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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Lügen Richters sozialdemokratische Zukunftsbilder

Richter S. 20 zitirt: "Laßt fahren nur dahin!" wollen wir ihm nicht so
sehr verübeln; er hat im Reichstage zu viel zu thun, als daß er sich um den
richtigen Wortlaut evangelischer Kirchenliederstrophen bekümmern könnte; daß ihn
aber S. 22 bei Anführung der Verse aus Schillers Glocke: "Das ist es, was
den Menschen zieret" u. s. w. jeder Quartaner verbessern kann, ist doch schlimm.

Im ganzen ist über die Schrift nach ihrer formellen Seite zu sagen, daß
der Verfasser der "Sprachdummheiten," wenn er eine neue Auflage seines
"nachgerade" berühmt gewordnen Buches veranstaltet, an unserm grünen
Büchlein eine reiche Fundgrube von Belegstellen haben wird.

Wie steht es nun aber mit dem Inhalt? Bei der Besprechung dieser Seite
des Schriftchens kommt mir ein Bundesgenosse entgegen in B. Augusts gelbem
Heft mit dem Titel: "E. Richters sozialdemokratische Zerrbilder," das
Richter nicht nur an Billigkeit (20 Pfennige), sondern auch an Grobheit über¬
trifft und gegenüber der "Dichtung" Richters den Standpunkt des wirklichen,
und zwar des gemäßigten Sozialdemokraten hervorkehrt. Ich will mir seine
nichts weniger als schmeichelhaften Schlußfolgerungen, daß die Bilder nicht
"frei nach Bebel" verfaßt, sondern ein unfreier Abklatsch Bellamys seien, daß
Herr Richter nicht nur die Wahrheit maltrtttire, sondern auch die Logik, daß
seine Begriffe über Geld, Kapital, Zinsfuß u. f. w. der verworrensten Art
zu sein schienen, daß der Freisinn ein Maulheldentum sei, daß Richter mit seiner
Schrift niemand habe überzeugen, sondern nur das Kleinbürgertum habe schrecken
und einfangen wollen, durchaus nicht zu eigen machen. Aber manche be¬
merkenswerte Einwendungen bringt er doch gegen Richters "Fiktion und Farce"
vor, nämlich daß es eine Ungeheuerlichkeit und Verrennung des deutscheu
Charakters sei, wenn Richter den deutschen Michel durch eine blutige Revo¬
lution die neue Gesellschaftsordnung einführen lasse; zweitens daß es bei
den heutigen Erwerbsverhältuissen unmöglich sei, daß sich die offenbar noch
ganz junge Anna in so kurzer Zeit ohne Prostitution l!) zweitausend Mark
gespart habe, wobei der poetischen Anna eine wirkliche Putzmacherin "Putz-
mariechen" entgegengehalten wird; weiter daß die von Richter als innerlich un¬
möglich geschilderten Formen des Kommunismus nicht nnr praktisch ihre
Feuerprobe schon bestanden Hütten in China, sondern gerade aus China den
zähesten, lebenskräftigsten, ja sogar einen unsre Kultur bedrohenden Staat
gemacht hätten; daß man mit "Zukunftsbildern" den erkrankten Organismus
der modernen Gesellschaft nicht heile u. s. w.

Außerdem drängen sich noch folgende Wahrnehmungen auf. Unwahr¬
scheinlich ist es. daß ein simpler Buchbindermeister überhaupt solche Auf¬
zeichnungen zu machen imstande sein sollte. Es spricht ja anch in Wahrheit
überall Richter aus ihm, ebenso wie aus dem Abgeordneten von Hagen, obgleich
Richter als verstorben hingestellt wird. (Nebenbei bemerkt, daß des toten
Richters Feuergeist auch in seinem Nachfolger weiterlebt, ist sehr hübsch und


Lügen Richters sozialdemokratische Zukunftsbilder

Richter S. 20 zitirt: „Laßt fahren nur dahin!" wollen wir ihm nicht so
sehr verübeln; er hat im Reichstage zu viel zu thun, als daß er sich um den
richtigen Wortlaut evangelischer Kirchenliederstrophen bekümmern könnte; daß ihn
aber S. 22 bei Anführung der Verse aus Schillers Glocke: „Das ist es, was
den Menschen zieret" u. s. w. jeder Quartaner verbessern kann, ist doch schlimm.

Im ganzen ist über die Schrift nach ihrer formellen Seite zu sagen, daß
der Verfasser der „Sprachdummheiten," wenn er eine neue Auflage seines
„nachgerade" berühmt gewordnen Buches veranstaltet, an unserm grünen
Büchlein eine reiche Fundgrube von Belegstellen haben wird.

Wie steht es nun aber mit dem Inhalt? Bei der Besprechung dieser Seite
des Schriftchens kommt mir ein Bundesgenosse entgegen in B. Augusts gelbem
Heft mit dem Titel: „E. Richters sozialdemokratische Zerrbilder," das
Richter nicht nur an Billigkeit (20 Pfennige), sondern auch an Grobheit über¬
trifft und gegenüber der „Dichtung" Richters den Standpunkt des wirklichen,
und zwar des gemäßigten Sozialdemokraten hervorkehrt. Ich will mir seine
nichts weniger als schmeichelhaften Schlußfolgerungen, daß die Bilder nicht
„frei nach Bebel" verfaßt, sondern ein unfreier Abklatsch Bellamys seien, daß
Herr Richter nicht nur die Wahrheit maltrtttire, sondern auch die Logik, daß
seine Begriffe über Geld, Kapital, Zinsfuß u. f. w. der verworrensten Art
zu sein schienen, daß der Freisinn ein Maulheldentum sei, daß Richter mit seiner
Schrift niemand habe überzeugen, sondern nur das Kleinbürgertum habe schrecken
und einfangen wollen, durchaus nicht zu eigen machen. Aber manche be¬
merkenswerte Einwendungen bringt er doch gegen Richters „Fiktion und Farce"
vor, nämlich daß es eine Ungeheuerlichkeit und Verrennung des deutscheu
Charakters sei, wenn Richter den deutschen Michel durch eine blutige Revo¬
lution die neue Gesellschaftsordnung einführen lasse; zweitens daß es bei
den heutigen Erwerbsverhältuissen unmöglich sei, daß sich die offenbar noch
ganz junge Anna in so kurzer Zeit ohne Prostitution l!) zweitausend Mark
gespart habe, wobei der poetischen Anna eine wirkliche Putzmacherin „Putz-
mariechen" entgegengehalten wird; weiter daß die von Richter als innerlich un¬
möglich geschilderten Formen des Kommunismus nicht nnr praktisch ihre
Feuerprobe schon bestanden Hütten in China, sondern gerade aus China den
zähesten, lebenskräftigsten, ja sogar einen unsre Kultur bedrohenden Staat
gemacht hätten; daß man mit „Zukunftsbildern" den erkrankten Organismus
der modernen Gesellschaft nicht heile u. s. w.

Außerdem drängen sich noch folgende Wahrnehmungen auf. Unwahr¬
scheinlich ist es. daß ein simpler Buchbindermeister überhaupt solche Auf¬
zeichnungen zu machen imstande sein sollte. Es spricht ja anch in Wahrheit
überall Richter aus ihm, ebenso wie aus dem Abgeordneten von Hagen, obgleich
Richter als verstorben hingestellt wird. (Nebenbei bemerkt, daß des toten
Richters Feuergeist auch in seinem Nachfolger weiterlebt, ist sehr hübsch und


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[0148] Lügen Richters sozialdemokratische Zukunftsbilder Richter S. 20 zitirt: „Laßt fahren nur dahin!" wollen wir ihm nicht so sehr verübeln; er hat im Reichstage zu viel zu thun, als daß er sich um den richtigen Wortlaut evangelischer Kirchenliederstrophen bekümmern könnte; daß ihn aber S. 22 bei Anführung der Verse aus Schillers Glocke: „Das ist es, was den Menschen zieret" u. s. w. jeder Quartaner verbessern kann, ist doch schlimm. Im ganzen ist über die Schrift nach ihrer formellen Seite zu sagen, daß der Verfasser der „Sprachdummheiten," wenn er eine neue Auflage seines „nachgerade" berühmt gewordnen Buches veranstaltet, an unserm grünen Büchlein eine reiche Fundgrube von Belegstellen haben wird. Wie steht es nun aber mit dem Inhalt? Bei der Besprechung dieser Seite des Schriftchens kommt mir ein Bundesgenosse entgegen in B. Augusts gelbem Heft mit dem Titel: „E. Richters sozialdemokratische Zerrbilder," das Richter nicht nur an Billigkeit (20 Pfennige), sondern auch an Grobheit über¬ trifft und gegenüber der „Dichtung" Richters den Standpunkt des wirklichen, und zwar des gemäßigten Sozialdemokraten hervorkehrt. Ich will mir seine nichts weniger als schmeichelhaften Schlußfolgerungen, daß die Bilder nicht „frei nach Bebel" verfaßt, sondern ein unfreier Abklatsch Bellamys seien, daß Herr Richter nicht nur die Wahrheit maltrtttire, sondern auch die Logik, daß seine Begriffe über Geld, Kapital, Zinsfuß u. f. w. der verworrensten Art zu sein schienen, daß der Freisinn ein Maulheldentum sei, daß Richter mit seiner Schrift niemand habe überzeugen, sondern nur das Kleinbürgertum habe schrecken und einfangen wollen, durchaus nicht zu eigen machen. Aber manche be¬ merkenswerte Einwendungen bringt er doch gegen Richters „Fiktion und Farce" vor, nämlich daß es eine Ungeheuerlichkeit und Verrennung des deutscheu Charakters sei, wenn Richter den deutschen Michel durch eine blutige Revo¬ lution die neue Gesellschaftsordnung einführen lasse; zweitens daß es bei den heutigen Erwerbsverhältuissen unmöglich sei, daß sich die offenbar noch ganz junge Anna in so kurzer Zeit ohne Prostitution l!) zweitausend Mark gespart habe, wobei der poetischen Anna eine wirkliche Putzmacherin „Putz- mariechen" entgegengehalten wird; weiter daß die von Richter als innerlich un¬ möglich geschilderten Formen des Kommunismus nicht nnr praktisch ihre Feuerprobe schon bestanden Hütten in China, sondern gerade aus China den zähesten, lebenskräftigsten, ja sogar einen unsre Kultur bedrohenden Staat gemacht hätten; daß man mit „Zukunftsbildern" den erkrankten Organismus der modernen Gesellschaft nicht heile u. s. w. Außerdem drängen sich noch folgende Wahrnehmungen auf. Unwahr¬ scheinlich ist es. daß ein simpler Buchbindermeister überhaupt solche Auf¬ zeichnungen zu machen imstande sein sollte. Es spricht ja anch in Wahrheit überall Richter aus ihm, ebenso wie aus dem Abgeordneten von Hagen, obgleich Richter als verstorben hingestellt wird. (Nebenbei bemerkt, daß des toten Richters Feuergeist auch in seinem Nachfolger weiterlebt, ist sehr hübsch und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/148>, abgerufen am 23.07.2024.