ist zu Gunsten
eines tiefern Verständnisses der Klassiker, und daß deshalb das Griechische
in den Oberklassen dein Lateinischen ebenbürtig zur Seite zu treten hat.
Damit ist an die Stelle des formalen Prinzips im wesentlichen das sachliche
getreten. Aber es machen sich auch bereits gewichtige Stimmen geltend, die
den allgemeinen Bildungswert der Mathematik in der bisherigen Ausdehnung
des Betriebes bezweifeln und zu Gunsten der weit überwiegenden Mehrzahl
aller Schüler eine Entlastung in dieser Beziehung fordern, weil die erst seit
einigen Jahrzehnten erhobne Forderung einer gleichmäßigen Ausbildung in den
sprachlich-historischen und in den exakten Fächern zugleich eine drückende
Schablone sei. Andrerseits kehrt sich die moderne realistische Strömung gegen
die humanistischen Gymnasien überhaupt, sei es, weil ihre Wortführer wirklich
von der Verwerflichkeit dieses ganzen Bildungsganges überzeugt sind, sei es,
weil sie von der mehr taktischen Ansicht ausgehe«?, daß jeder Schlag gegen
das humanistische Gymnasium ein Schlag für das Realgymnasium sei. Da¬
zwischen drängt sich ein rein äußerlicher Gesichtspunkt, das Verlange» näm¬
lich, daß, um den Übergang von der einen Anstalt zur andern zu erleichtern,
und zwar nicht nur zwischen dem humanistischen und dem Realgymnasium,
sondern mich zwischen diesen und den Realschule», um also die Notwendigkeit
für die Eltern, die Entscheidung über die Wahl des Berufes ihrer Söhne
möglichst weit hinauszuschieben, ein so einheitlicher Unterbau für alle höher»
Anstalten etwa nach schwedischen Muster hergestellt und somit der fremd¬
sprachige Unterricht mit den moderne» Sprachen begonnen werde. Diese For¬
derung ist wesentlich aus den vielfach verfahrne» Schulverhältnissen Preu¬
ßens entsprungen, wo die Gymnasien in unzweckmäßiger Weise vermehrt
worden sind und durch ihre „Vorschulen" eine verfrühte Sonderung ihrer


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[0302] Mandlungen in unser», höher» Schulwesen übergegangen ist. Mit demselben Rechte, wie heute an den Universitäten die Professoren der philosophischen Fakultät denen der andern im Range durch- aus gleichstehen, kann der moderne akademisch gebildete Gymnasiallehrer, dessen sittliche Verantwortlichkeit wahrhaftig schwer genug wiegt, fordern, daß er nicht geringer geschätzt werde, als der Jurist oder der Arzt. Wo das noch nicht geschieht, da ist das noch die innerlich unberechtigt gewordene Nach¬ wirkung eines längst überwundenen Zustandes. Freilich fehlt offenbar noch viel, daß eine allgemeine Zufriedenheit mit dieser Gestaltung des höhern Schulwesens herrschte. Das Gegenteil ist der Fall, und auch die Berliner Konferenz im Dezember 1890, die deshalb be¬ rufen wurde, hat daran nichts geändert, sie ist überhaupt trotz alles Geistes und aller Erfahrung, die sich in ihr vereinigten, zu keinem eigentlich greif¬ baren Ergebnisse gelangt. Innerhalb des humanistischen Ghmnasinms hat sich mit voller Schärfe herausgestellt, daß das alte Ziel des klassischen Sprach¬ unterrichts, die Beherrschung des Lateinischen in Wort und Schrift, thatsäch¬ lich bereits aufgegeben und also auch grundsätzlich aufzugeben ist zu Gunsten eines tiefern Verständnisses der Klassiker, und daß deshalb das Griechische in den Oberklassen dein Lateinischen ebenbürtig zur Seite zu treten hat. Damit ist an die Stelle des formalen Prinzips im wesentlichen das sachliche getreten. Aber es machen sich auch bereits gewichtige Stimmen geltend, die den allgemeinen Bildungswert der Mathematik in der bisherigen Ausdehnung des Betriebes bezweifeln und zu Gunsten der weit überwiegenden Mehrzahl aller Schüler eine Entlastung in dieser Beziehung fordern, weil die erst seit einigen Jahrzehnten erhobne Forderung einer gleichmäßigen Ausbildung in den sprachlich-historischen und in den exakten Fächern zugleich eine drückende Schablone sei. Andrerseits kehrt sich die moderne realistische Strömung gegen die humanistischen Gymnasien überhaupt, sei es, weil ihre Wortführer wirklich von der Verwerflichkeit dieses ganzen Bildungsganges überzeugt sind, sei es, weil sie von der mehr taktischen Ansicht ausgehe«?, daß jeder Schlag gegen das humanistische Gymnasium ein Schlag für das Realgymnasium sei. Da¬ zwischen drängt sich ein rein äußerlicher Gesichtspunkt, das Verlange» näm¬ lich, daß, um den Übergang von der einen Anstalt zur andern zu erleichtern, und zwar nicht nur zwischen dem humanistischen und dem Realgymnasium, sondern mich zwischen diesen und den Realschule», um also die Notwendigkeit für die Eltern, die Entscheidung über die Wahl des Berufes ihrer Söhne möglichst weit hinauszuschieben, ein so einheitlicher Unterbau für alle höher» Anstalten etwa nach schwedischen Muster hergestellt und somit der fremd¬ sprachige Unterricht mit den moderne» Sprachen begonnen werde. Diese For¬ derung ist wesentlich aus den vielfach verfahrne» Schulverhältnissen Preu¬ ßens entsprungen, wo die Gymnasien in unzweckmäßiger Weise vermehrt worden sind und durch ihre „Vorschulen" eine verfrühte Sonderung ihrer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/302>, abgerufen am 23.07.2024.