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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die soziale Lewegnng in Frankreich

Die rein wirtschaftlichen Fachvereine, sowohl die der Unternehmer als
die der Arbeiter, haben seit Erlas; uiid ans dem Boden des Gesetzes den er¬
freulichsten A"fschw""g genommen. Allerdings wurden die Präfckte" schon
in einem Ministerialreskript von 1884 angewiesen, die Entwicklung von Fach-
Vereinen nach Möglichkeit zu fördern. Dabei war ihnen aber ausdrücklich
untersagt, sich in die innern Angelegenheiten der Vereine zu mischen, und als
leitender Gedanke der Regierung a"sgesproche"l vertrauensvoll und unter
Nichtachtung der Gefahr einer gemeingefährlichen Organisation des Arbeiter-
standes korporative Bildungen in diesem zu stärken und zu verbreiten. So
ist in den Jahren 1884^-1890 die Zahl der Uuternehmervereine von 28?>
ans 1004 mit 22 Vereinsverbänden und insgesamt 87000 Mitglieder", die
der Arbeiterfachvereiiie i" derselben Zeit von 248 auf 1000 mit 24 um¬
fassenden Verbände" und insgesamt 124000 Mitgliedern gewachsen.

Werfe" wir einen vergleichenden Blick auf den heutige" Stand der Ver-
ei"ig""gsbestreb""ge" i" Deutschland. Auf Seite" der Unternehmer zeigt die
Großindustrie "eben verschiednen ausgebreitete", doch locker organisirten und
mehr den allgemeinen Interessen gewidmeten Verbänden einige kleine, aber
mächtige Organisationen zur Regelung der Produktion (Kartelle). Die Fest¬
setzung der Arbeitsbedingungen hatte, abgesehen von örtlichen Koalitionen der
Arbeitgeber gegen drohende oder ausgebrochene Arbeiterausstäude, nur der
Priuzipalsvereiu deutscher Vuchdrucker schon längst in sein Programm aufge¬
nommen. Dagegen sind im Kleingewerbe an >'!00000 selbständige Gewerbe¬
treibende in etwa 11000 alten und neuen Innungen mit etwa 150 örtlichen
Jnuungsausschnssen, 26 Jnnnngsverbänden und einer gemeinschaftlichen Zen¬
tralstelle in Berlin vereinigt. Ein stattlicher Erfolg -- wenn Zahlen bewiesen!
beider täuscht sich heute niemand mehr darüber, daß die deutschen Innungen
trotz allen Entgegenkommens der Gesetzgebung, trotz der Privilegien der
100o und l' der Gewerbeordnung durchaus des frischen, schafseusfreudigen
Geistes entbehren. Ob ihn wohl der sehnlichst verlangte Zunftzwang und
der Befähigungsnachweis bringen werden? Schlimmer noch freilich ist der
namentlich in Süddeutschland sich ausbreitende pessimistische Zug, der die In-
nungen antreibt, ihre Organisation mit eigner Hand zu zertrümmern. Auch
die Hoffnung, das; sich den durch das Unfallversichernngsgesetz geschaffenen
Berufsgenossenschaften neue lebenskräftige Gebilde angliedern würden, ist nicht
in Erfüllung gegangen. Man Hort die Besorgnis, daß diese Genossenschaften,
obwohl recht eigentlich ans Selbstverwaltung gegründet, einem selbstgeschaffenen
Bürokratismus verfallen. Umgekehrt ist die Gewerkschaftsbewegung ans
Seiten der Arbeiter seit Aufhebung des Svzialistengesetzes wieder im mächtigen
Vorwärtsstreben begriffen. Zwar steht sie hinter ihrem Vorbilde, den englische"
'l-'r^So unions mit über einer Million Mitgliedern noch weit zurück. Doch
wurde schon zu Ende des Jahres 18!>0 die Zahl der deutsche" gen>erkschaftlich


Die soziale Lewegnng in Frankreich

Die rein wirtschaftlichen Fachvereine, sowohl die der Unternehmer als
die der Arbeiter, haben seit Erlas; uiid ans dem Boden des Gesetzes den er¬
freulichsten A»fschw»»g genommen. Allerdings wurden die Präfckte» schon
in einem Ministerialreskript von 1884 angewiesen, die Entwicklung von Fach-
Vereinen nach Möglichkeit zu fördern. Dabei war ihnen aber ausdrücklich
untersagt, sich in die innern Angelegenheiten der Vereine zu mischen, und als
leitender Gedanke der Regierung a»sgesproche»l vertrauensvoll und unter
Nichtachtung der Gefahr einer gemeingefährlichen Organisation des Arbeiter-
standes korporative Bildungen in diesem zu stärken und zu verbreiten. So
ist in den Jahren 1884^-1890 die Zahl der Uuternehmervereine von 28?>
ans 1004 mit 22 Vereinsverbänden und insgesamt 87000 Mitglieder», die
der Arbeiterfachvereiiie i» derselben Zeit von 248 auf 1000 mit 24 um¬
fassenden Verbände» und insgesamt 124000 Mitgliedern gewachsen.

Werfe» wir einen vergleichenden Blick auf den heutige» Stand der Ver-
ei»ig»»gsbestreb»»ge» i» Deutschland. Auf Seite» der Unternehmer zeigt die
Großindustrie »eben verschiednen ausgebreitete», doch locker organisirten und
mehr den allgemeinen Interessen gewidmeten Verbänden einige kleine, aber
mächtige Organisationen zur Regelung der Produktion (Kartelle). Die Fest¬
setzung der Arbeitsbedingungen hatte, abgesehen von örtlichen Koalitionen der
Arbeitgeber gegen drohende oder ausgebrochene Arbeiterausstäude, nur der
Priuzipalsvereiu deutscher Vuchdrucker schon längst in sein Programm aufge¬
nommen. Dagegen sind im Kleingewerbe an >'!00000 selbständige Gewerbe¬
treibende in etwa 11000 alten und neuen Innungen mit etwa 150 örtlichen
Jnuungsausschnssen, 26 Jnnnngsverbänden und einer gemeinschaftlichen Zen¬
tralstelle in Berlin vereinigt. Ein stattlicher Erfolg — wenn Zahlen bewiesen!
beider täuscht sich heute niemand mehr darüber, daß die deutschen Innungen
trotz allen Entgegenkommens der Gesetzgebung, trotz der Privilegien der
100o und l' der Gewerbeordnung durchaus des frischen, schafseusfreudigen
Geistes entbehren. Ob ihn wohl der sehnlichst verlangte Zunftzwang und
der Befähigungsnachweis bringen werden? Schlimmer noch freilich ist der
namentlich in Süddeutschland sich ausbreitende pessimistische Zug, der die In-
nungen antreibt, ihre Organisation mit eigner Hand zu zertrümmern. Auch
die Hoffnung, das; sich den durch das Unfallversichernngsgesetz geschaffenen
Berufsgenossenschaften neue lebenskräftige Gebilde angliedern würden, ist nicht
in Erfüllung gegangen. Man Hort die Besorgnis, daß diese Genossenschaften,
obwohl recht eigentlich ans Selbstverwaltung gegründet, einem selbstgeschaffenen
Bürokratismus verfallen. Umgekehrt ist die Gewerkschaftsbewegung ans
Seiten der Arbeiter seit Aufhebung des Svzialistengesetzes wieder im mächtigen
Vorwärtsstreben begriffen. Zwar steht sie hinter ihrem Vorbilde, den englische»
'l-'r^So unions mit über einer Million Mitgliedern noch weit zurück. Doch
wurde schon zu Ende des Jahres 18!>0 die Zahl der deutsche» gen>erkschaftlich


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[0270] Die soziale Lewegnng in Frankreich Die rein wirtschaftlichen Fachvereine, sowohl die der Unternehmer als die der Arbeiter, haben seit Erlas; uiid ans dem Boden des Gesetzes den er¬ freulichsten A»fschw»»g genommen. Allerdings wurden die Präfckte» schon in einem Ministerialreskript von 1884 angewiesen, die Entwicklung von Fach- Vereinen nach Möglichkeit zu fördern. Dabei war ihnen aber ausdrücklich untersagt, sich in die innern Angelegenheiten der Vereine zu mischen, und als leitender Gedanke der Regierung a»sgesproche»l vertrauensvoll und unter Nichtachtung der Gefahr einer gemeingefährlichen Organisation des Arbeiter- standes korporative Bildungen in diesem zu stärken und zu verbreiten. So ist in den Jahren 1884^-1890 die Zahl der Uuternehmervereine von 28?> ans 1004 mit 22 Vereinsverbänden und insgesamt 87000 Mitglieder», die der Arbeiterfachvereiiie i» derselben Zeit von 248 auf 1000 mit 24 um¬ fassenden Verbände» und insgesamt 124000 Mitgliedern gewachsen. Werfe» wir einen vergleichenden Blick auf den heutige» Stand der Ver- ei»ig»»gsbestreb»»ge» i» Deutschland. Auf Seite» der Unternehmer zeigt die Großindustrie »eben verschiednen ausgebreitete», doch locker organisirten und mehr den allgemeinen Interessen gewidmeten Verbänden einige kleine, aber mächtige Organisationen zur Regelung der Produktion (Kartelle). Die Fest¬ setzung der Arbeitsbedingungen hatte, abgesehen von örtlichen Koalitionen der Arbeitgeber gegen drohende oder ausgebrochene Arbeiterausstäude, nur der Priuzipalsvereiu deutscher Vuchdrucker schon längst in sein Programm aufge¬ nommen. Dagegen sind im Kleingewerbe an >'!00000 selbständige Gewerbe¬ treibende in etwa 11000 alten und neuen Innungen mit etwa 150 örtlichen Jnuungsausschnssen, 26 Jnnnngsverbänden und einer gemeinschaftlichen Zen¬ tralstelle in Berlin vereinigt. Ein stattlicher Erfolg — wenn Zahlen bewiesen! beider täuscht sich heute niemand mehr darüber, daß die deutschen Innungen trotz allen Entgegenkommens der Gesetzgebung, trotz der Privilegien der 100o und l' der Gewerbeordnung durchaus des frischen, schafseusfreudigen Geistes entbehren. Ob ihn wohl der sehnlichst verlangte Zunftzwang und der Befähigungsnachweis bringen werden? Schlimmer noch freilich ist der namentlich in Süddeutschland sich ausbreitende pessimistische Zug, der die In- nungen antreibt, ihre Organisation mit eigner Hand zu zertrümmern. Auch die Hoffnung, das; sich den durch das Unfallversichernngsgesetz geschaffenen Berufsgenossenschaften neue lebenskräftige Gebilde angliedern würden, ist nicht in Erfüllung gegangen. Man Hort die Besorgnis, daß diese Genossenschaften, obwohl recht eigentlich ans Selbstverwaltung gegründet, einem selbstgeschaffenen Bürokratismus verfallen. Umgekehrt ist die Gewerkschaftsbewegung ans Seiten der Arbeiter seit Aufhebung des Svzialistengesetzes wieder im mächtigen Vorwärtsstreben begriffen. Zwar steht sie hinter ihrem Vorbilde, den englische» 'l-'r^So unions mit über einer Million Mitgliedern noch weit zurück. Doch wurde schon zu Ende des Jahres 18!>0 die Zahl der deutsche» gen>erkschaftlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/270>, abgerufen am 23.07.2024.