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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen in unserm höhern Schulwesen

Zöglinge von denen der Volksschule herbeigeführt haben. Anderwärts ist die
Volks- und Bürgerschule der gemeinsame Unterbau für alle höhern Schulen, und
auch die drei untern Klassen der humanistischen und der Realgymnasien bilden
schon jetzt für diese beiden Anstalten einen solchen, da ihre Unterrichtsfächer
und Lehrziele fast genau dieselben sind. Mit alledem verbindet sich die For¬
derung einer Verringerung der geistigen Anspannung überhaupt und einer
stärkern Pflege der körperlichen Ausbildung. Schließlich ist das Verlangen
der Lehrer an den höhern Schulen nach Gleichstellung mit den juristisch ge¬
bildeten Beamten überall in der entschiedensten Weise zum Ausdruck gelaugt.

Was folgt nur aus diesen Betrachtungen für die Schulrefvrmbewegung?
Ziehe" wir zunächst die Summe, so ergiebt sich dreierlei. Erstens hat die
höhere deutsche Schule von allem Anfang an starke fremde, nämlich antike
Bildungsmittel aufgenommen. Diese überwiegen lange Zeit derart, daß die
einheimischen völlig zurücktreten. Erst mit der Erstarkung der nationalen
Kultur "ud des nationalen Bewußtseins haben sich diese Elemente allmählich
Eingang in die höhere Schule verschafft, haben diese selbst umgestaltet, und
es ist sogar ein zweiter Weg für die wissenschaftliche Vorbildung entstanden.
Aber an der Grundlage der alten Sprachen, die schon der historische Zu¬
sammenhang unsrer Bildung fordert, ist stets und zwar bis heute festgehalten
worden; nur daß entsprechend der modernen historischen Weltauffassung die
sachliche Behandlung der antiken Litteraturen an Stelle der bloß formalen ge¬
treten ist. Zweitens hat sich die Vorbildung für die höhern praktischen Be-
rufsarten, die ursprünglich von der wissenschaftlichen nicht geschieden war, von
dieser seit dem vorigen Jahrhundert mit immer größerer Entschiedenheit ge¬
trennt und eigne, ihrem Zweck entsprechende Schulen begründet. Drittens
sind Lebenshaltung und Lebensnnsprüche der Lehrer überall gestiegen, wie es
ihrer wissenschaftlichen Vorbildung und der allgemeinen Kulturentwicklung ent¬
spricht. Das alles aber hat sich sehr langsam und allmählich, ohne jeden
Sprung vollzogen.

Daraus scheinen sich uns folgende Forderungen zu ergeben: 1. Die
Doppelheit der wissenschaftlichen Vorbildung, wie ihn die Gymnasien beider
Gattungen vermitteln, ist als historisch geworden und mit den modernen
Kulturverhältnissen übereinstimmend unumwunden anzuerkennen, die Berech¬
tigungen des Realgymnasiums sind demnach zu erweitern, vorausgesetzt, daß
das Latein in ihm seine Stellung behält. 2. Auf den yumanistischen Gym¬
nasien muß der altklassische Unterricht sein Übergewicht beyaupte", aber mit
den neuen Zielen. Der Betrieb der Mathematik ist auf den obern Stufen
zu beschränken oder freier zu gestalten. Ein einheitlicher Unterban für die
Gymnasien und die Realschulen ist zu verwerfen, weil er eine ganz unlogische
und der geschichtlichen Entwicklung widersprechende Vermischung zweier inner¬
lich durchaus verschiednen Schulgattnngen herbeiführe" und den Organismus


Wandlungen in unserm höhern Schulwesen

Zöglinge von denen der Volksschule herbeigeführt haben. Anderwärts ist die
Volks- und Bürgerschule der gemeinsame Unterbau für alle höhern Schulen, und
auch die drei untern Klassen der humanistischen und der Realgymnasien bilden
schon jetzt für diese beiden Anstalten einen solchen, da ihre Unterrichtsfächer
und Lehrziele fast genau dieselben sind. Mit alledem verbindet sich die For¬
derung einer Verringerung der geistigen Anspannung überhaupt und einer
stärkern Pflege der körperlichen Ausbildung. Schließlich ist das Verlangen
der Lehrer an den höhern Schulen nach Gleichstellung mit den juristisch ge¬
bildeten Beamten überall in der entschiedensten Weise zum Ausdruck gelaugt.

Was folgt nur aus diesen Betrachtungen für die Schulrefvrmbewegung?
Ziehe» wir zunächst die Summe, so ergiebt sich dreierlei. Erstens hat die
höhere deutsche Schule von allem Anfang an starke fremde, nämlich antike
Bildungsmittel aufgenommen. Diese überwiegen lange Zeit derart, daß die
einheimischen völlig zurücktreten. Erst mit der Erstarkung der nationalen
Kultur »ud des nationalen Bewußtseins haben sich diese Elemente allmählich
Eingang in die höhere Schule verschafft, haben diese selbst umgestaltet, und
es ist sogar ein zweiter Weg für die wissenschaftliche Vorbildung entstanden.
Aber an der Grundlage der alten Sprachen, die schon der historische Zu¬
sammenhang unsrer Bildung fordert, ist stets und zwar bis heute festgehalten
worden; nur daß entsprechend der modernen historischen Weltauffassung die
sachliche Behandlung der antiken Litteraturen an Stelle der bloß formalen ge¬
treten ist. Zweitens hat sich die Vorbildung für die höhern praktischen Be-
rufsarten, die ursprünglich von der wissenschaftlichen nicht geschieden war, von
dieser seit dem vorigen Jahrhundert mit immer größerer Entschiedenheit ge¬
trennt und eigne, ihrem Zweck entsprechende Schulen begründet. Drittens
sind Lebenshaltung und Lebensnnsprüche der Lehrer überall gestiegen, wie es
ihrer wissenschaftlichen Vorbildung und der allgemeinen Kulturentwicklung ent¬
spricht. Das alles aber hat sich sehr langsam und allmählich, ohne jeden
Sprung vollzogen.

Daraus scheinen sich uns folgende Forderungen zu ergeben: 1. Die
Doppelheit der wissenschaftlichen Vorbildung, wie ihn die Gymnasien beider
Gattungen vermitteln, ist als historisch geworden und mit den modernen
Kulturverhältnissen übereinstimmend unumwunden anzuerkennen, die Berech¬
tigungen des Realgymnasiums sind demnach zu erweitern, vorausgesetzt, daß
das Latein in ihm seine Stellung behält. 2. Auf den yumanistischen Gym¬
nasien muß der altklassische Unterricht sein Übergewicht beyaupte», aber mit
den neuen Zielen. Der Betrieb der Mathematik ist auf den obern Stufen
zu beschränken oder freier zu gestalten. Ein einheitlicher Unterban für die
Gymnasien und die Realschulen ist zu verwerfen, weil er eine ganz unlogische
und der geschichtlichen Entwicklung widersprechende Vermischung zweier inner¬
lich durchaus verschiednen Schulgattnngen herbeiführe» und den Organismus


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[0303] Wandlungen in unserm höhern Schulwesen Zöglinge von denen der Volksschule herbeigeführt haben. Anderwärts ist die Volks- und Bürgerschule der gemeinsame Unterbau für alle höhern Schulen, und auch die drei untern Klassen der humanistischen und der Realgymnasien bilden schon jetzt für diese beiden Anstalten einen solchen, da ihre Unterrichtsfächer und Lehrziele fast genau dieselben sind. Mit alledem verbindet sich die For¬ derung einer Verringerung der geistigen Anspannung überhaupt und einer stärkern Pflege der körperlichen Ausbildung. Schließlich ist das Verlangen der Lehrer an den höhern Schulen nach Gleichstellung mit den juristisch ge¬ bildeten Beamten überall in der entschiedensten Weise zum Ausdruck gelaugt. Was folgt nur aus diesen Betrachtungen für die Schulrefvrmbewegung? Ziehe» wir zunächst die Summe, so ergiebt sich dreierlei. Erstens hat die höhere deutsche Schule von allem Anfang an starke fremde, nämlich antike Bildungsmittel aufgenommen. Diese überwiegen lange Zeit derart, daß die einheimischen völlig zurücktreten. Erst mit der Erstarkung der nationalen Kultur »ud des nationalen Bewußtseins haben sich diese Elemente allmählich Eingang in die höhere Schule verschafft, haben diese selbst umgestaltet, und es ist sogar ein zweiter Weg für die wissenschaftliche Vorbildung entstanden. Aber an der Grundlage der alten Sprachen, die schon der historische Zu¬ sammenhang unsrer Bildung fordert, ist stets und zwar bis heute festgehalten worden; nur daß entsprechend der modernen historischen Weltauffassung die sachliche Behandlung der antiken Litteraturen an Stelle der bloß formalen ge¬ treten ist. Zweitens hat sich die Vorbildung für die höhern praktischen Be- rufsarten, die ursprünglich von der wissenschaftlichen nicht geschieden war, von dieser seit dem vorigen Jahrhundert mit immer größerer Entschiedenheit ge¬ trennt und eigne, ihrem Zweck entsprechende Schulen begründet. Drittens sind Lebenshaltung und Lebensnnsprüche der Lehrer überall gestiegen, wie es ihrer wissenschaftlichen Vorbildung und der allgemeinen Kulturentwicklung ent¬ spricht. Das alles aber hat sich sehr langsam und allmählich, ohne jeden Sprung vollzogen. Daraus scheinen sich uns folgende Forderungen zu ergeben: 1. Die Doppelheit der wissenschaftlichen Vorbildung, wie ihn die Gymnasien beider Gattungen vermitteln, ist als historisch geworden und mit den modernen Kulturverhältnissen übereinstimmend unumwunden anzuerkennen, die Berech¬ tigungen des Realgymnasiums sind demnach zu erweitern, vorausgesetzt, daß das Latein in ihm seine Stellung behält. 2. Auf den yumanistischen Gym¬ nasien muß der altklassische Unterricht sein Übergewicht beyaupte», aber mit den neuen Zielen. Der Betrieb der Mathematik ist auf den obern Stufen zu beschränken oder freier zu gestalten. Ein einheitlicher Unterban für die Gymnasien und die Realschulen ist zu verwerfen, weil er eine ganz unlogische und der geschichtlichen Entwicklung widersprechende Vermischung zweier inner¬ lich durchaus verschiednen Schulgattnngen herbeiführe» und den Organismus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/303>, abgerufen am 23.07.2024.