Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die soziale Bewegung in Frankreich

organisirten Arbiter auf über 270000 geschätzt, ungerechnet 00000 sogenannte
Hirsch-Dnnckerscher Gewerkvereinler, denen erst kürzlich und nicht ganz ohne
Grund der Vorwurf des mirr-,"iun" LvnIIi" gemacht worden ist. Ein auf den
14. März d. I. nach Halberstadt einberufener allgemeiner deutscher Gewerkschafts¬
kongreß, der sich hauptsächlich mit der Organisationsfrage besassen soll, ver¬
dient die ernsteste Beachtung. Bezeichnend für den jetzigen streng sozialdemo¬
kratischen Zug der Bewegung ist das in dein Einladuugsschreibeu enthaltene
Bekenntnis: die N^vtweudigkeit und Nützlichkeit der Gewerkschnftsvrgauisatiou
N^erde heute auch von den parteigenössischeu (!) Kreisen anerkannt; bis dahin
sei diesen die Gewerkschaftsbewegung nnsvmpathisch gewesen, weil sie fürchteten,
sie werde Selbstzweck werden (!> Also genau der umgekehrte Gang der
Entwickelung wie in Frankreich. Dort ein allmähliches Losreißen der Be¬
wegung von politischen Einflüssen, ein gewaltiger Aufschwung, sobald die rein
wirtschaftlichen Syndikate gesetzliche Anerkennung gefunden haben. Hier ein
immer rascheres Heruutergleiten in die Anne der Sozialdemokratie, obwohl auch
die deutschen Gewerkvereine in erster Linie auf Besserung ihrer wirtschaftlichen
Lage bedacht sind. Darf dies Wunder nehmen? So lange staatsfeindliche und
stantstrene, oder sagen wir lieber politische und nicht politische Arbeiterver¬
einigungen mit gleichem Maße gemessen werden, das heißt, so lange beide
gleichmäßig der mehr oder weniger wohlwollenden Willkür veralteter eiuzel-
staatlicher Vereinsgesetze überliefert sind, so lauge wird der Arbeiter lieber dort
Anschluß suchen, wo er nußer wirtschaftlicher Sicherung auch Befriedigung
mächtiger politischer Instinkte zu finden hofft. Entschlösse sich die Reichs¬
gesetzgebung, den Arbeitervereinigungen Korporationsrechte und damit die
unentbehrliche Grundlage genossenschaftlichen Gedeihens zuzugestehen, unter
der Bedingung, daß sie sich beschränken -- um mit dem französischen Gesetz
zu reden -- ans 1'6octo vt! In ave'öusv ac" iutvrvkj vvonvnüquo", inäustrivl",
ooinmörewux vt, ^rie,o1v": gewiß die große Masse der deutschen Arbeiterschaft
würde diese Bedingung gern annehmen. Ein großer Gewinn, die Scheidung
der politischen und der wirtschaftlichen Bewegung, würde, wie in Frankreich,
auch bei uus die fast unausbleibliche Folge sein. Es ist dringend zu wünschen,
daß der jetzt versammelte Reichstag nicht auseinandergeht, ohne diese bedeu¬
tungsvolle Frage gelöst zu haben. In der Sitzung vom 2. Dezember 1891
hat er eine Kommission zur Beratung eines vom Abg. Hirsch eingebrachten
Gesetzentwurfes ähnlicher Tendenz wie das französische Shndikatsgesetz berufen,
nachdem sich die Redner des Zentrums, des Freisinns und der Sozialdemo¬
kratie wohlwollend, die nationalliberale und die beiden konservativen Parteien
mehr oder weniger ablehnend hierzu geäußert hatten. Aus der Rede des
sozialdemokratischen Abgeordneten Molkenbnhr verdient bemerkt zu werden, daß
er es für eines der größten Verbrechen der Bernfsvereine erklärte, wenn sie
Parteipolitische Tendenzen verfolgen wollten.


Die soziale Bewegung in Frankreich

organisirten Arbiter auf über 270000 geschätzt, ungerechnet 00000 sogenannte
Hirsch-Dnnckerscher Gewerkvereinler, denen erst kürzlich und nicht ganz ohne
Grund der Vorwurf des mirr-,«iun» LvnIIi» gemacht worden ist. Ein auf den
14. März d. I. nach Halberstadt einberufener allgemeiner deutscher Gewerkschafts¬
kongreß, der sich hauptsächlich mit der Organisationsfrage besassen soll, ver¬
dient die ernsteste Beachtung. Bezeichnend für den jetzigen streng sozialdemo¬
kratischen Zug der Bewegung ist das in dein Einladuugsschreibeu enthaltene
Bekenntnis: die N^vtweudigkeit und Nützlichkeit der Gewerkschnftsvrgauisatiou
N^erde heute auch von den parteigenössischeu (!) Kreisen anerkannt; bis dahin
sei diesen die Gewerkschaftsbewegung nnsvmpathisch gewesen, weil sie fürchteten,
sie werde Selbstzweck werden (!> Also genau der umgekehrte Gang der
Entwickelung wie in Frankreich. Dort ein allmähliches Losreißen der Be¬
wegung von politischen Einflüssen, ein gewaltiger Aufschwung, sobald die rein
wirtschaftlichen Syndikate gesetzliche Anerkennung gefunden haben. Hier ein
immer rascheres Heruutergleiten in die Anne der Sozialdemokratie, obwohl auch
die deutschen Gewerkvereine in erster Linie auf Besserung ihrer wirtschaftlichen
Lage bedacht sind. Darf dies Wunder nehmen? So lange staatsfeindliche und
stantstrene, oder sagen wir lieber politische und nicht politische Arbeiterver¬
einigungen mit gleichem Maße gemessen werden, das heißt, so lange beide
gleichmäßig der mehr oder weniger wohlwollenden Willkür veralteter eiuzel-
staatlicher Vereinsgesetze überliefert sind, so lauge wird der Arbeiter lieber dort
Anschluß suchen, wo er nußer wirtschaftlicher Sicherung auch Befriedigung
mächtiger politischer Instinkte zu finden hofft. Entschlösse sich die Reichs¬
gesetzgebung, den Arbeitervereinigungen Korporationsrechte und damit die
unentbehrliche Grundlage genossenschaftlichen Gedeihens zuzugestehen, unter
der Bedingung, daß sie sich beschränken — um mit dem französischen Gesetz
zu reden — ans 1'6octo vt! In ave'öusv ac« iutvrvkj vvonvnüquo», inäustrivl»,
ooinmörewux vt, ^rie,o1v»: gewiß die große Masse der deutschen Arbeiterschaft
würde diese Bedingung gern annehmen. Ein großer Gewinn, die Scheidung
der politischen und der wirtschaftlichen Bewegung, würde, wie in Frankreich,
auch bei uus die fast unausbleibliche Folge sein. Es ist dringend zu wünschen,
daß der jetzt versammelte Reichstag nicht auseinandergeht, ohne diese bedeu¬
tungsvolle Frage gelöst zu haben. In der Sitzung vom 2. Dezember 1891
hat er eine Kommission zur Beratung eines vom Abg. Hirsch eingebrachten
Gesetzentwurfes ähnlicher Tendenz wie das französische Shndikatsgesetz berufen,
nachdem sich die Redner des Zentrums, des Freisinns und der Sozialdemo¬
kratie wohlwollend, die nationalliberale und die beiden konservativen Parteien
mehr oder weniger ablehnend hierzu geäußert hatten. Aus der Rede des
sozialdemokratischen Abgeordneten Molkenbnhr verdient bemerkt zu werden, daß
er es für eines der größten Verbrechen der Bernfsvereine erklärte, wenn sie
Parteipolitische Tendenzen verfolgen wollten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0271" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211439"/>
          <fw type="header" place="top"> Die soziale Bewegung in Frankreich</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_833" prev="#ID_832"> organisirten Arbiter auf über 270000 geschätzt, ungerechnet 00000 sogenannte<lb/>
Hirsch-Dnnckerscher Gewerkvereinler, denen erst kürzlich und nicht ganz ohne<lb/>
Grund der Vorwurf des mirr-,«iun» LvnIIi» gemacht worden ist. Ein auf den<lb/>
14. März d. I. nach Halberstadt einberufener allgemeiner deutscher Gewerkschafts¬<lb/>
kongreß, der sich hauptsächlich mit der Organisationsfrage besassen soll, ver¬<lb/>
dient die ernsteste Beachtung. Bezeichnend für den jetzigen streng sozialdemo¬<lb/>
kratischen Zug der Bewegung ist das in dein Einladuugsschreibeu enthaltene<lb/>
Bekenntnis: die N^vtweudigkeit und Nützlichkeit der Gewerkschnftsvrgauisatiou<lb/>
N^erde heute auch von den parteigenössischeu (!) Kreisen anerkannt; bis dahin<lb/>
sei diesen die Gewerkschaftsbewegung nnsvmpathisch gewesen, weil sie fürchteten,<lb/>
sie werde Selbstzweck werden (!&gt; Also genau der umgekehrte Gang der<lb/>
Entwickelung wie in Frankreich. Dort ein allmähliches Losreißen der Be¬<lb/>
wegung von politischen Einflüssen, ein gewaltiger Aufschwung, sobald die rein<lb/>
wirtschaftlichen Syndikate gesetzliche Anerkennung gefunden haben. Hier ein<lb/>
immer rascheres Heruutergleiten in die Anne der Sozialdemokratie, obwohl auch<lb/>
die deutschen Gewerkvereine in erster Linie auf Besserung ihrer wirtschaftlichen<lb/>
Lage bedacht sind. Darf dies Wunder nehmen? So lange staatsfeindliche und<lb/>
stantstrene, oder sagen wir lieber politische und nicht politische Arbeiterver¬<lb/>
einigungen mit gleichem Maße gemessen werden, das heißt, so lange beide<lb/>
gleichmäßig der mehr oder weniger wohlwollenden Willkür veralteter eiuzel-<lb/>
staatlicher Vereinsgesetze überliefert sind, so lauge wird der Arbeiter lieber dort<lb/>
Anschluß suchen, wo er nußer wirtschaftlicher Sicherung auch Befriedigung<lb/>
mächtiger politischer Instinkte zu finden hofft. Entschlösse sich die Reichs¬<lb/>
gesetzgebung, den Arbeitervereinigungen Korporationsrechte und damit die<lb/>
unentbehrliche Grundlage genossenschaftlichen Gedeihens zuzugestehen, unter<lb/>
der Bedingung, daß sie sich beschränken &#x2014; um mit dem französischen Gesetz<lb/>
zu reden &#x2014; ans 1'6octo vt! In ave'öusv ac« iutvrvkj vvonvnüquo», inäustrivl»,<lb/>
ooinmörewux vt, ^rie,o1v»: gewiß die große Masse der deutschen Arbeiterschaft<lb/>
würde diese Bedingung gern annehmen. Ein großer Gewinn, die Scheidung<lb/>
der politischen und der wirtschaftlichen Bewegung, würde, wie in Frankreich,<lb/>
auch bei uus die fast unausbleibliche Folge sein. Es ist dringend zu wünschen,<lb/>
daß der jetzt versammelte Reichstag nicht auseinandergeht, ohne diese bedeu¬<lb/>
tungsvolle Frage gelöst zu haben. In der Sitzung vom 2. Dezember 1891<lb/>
hat er eine Kommission zur Beratung eines vom Abg. Hirsch eingebrachten<lb/>
Gesetzentwurfes ähnlicher Tendenz wie das französische Shndikatsgesetz berufen,<lb/>
nachdem sich die Redner des Zentrums, des Freisinns und der Sozialdemo¬<lb/>
kratie wohlwollend, die nationalliberale und die beiden konservativen Parteien<lb/>
mehr oder weniger ablehnend hierzu geäußert hatten. Aus der Rede des<lb/>
sozialdemokratischen Abgeordneten Molkenbnhr verdient bemerkt zu werden, daß<lb/>
er es für eines der größten Verbrechen der Bernfsvereine erklärte, wenn sie<lb/>
Parteipolitische Tendenzen verfolgen wollten.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0271] Die soziale Bewegung in Frankreich organisirten Arbiter auf über 270000 geschätzt, ungerechnet 00000 sogenannte Hirsch-Dnnckerscher Gewerkvereinler, denen erst kürzlich und nicht ganz ohne Grund der Vorwurf des mirr-,«iun» LvnIIi» gemacht worden ist. Ein auf den 14. März d. I. nach Halberstadt einberufener allgemeiner deutscher Gewerkschafts¬ kongreß, der sich hauptsächlich mit der Organisationsfrage besassen soll, ver¬ dient die ernsteste Beachtung. Bezeichnend für den jetzigen streng sozialdemo¬ kratischen Zug der Bewegung ist das in dein Einladuugsschreibeu enthaltene Bekenntnis: die N^vtweudigkeit und Nützlichkeit der Gewerkschnftsvrgauisatiou N^erde heute auch von den parteigenössischeu (!) Kreisen anerkannt; bis dahin sei diesen die Gewerkschaftsbewegung nnsvmpathisch gewesen, weil sie fürchteten, sie werde Selbstzweck werden (!> Also genau der umgekehrte Gang der Entwickelung wie in Frankreich. Dort ein allmähliches Losreißen der Be¬ wegung von politischen Einflüssen, ein gewaltiger Aufschwung, sobald die rein wirtschaftlichen Syndikate gesetzliche Anerkennung gefunden haben. Hier ein immer rascheres Heruutergleiten in die Anne der Sozialdemokratie, obwohl auch die deutschen Gewerkvereine in erster Linie auf Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage bedacht sind. Darf dies Wunder nehmen? So lange staatsfeindliche und stantstrene, oder sagen wir lieber politische und nicht politische Arbeiterver¬ einigungen mit gleichem Maße gemessen werden, das heißt, so lange beide gleichmäßig der mehr oder weniger wohlwollenden Willkür veralteter eiuzel- staatlicher Vereinsgesetze überliefert sind, so lauge wird der Arbeiter lieber dort Anschluß suchen, wo er nußer wirtschaftlicher Sicherung auch Befriedigung mächtiger politischer Instinkte zu finden hofft. Entschlösse sich die Reichs¬ gesetzgebung, den Arbeitervereinigungen Korporationsrechte und damit die unentbehrliche Grundlage genossenschaftlichen Gedeihens zuzugestehen, unter der Bedingung, daß sie sich beschränken — um mit dem französischen Gesetz zu reden — ans 1'6octo vt! In ave'öusv ac« iutvrvkj vvonvnüquo», inäustrivl», ooinmörewux vt, ^rie,o1v»: gewiß die große Masse der deutschen Arbeiterschaft würde diese Bedingung gern annehmen. Ein großer Gewinn, die Scheidung der politischen und der wirtschaftlichen Bewegung, würde, wie in Frankreich, auch bei uus die fast unausbleibliche Folge sein. Es ist dringend zu wünschen, daß der jetzt versammelte Reichstag nicht auseinandergeht, ohne diese bedeu¬ tungsvolle Frage gelöst zu haben. In der Sitzung vom 2. Dezember 1891 hat er eine Kommission zur Beratung eines vom Abg. Hirsch eingebrachten Gesetzentwurfes ähnlicher Tendenz wie das französische Shndikatsgesetz berufen, nachdem sich die Redner des Zentrums, des Freisinns und der Sozialdemo¬ kratie wohlwollend, die nationalliberale und die beiden konservativen Parteien mehr oder weniger ablehnend hierzu geäußert hatten. Aus der Rede des sozialdemokratischen Abgeordneten Molkenbnhr verdient bemerkt zu werden, daß er es für eines der größten Verbrechen der Bernfsvereine erklärte, wenn sie Parteipolitische Tendenzen verfolgen wollten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/271
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/271>, abgerufen am 23.07.2024.