Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Berlin die Stimme Deutschlands?

pfnng eines uns alle bedrohenden Umsturzes, zu dessen Abwehr sich Konser¬
vative, Nationalliberale und Zentrumsanhänger mit den Freisinnigen vereinigen
können. Sehr schön, wenn nur die Thaten und Folgen des Freisinns nicht
in so krassen Widerspruch zu solchen Worten stünden! Denn das wird doch
jeder zugeben müssen, der nicht so kurzsichtig ist, wie Richters Buchbinder¬
meister, daß nichts so sehr dazu beiträgt das Kleinbürgertum zu schwächen,
den kleinen Bauern vollends die Taschen zu leeren, die Selbständigkeit des
Mittelstands zu untergraben und damit der Sozialdemokrntie in die Hände
zu arbeiten, als die einseitige Befolgung der Lehren des Manchestertums und
die Proklamirung der schrankenlosen persönlichen Freiheit und der entfesselten
Konkurrenz des Großkapitals, die an niemand einen beredteren Anwalt hat,
als eben am Freisinn. Daran ist Herr Richter trotz seines schönen Büchleins
in Wahrheit nicht ein Gegner, sondern ein Verbündeter, und sein Freisinn
nicht eine Bekämpfung, sondern eine Vorfrucht der Sozialdemokratie.




Berlin die stimme Deutschlands?

le^letzten Tage des alten Jahres haben den Berliner Zeitungen
wieder reichlich Gelegenheit gegeben, Dithyramben auf die Reichs¬
hauptstadt anzustimmen. Nicht genug thun können sich die Blätter
darin, und seltsamerweise gerade die jüdischen, alles zu rühmen
und zu preisen, was Berlin im verflossenen Jahre erstrebt und
erreicht hat. Ja man merkt es den Lobesartikcln ordentlich an, mit welchem
Behagen und welcher Selbstgefälligkeit sie geschrieben worden sind, wie eifrig
sich die Verfasser bemühen, den dummen Provinzinlen und andern Reichs¬
deutschen klar zu machen, daß Berlin jetzt wirklich Deutschlands Kops
und Herz geworden sei, und daß man in allen politischen, gesellschaftlichen,
künstlerischen und litterarischen Fragen das Urteil Berlins als die Stimme
Deutschlands anzuerkennen habe. Wir sind im Reiche seit Jahren an eine
gute Portion Anmaßung der Berliner gewöhnt und haben dazu geschwiegen,
aber diese Unverfrorenheit, sich dem Auslande gegenüber als die maßgebenden
Vertreter des wahren Deutschtums aufzuspielen, müssen wir denn doch ener¬
gisch zurückweisen. So lange wir in Deutschland noch Städte wie Köln,
Stuttgart, München und Leipzig haben, werden wir Berlin niemals das
Recht einräumen, sich zum Führer Deutschlands und zum Träger deutscher Sitte
und deutschen Geistes aufzuwerfen.


Berlin die Stimme Deutschlands?

pfnng eines uns alle bedrohenden Umsturzes, zu dessen Abwehr sich Konser¬
vative, Nationalliberale und Zentrumsanhänger mit den Freisinnigen vereinigen
können. Sehr schön, wenn nur die Thaten und Folgen des Freisinns nicht
in so krassen Widerspruch zu solchen Worten stünden! Denn das wird doch
jeder zugeben müssen, der nicht so kurzsichtig ist, wie Richters Buchbinder¬
meister, daß nichts so sehr dazu beiträgt das Kleinbürgertum zu schwächen,
den kleinen Bauern vollends die Taschen zu leeren, die Selbständigkeit des
Mittelstands zu untergraben und damit der Sozialdemokrntie in die Hände
zu arbeiten, als die einseitige Befolgung der Lehren des Manchestertums und
die Proklamirung der schrankenlosen persönlichen Freiheit und der entfesselten
Konkurrenz des Großkapitals, die an niemand einen beredteren Anwalt hat,
als eben am Freisinn. Daran ist Herr Richter trotz seines schönen Büchleins
in Wahrheit nicht ein Gegner, sondern ein Verbündeter, und sein Freisinn
nicht eine Bekämpfung, sondern eine Vorfrucht der Sozialdemokratie.




Berlin die stimme Deutschlands?

le^letzten Tage des alten Jahres haben den Berliner Zeitungen
wieder reichlich Gelegenheit gegeben, Dithyramben auf die Reichs¬
hauptstadt anzustimmen. Nicht genug thun können sich die Blätter
darin, und seltsamerweise gerade die jüdischen, alles zu rühmen
und zu preisen, was Berlin im verflossenen Jahre erstrebt und
erreicht hat. Ja man merkt es den Lobesartikcln ordentlich an, mit welchem
Behagen und welcher Selbstgefälligkeit sie geschrieben worden sind, wie eifrig
sich die Verfasser bemühen, den dummen Provinzinlen und andern Reichs¬
deutschen klar zu machen, daß Berlin jetzt wirklich Deutschlands Kops
und Herz geworden sei, und daß man in allen politischen, gesellschaftlichen,
künstlerischen und litterarischen Fragen das Urteil Berlins als die Stimme
Deutschlands anzuerkennen habe. Wir sind im Reiche seit Jahren an eine
gute Portion Anmaßung der Berliner gewöhnt und haben dazu geschwiegen,
aber diese Unverfrorenheit, sich dem Auslande gegenüber als die maßgebenden
Vertreter des wahren Deutschtums aufzuspielen, müssen wir denn doch ener¬
gisch zurückweisen. So lange wir in Deutschland noch Städte wie Köln,
Stuttgart, München und Leipzig haben, werden wir Berlin niemals das
Recht einräumen, sich zum Führer Deutschlands und zum Träger deutscher Sitte
und deutschen Geistes aufzuwerfen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0150" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211318"/>
          <fw type="header" place="top"> Berlin die Stimme Deutschlands?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_442" prev="#ID_441"> pfnng eines uns alle bedrohenden Umsturzes, zu dessen Abwehr sich Konser¬<lb/>
vative, Nationalliberale und Zentrumsanhänger mit den Freisinnigen vereinigen<lb/>
können. Sehr schön, wenn nur die Thaten und Folgen des Freisinns nicht<lb/>
in so krassen Widerspruch zu solchen Worten stünden! Denn das wird doch<lb/>
jeder zugeben müssen, der nicht so kurzsichtig ist, wie Richters Buchbinder¬<lb/>
meister, daß nichts so sehr dazu beiträgt das Kleinbürgertum zu schwächen,<lb/>
den kleinen Bauern vollends die Taschen zu leeren, die Selbständigkeit des<lb/>
Mittelstands zu untergraben und damit der Sozialdemokrntie in die Hände<lb/>
zu arbeiten, als die einseitige Befolgung der Lehren des Manchestertums und<lb/>
die Proklamirung der schrankenlosen persönlichen Freiheit und der entfesselten<lb/>
Konkurrenz des Großkapitals, die an niemand einen beredteren Anwalt hat,<lb/>
als eben am Freisinn. Daran ist Herr Richter trotz seines schönen Büchleins<lb/>
in Wahrheit nicht ein Gegner, sondern ein Verbündeter, und sein Freisinn<lb/>
nicht eine Bekämpfung, sondern eine Vorfrucht der Sozialdemokratie.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Berlin die stimme Deutschlands?</head><lb/>
          <p xml:id="ID_443"> le^letzten Tage des alten Jahres haben den Berliner Zeitungen<lb/>
wieder reichlich Gelegenheit gegeben, Dithyramben auf die Reichs¬<lb/>
hauptstadt anzustimmen. Nicht genug thun können sich die Blätter<lb/>
darin, und seltsamerweise gerade die jüdischen, alles zu rühmen<lb/>
und zu preisen, was Berlin im verflossenen Jahre erstrebt und<lb/>
erreicht hat. Ja man merkt es den Lobesartikcln ordentlich an, mit welchem<lb/>
Behagen und welcher Selbstgefälligkeit sie geschrieben worden sind, wie eifrig<lb/>
sich die Verfasser bemühen, den dummen Provinzinlen und andern Reichs¬<lb/>
deutschen klar zu machen, daß Berlin jetzt wirklich Deutschlands Kops<lb/>
und Herz geworden sei, und daß man in allen politischen, gesellschaftlichen,<lb/>
künstlerischen und litterarischen Fragen das Urteil Berlins als die Stimme<lb/>
Deutschlands anzuerkennen habe. Wir sind im Reiche seit Jahren an eine<lb/>
gute Portion Anmaßung der Berliner gewöhnt und haben dazu geschwiegen,<lb/>
aber diese Unverfrorenheit, sich dem Auslande gegenüber als die maßgebenden<lb/>
Vertreter des wahren Deutschtums aufzuspielen, müssen wir denn doch ener¬<lb/>
gisch zurückweisen. So lange wir in Deutschland noch Städte wie Köln,<lb/>
Stuttgart, München und Leipzig haben, werden wir Berlin niemals das<lb/>
Recht einräumen, sich zum Führer Deutschlands und zum Träger deutscher Sitte<lb/>
und deutschen Geistes aufzuwerfen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0150] Berlin die Stimme Deutschlands? pfnng eines uns alle bedrohenden Umsturzes, zu dessen Abwehr sich Konser¬ vative, Nationalliberale und Zentrumsanhänger mit den Freisinnigen vereinigen können. Sehr schön, wenn nur die Thaten und Folgen des Freisinns nicht in so krassen Widerspruch zu solchen Worten stünden! Denn das wird doch jeder zugeben müssen, der nicht so kurzsichtig ist, wie Richters Buchbinder¬ meister, daß nichts so sehr dazu beiträgt das Kleinbürgertum zu schwächen, den kleinen Bauern vollends die Taschen zu leeren, die Selbständigkeit des Mittelstands zu untergraben und damit der Sozialdemokrntie in die Hände zu arbeiten, als die einseitige Befolgung der Lehren des Manchestertums und die Proklamirung der schrankenlosen persönlichen Freiheit und der entfesselten Konkurrenz des Großkapitals, die an niemand einen beredteren Anwalt hat, als eben am Freisinn. Daran ist Herr Richter trotz seines schönen Büchleins in Wahrheit nicht ein Gegner, sondern ein Verbündeter, und sein Freisinn nicht eine Bekämpfung, sondern eine Vorfrucht der Sozialdemokratie. Berlin die stimme Deutschlands? le^letzten Tage des alten Jahres haben den Berliner Zeitungen wieder reichlich Gelegenheit gegeben, Dithyramben auf die Reichs¬ hauptstadt anzustimmen. Nicht genug thun können sich die Blätter darin, und seltsamerweise gerade die jüdischen, alles zu rühmen und zu preisen, was Berlin im verflossenen Jahre erstrebt und erreicht hat. Ja man merkt es den Lobesartikcln ordentlich an, mit welchem Behagen und welcher Selbstgefälligkeit sie geschrieben worden sind, wie eifrig sich die Verfasser bemühen, den dummen Provinzinlen und andern Reichs¬ deutschen klar zu machen, daß Berlin jetzt wirklich Deutschlands Kops und Herz geworden sei, und daß man in allen politischen, gesellschaftlichen, künstlerischen und litterarischen Fragen das Urteil Berlins als die Stimme Deutschlands anzuerkennen habe. Wir sind im Reiche seit Jahren an eine gute Portion Anmaßung der Berliner gewöhnt und haben dazu geschwiegen, aber diese Unverfrorenheit, sich dem Auslande gegenüber als die maßgebenden Vertreter des wahren Deutschtums aufzuspielen, müssen wir denn doch ener¬ gisch zurückweisen. So lange wir in Deutschland noch Städte wie Köln, Stuttgart, München und Leipzig haben, werden wir Berlin niemals das Recht einräumen, sich zum Führer Deutschlands und zum Träger deutscher Sitte und deutschen Geistes aufzuwerfen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/150
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/150>, abgerufen am 01.07.2024.