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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Gugen Richters sozialdemokratische Zukunftsbilder

ein Beweis für des lebenden Richters Bescheidenheit, ebenso die in einer Note
zur großen Freiheitsrede gegebene, scheinbar nebensächliche Bemerkung, daß
die "Irrlehren der Sozialdemokratie," (fünfzig Pfennige), gleichfalls in 80000
Exemplaren verbreitet seien. Daß diese Reklame vollends Leuten eines
künftigen Jahrhunderts in den Mund gelegt wird, macht diese Szene noch
widerlicher; wahrlich, mau meint einen Pfau sich spreizen zu sehen!

Unwahrscheinlich ist es, daß sich ein so fleißiger Meister mit seiner Familie,
in der so viel Liebe, Zusammenhalt, Familiengefühl herrscht, in der sich so
viel gesundes Urteil findet, und deren Mitglieder so viel menschlich schöne
Seiten zeigen, überhaupt zu sozialdemokratischen Grundsätzen sollte bekehren
lassen. Schon seine nach dem Gemütlichen hin angelegte Natur müßte sich
von der Irreligiosität der Sozialdemokratie abgestoßen fühlen. So aber er¬
fahren wir von seinem Verhältnis zur Religion und wie er sich zur neuen
religiösen Ordnung stellt, gar nichts als objektive Berichte darüber, daß die
Kirchen dem Gottesdienst entzogen, für Staatseigentum erklärt und zu Ver-
gnüguugsloknlen umgewandelt sind, und daß, wenn sich einer dem Beruf
eines Geistlichen widmen will, er dies in seinen Mußestunden und nach Er¬
füllung der normalen Arbeitszeit in einem staatsseitig (!) anerkannten Beruf
zu thun hat.

Unwahrscheinlich ist es, daß der ehrsame Buchbindermeister den Gedanken-
flug zeigt, der S. 18 in die Worte ausbricht: "Eins nur raubt dem Flügel¬
schlag meiner Seele deu höhern Schwung," oder wenn er von seiner tauben
Paula sagt: "Auch der Gleichmut ihrer Seele wird wieder zurückkehren."
(>r<zag,t ^nau-vus ^xollg.!

Unwahrscheinlich ist es, daß der schon 25 Jahre verheiratete noch die
zarten Anwandlungen hat, die sich S. 11 zeigen; unwahrscheinlich, daß er,!
wenn er wirklich ein "gesinnungstüchtiger und zielbewußter" Sozialdemokrat
gewesen wäre, von einem "verewigten" Bebel oder Liebknecht gesprochen hätte.

Unwahrscheinlich ist es, daß die Franzosen und Russen die in den Sumpf
der "allgemeinen Vergesellschaftung" versunkenen Deutschen besiege", da doch
bei ihnen gleichfalls der Sozialismus eingeführt ist, sie sich somit in gleicher
Verdammnis befinden. Oder sollte nicht ein Hauch der frühern Tüchtigkeit
auch jetzt noch im deutschen Soldaten fortleben, so gut wie Richters Geist in
dem zukünftigen Abgeordneten für Hagen?

Von den sonstigen UnWahrscheinlichkeiten und Ungeheuerlichkeiten, die
durch die "Dichtung" gefordert werden, um die Zustände eines sozialistischen
Staates mit möglichst grellen Lichtern beleuchten und als möglichst sinnwidrig
hinstellen zu können, soll hier abgesehen werden. Sie nachzuweisen ist Sache
der "zielbewußter" Anhänger der neuen Ordnung.

Nun könnte einer sagen: Das sind alles doch bloß Nebendinge; die
Hauptsache ist, daß das Schriftchen eine mächtige Waffe liefert zur Bekam-


Gugen Richters sozialdemokratische Zukunftsbilder

ein Beweis für des lebenden Richters Bescheidenheit, ebenso die in einer Note
zur großen Freiheitsrede gegebene, scheinbar nebensächliche Bemerkung, daß
die „Irrlehren der Sozialdemokratie," (fünfzig Pfennige), gleichfalls in 80000
Exemplaren verbreitet seien. Daß diese Reklame vollends Leuten eines
künftigen Jahrhunderts in den Mund gelegt wird, macht diese Szene noch
widerlicher; wahrlich, mau meint einen Pfau sich spreizen zu sehen!

Unwahrscheinlich ist es, daß sich ein so fleißiger Meister mit seiner Familie,
in der so viel Liebe, Zusammenhalt, Familiengefühl herrscht, in der sich so
viel gesundes Urteil findet, und deren Mitglieder so viel menschlich schöne
Seiten zeigen, überhaupt zu sozialdemokratischen Grundsätzen sollte bekehren
lassen. Schon seine nach dem Gemütlichen hin angelegte Natur müßte sich
von der Irreligiosität der Sozialdemokratie abgestoßen fühlen. So aber er¬
fahren wir von seinem Verhältnis zur Religion und wie er sich zur neuen
religiösen Ordnung stellt, gar nichts als objektive Berichte darüber, daß die
Kirchen dem Gottesdienst entzogen, für Staatseigentum erklärt und zu Ver-
gnüguugsloknlen umgewandelt sind, und daß, wenn sich einer dem Beruf
eines Geistlichen widmen will, er dies in seinen Mußestunden und nach Er¬
füllung der normalen Arbeitszeit in einem staatsseitig (!) anerkannten Beruf
zu thun hat.

Unwahrscheinlich ist es, daß der ehrsame Buchbindermeister den Gedanken-
flug zeigt, der S. 18 in die Worte ausbricht: „Eins nur raubt dem Flügel¬
schlag meiner Seele deu höhern Schwung," oder wenn er von seiner tauben
Paula sagt: „Auch der Gleichmut ihrer Seele wird wieder zurückkehren."
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Unwahrscheinlich ist es, daß der schon 25 Jahre verheiratete noch die
zarten Anwandlungen hat, die sich S. 11 zeigen; unwahrscheinlich, daß er,!
wenn er wirklich ein „gesinnungstüchtiger und zielbewußter" Sozialdemokrat
gewesen wäre, von einem „verewigten" Bebel oder Liebknecht gesprochen hätte.

Unwahrscheinlich ist es, daß die Franzosen und Russen die in den Sumpf
der „allgemeinen Vergesellschaftung" versunkenen Deutschen besiege», da doch
bei ihnen gleichfalls der Sozialismus eingeführt ist, sie sich somit in gleicher
Verdammnis befinden. Oder sollte nicht ein Hauch der frühern Tüchtigkeit
auch jetzt noch im deutschen Soldaten fortleben, so gut wie Richters Geist in
dem zukünftigen Abgeordneten für Hagen?

Von den sonstigen UnWahrscheinlichkeiten und Ungeheuerlichkeiten, die
durch die „Dichtung" gefordert werden, um die Zustände eines sozialistischen
Staates mit möglichst grellen Lichtern beleuchten und als möglichst sinnwidrig
hinstellen zu können, soll hier abgesehen werden. Sie nachzuweisen ist Sache
der „zielbewußter" Anhänger der neuen Ordnung.

Nun könnte einer sagen: Das sind alles doch bloß Nebendinge; die
Hauptsache ist, daß das Schriftchen eine mächtige Waffe liefert zur Bekam-


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[0149] Gugen Richters sozialdemokratische Zukunftsbilder ein Beweis für des lebenden Richters Bescheidenheit, ebenso die in einer Note zur großen Freiheitsrede gegebene, scheinbar nebensächliche Bemerkung, daß die „Irrlehren der Sozialdemokratie," (fünfzig Pfennige), gleichfalls in 80000 Exemplaren verbreitet seien. Daß diese Reklame vollends Leuten eines künftigen Jahrhunderts in den Mund gelegt wird, macht diese Szene noch widerlicher; wahrlich, mau meint einen Pfau sich spreizen zu sehen! Unwahrscheinlich ist es, daß sich ein so fleißiger Meister mit seiner Familie, in der so viel Liebe, Zusammenhalt, Familiengefühl herrscht, in der sich so viel gesundes Urteil findet, und deren Mitglieder so viel menschlich schöne Seiten zeigen, überhaupt zu sozialdemokratischen Grundsätzen sollte bekehren lassen. Schon seine nach dem Gemütlichen hin angelegte Natur müßte sich von der Irreligiosität der Sozialdemokratie abgestoßen fühlen. So aber er¬ fahren wir von seinem Verhältnis zur Religion und wie er sich zur neuen religiösen Ordnung stellt, gar nichts als objektive Berichte darüber, daß die Kirchen dem Gottesdienst entzogen, für Staatseigentum erklärt und zu Ver- gnüguugsloknlen umgewandelt sind, und daß, wenn sich einer dem Beruf eines Geistlichen widmen will, er dies in seinen Mußestunden und nach Er¬ füllung der normalen Arbeitszeit in einem staatsseitig (!) anerkannten Beruf zu thun hat. Unwahrscheinlich ist es, daß der ehrsame Buchbindermeister den Gedanken- flug zeigt, der S. 18 in die Worte ausbricht: „Eins nur raubt dem Flügel¬ schlag meiner Seele deu höhern Schwung," oder wenn er von seiner tauben Paula sagt: „Auch der Gleichmut ihrer Seele wird wieder zurückkehren." (>r<zag,t ^nau-vus ^xollg.! Unwahrscheinlich ist es, daß der schon 25 Jahre verheiratete noch die zarten Anwandlungen hat, die sich S. 11 zeigen; unwahrscheinlich, daß er,! wenn er wirklich ein „gesinnungstüchtiger und zielbewußter" Sozialdemokrat gewesen wäre, von einem „verewigten" Bebel oder Liebknecht gesprochen hätte. Unwahrscheinlich ist es, daß die Franzosen und Russen die in den Sumpf der „allgemeinen Vergesellschaftung" versunkenen Deutschen besiege», da doch bei ihnen gleichfalls der Sozialismus eingeführt ist, sie sich somit in gleicher Verdammnis befinden. Oder sollte nicht ein Hauch der frühern Tüchtigkeit auch jetzt noch im deutschen Soldaten fortleben, so gut wie Richters Geist in dem zukünftigen Abgeordneten für Hagen? Von den sonstigen UnWahrscheinlichkeiten und Ungeheuerlichkeiten, die durch die „Dichtung" gefordert werden, um die Zustände eines sozialistischen Staates mit möglichst grellen Lichtern beleuchten und als möglichst sinnwidrig hinstellen zu können, soll hier abgesehen werden. Sie nachzuweisen ist Sache der „zielbewußter" Anhänger der neuen Ordnung. Nun könnte einer sagen: Das sind alles doch bloß Nebendinge; die Hauptsache ist, daß das Schriftchen eine mächtige Waffe liefert zur Bekam-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/149>, abgerufen am 01.10.2024.