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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Berlin die Stimme Deutschlands?

Wir halten es, ehrlich gestanden, in nationaler Beziehung für einen
Mißgriff, daß man Berlin seinerzeit zur Reichshauptstadt gemacht hat, denn
eine im Reiche allgemein so unbeliebte Stadt zum Mittelpunkt eines nur locker
zusammengehaltuen Staatswesens wühlen, heißt denn doch den Einheits¬
gedanken auf eine harte Probe stellen. Mit großer Freude wurde es begrüßt,
als man das Reichsgericht nach Leipzig legte und damit gleichsam den Plau
durchbrach, die ganze Reichsmaschine in Berlin aufzubauen. Man Hütte nur
noch weiter gehen und auch für den Reichstag eine andre Stadt auswählen
sollen. Es würde das sicher zum Segen für Deutschland gewesen sein;
wenigstens würden dann die Abgeordneten, etwa in Kassel oder in Hannover,
mit größerer Ruhe' und Sammlung arbeiten und mehr mit Herz und Geist
bei der Sache sein, als inmitten der betäubenden Zerstreuungen einer Mil¬
lionenstadt. Für einige wäre es dann ganz überflüssig, ihre Reden aus dem
Fenster zu halten, für andre würde die geheime Angst vor dem Berliner
Janhagel und seinen Barrikaden verschwinden.

Nachdem Berlin nun zwanzig Jahre lang die erste Stelle im Reiche
eingenommen hat, müssen wir eingestehen, daß es sich dieser Ehre sehr
wenig würdig gezeigt, daß es nicht das Geringste dazu gethan hat, die deutsche
Einheit zu pflegen, die Gegensätze im Reiche zu versöhnen und ein Vorbild
für die deutschen Städte zu sein. Wir brauchen hierbei nicht an die zahl¬
losen grauenhaften Szenen voll sittlicher Verworfenheit zu erinnern, die sich im
letzten Jahre in Berlin abgespielt haben, nicht an die betrügerischen Banke¬
rotte angesehener Bankhäuser, nicht an den brutalen Materialismus, die fri¬
volen Grundsätze und Lebensanschnuungen, die deu größten Teil der Berliner
Handelswelt beherrschen -- das alles ist noch frisch in jedermanns Gedächtnis
und trägt schwerlich dazu bei, im Reiche Achtung und Sympathie für die
Hauptstadt zu erwecken. Je mehr wir uns mit dem Charakter des heutigen
Berlins beschäftigen, desto mehr drängt sich uns die Ansicht ans, daß wir in
Berlin das Wesen zweier Städte in unangenehmer Mischung wiederfinden,
das von Warschau und das von Paris. Was von dem alte" Berlin, das
schon seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts sehr wenig von dem ge¬
diegnen, kernigen alten Märkertum aufzuweisen hat, als Ingrediens zu dieser
charakteristischen Mischung hinzukommt, das ist die geschwätzige, renommirende
Halbbildung, das selbstgefällige "schnoddrige" Wesen, das platte, geistlose Phili¬
stertum mit seinem ewigen Bierhäuser und Skatspielen, die stumpfsinnige
Reisewut, die reist, uur um da und dort gewesen zu sein, die kindische
Neugierde, die Klatsch- und Skandalsucht der Bourgeoisie, und das blasirte,
schneidig thuende Fatzkentum der Geld- und Gebnrtsaristokratie. Daß aus
solcher durch die geschichtliche Vergangenheit, durch die geographische Lage
und andre Verhältnisse bewirkten Mischung nichts Gesundes und Erfreuliches
hervorgehen kann, ist doch klar. Daher die völlige Urteilslosigkeit und Ver-


Berlin die Stimme Deutschlands?

Wir halten es, ehrlich gestanden, in nationaler Beziehung für einen
Mißgriff, daß man Berlin seinerzeit zur Reichshauptstadt gemacht hat, denn
eine im Reiche allgemein so unbeliebte Stadt zum Mittelpunkt eines nur locker
zusammengehaltuen Staatswesens wühlen, heißt denn doch den Einheits¬
gedanken auf eine harte Probe stellen. Mit großer Freude wurde es begrüßt,
als man das Reichsgericht nach Leipzig legte und damit gleichsam den Plau
durchbrach, die ganze Reichsmaschine in Berlin aufzubauen. Man Hütte nur
noch weiter gehen und auch für den Reichstag eine andre Stadt auswählen
sollen. Es würde das sicher zum Segen für Deutschland gewesen sein;
wenigstens würden dann die Abgeordneten, etwa in Kassel oder in Hannover,
mit größerer Ruhe' und Sammlung arbeiten und mehr mit Herz und Geist
bei der Sache sein, als inmitten der betäubenden Zerstreuungen einer Mil¬
lionenstadt. Für einige wäre es dann ganz überflüssig, ihre Reden aus dem
Fenster zu halten, für andre würde die geheime Angst vor dem Berliner
Janhagel und seinen Barrikaden verschwinden.

Nachdem Berlin nun zwanzig Jahre lang die erste Stelle im Reiche
eingenommen hat, müssen wir eingestehen, daß es sich dieser Ehre sehr
wenig würdig gezeigt, daß es nicht das Geringste dazu gethan hat, die deutsche
Einheit zu pflegen, die Gegensätze im Reiche zu versöhnen und ein Vorbild
für die deutschen Städte zu sein. Wir brauchen hierbei nicht an die zahl¬
losen grauenhaften Szenen voll sittlicher Verworfenheit zu erinnern, die sich im
letzten Jahre in Berlin abgespielt haben, nicht an die betrügerischen Banke¬
rotte angesehener Bankhäuser, nicht an den brutalen Materialismus, die fri¬
volen Grundsätze und Lebensanschnuungen, die deu größten Teil der Berliner
Handelswelt beherrschen — das alles ist noch frisch in jedermanns Gedächtnis
und trägt schwerlich dazu bei, im Reiche Achtung und Sympathie für die
Hauptstadt zu erwecken. Je mehr wir uns mit dem Charakter des heutigen
Berlins beschäftigen, desto mehr drängt sich uns die Ansicht ans, daß wir in
Berlin das Wesen zweier Städte in unangenehmer Mischung wiederfinden,
das von Warschau und das von Paris. Was von dem alte» Berlin, das
schon seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts sehr wenig von dem ge¬
diegnen, kernigen alten Märkertum aufzuweisen hat, als Ingrediens zu dieser
charakteristischen Mischung hinzukommt, das ist die geschwätzige, renommirende
Halbbildung, das selbstgefällige „schnoddrige" Wesen, das platte, geistlose Phili¬
stertum mit seinem ewigen Bierhäuser und Skatspielen, die stumpfsinnige
Reisewut, die reist, uur um da und dort gewesen zu sein, die kindische
Neugierde, die Klatsch- und Skandalsucht der Bourgeoisie, und das blasirte,
schneidig thuende Fatzkentum der Geld- und Gebnrtsaristokratie. Daß aus
solcher durch die geschichtliche Vergangenheit, durch die geographische Lage
und andre Verhältnisse bewirkten Mischung nichts Gesundes und Erfreuliches
hervorgehen kann, ist doch klar. Daher die völlige Urteilslosigkeit und Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/151>, abgerufen am 29.06.2024.