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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Schweizer Dichter

im Schwelgen ein der Geschichte berauscht hatte und aus dem Übermaß^der
Begeisterung in die äußerste Skepsis tiersiel. Die Mittel, die uns zur Kenntnis
von vergangnen Geschlechtern verhelfen, sind zum überwiegenden Teile
die der Sprache, der litterarischen Urkunden, zu denen noch die bild¬
lichen Darstellungen treten. Sind das nicht dieselben Mittel, mit deren Hilfe
wir auch die Gegenwart erkennen? Wer seine Zeit verstehen will, muß
Menschen in allen Ländern aufsuchen, muß viel lesen, viel verkehren; aber im
Grunde schöpft der moderne Dichter das eigentliche Element der Poesie aus
seiner eignen Brust: seine Ideale, seine Wünsche, seinen Haß und seine Liebe
scheint er auch von außen in die Zeitgenossen hinein, oder: er schlüpft auf
den Flügeln der Phantasie in das andre Menschendasein und lebt es im Geiste
durch. Ganz genau so macht es nun Conrad Ferdinand Meyer in seinen
historischen Dichtungen. Seine Kenntnisse der äußern Erscheinung der Men¬
schen schöpft er geradeso, wie der Dichter der Gegenwart, aus sprachlicher
und bildlicher Wahrnehmung (Überlieferung); aber das wahre Leben der
Menschen muß er aus seinem eignen Gemüt erraten und schaffen. Die Quelle
der Poesie ist in beiden Gebieten der Erzählungskunst gleich. Und was die
Wahrheit, d. h. die Kvngrnenz des Bildes mit der Wirklichkeit betrifft --,
ja, ist denn diese Kongruenz jemals erreichbar, und wenn man alle Bildersäle
der Welt reproduzirte? Kann es denn hier eine andre Wahrheit geben, als
die des lebendigen Gefühls einer Persönlichkeit? Hat denn die Geschichte als
Wissenschaft eine andre "Wahrheit," als die in der Persönlichkeit des Histo¬
rikers selbst beruhende? Die "Wahrheit" in der Geschichte ist eben keine ab¬
strakte Erkenntnis, keine Formel, sondern ein Gefühlsinhalt. Die Geschichte
als Wissenschaft erreicht ihr höchstes Ziel, wenn sie die Vergangenheit nicht
etwa bloß zur Einsicht, zum Bewußtsein, sondern zum Gefühl, zu einer so leb¬
haften Anschauung bringt, als wäre sie Gegenwart; sie erreicht ihr Ziel, wenn
sie -- kurz gesagt - in der Poesie aufgeht. Denn da sie von Menschen
lehrt, so muß sie mit dem vollen Bewußtsein der Menschlichkeit, das jeder¬
mann besitzen soll, arbeiten. Die Wahrheit, d. h. das Gefühl vom Menschen¬
leben, muß demnach überall die gleiche sein. Der rechte Historiker muß eine
starke poetische Kraft haben, um die über der Geschichte stehende Menschen¬
natur in der Geschichte zu erfassen. Der Unterschied ist nur, daß der Dichter
eines historischen Stoffes seine ganze Aufmerksamkeit auf vie Darstellung der
in der Geschichte sich offenbarenden ewigen Menschennatur vereinigt, der Ge¬
lehrte bloß auf die Wandlungen der ewig gleichen Natur aufmerksam bleibt.
Der Dichter strebt nach schönen Wirkungen, der Gelehrte nur nach Kenntnissen.
Aber erst der Dichter erklärt dem Gelehrten in der That die Wahrheit in der
Geschichte. Nur weil der Naturalismus das Dasein einer über der Geschichte
stehenden, ewig lebendigen sittlichen Natur der Menschheit leugnet, ist die Ver¬
wirrung entstanden, und er leugnet sie bloß, um für sich selbst Raum zu


Schweizer Dichter

im Schwelgen ein der Geschichte berauscht hatte und aus dem Übermaß^der
Begeisterung in die äußerste Skepsis tiersiel. Die Mittel, die uns zur Kenntnis
von vergangnen Geschlechtern verhelfen, sind zum überwiegenden Teile
die der Sprache, der litterarischen Urkunden, zu denen noch die bild¬
lichen Darstellungen treten. Sind das nicht dieselben Mittel, mit deren Hilfe
wir auch die Gegenwart erkennen? Wer seine Zeit verstehen will, muß
Menschen in allen Ländern aufsuchen, muß viel lesen, viel verkehren; aber im
Grunde schöpft der moderne Dichter das eigentliche Element der Poesie aus
seiner eignen Brust: seine Ideale, seine Wünsche, seinen Haß und seine Liebe
scheint er auch von außen in die Zeitgenossen hinein, oder: er schlüpft auf
den Flügeln der Phantasie in das andre Menschendasein und lebt es im Geiste
durch. Ganz genau so macht es nun Conrad Ferdinand Meyer in seinen
historischen Dichtungen. Seine Kenntnisse der äußern Erscheinung der Men¬
schen schöpft er geradeso, wie der Dichter der Gegenwart, aus sprachlicher
und bildlicher Wahrnehmung (Überlieferung); aber das wahre Leben der
Menschen muß er aus seinem eignen Gemüt erraten und schaffen. Die Quelle
der Poesie ist in beiden Gebieten der Erzählungskunst gleich. Und was die
Wahrheit, d. h. die Kvngrnenz des Bildes mit der Wirklichkeit betrifft —,
ja, ist denn diese Kongruenz jemals erreichbar, und wenn man alle Bildersäle
der Welt reproduzirte? Kann es denn hier eine andre Wahrheit geben, als
die des lebendigen Gefühls einer Persönlichkeit? Hat denn die Geschichte als
Wissenschaft eine andre „Wahrheit," als die in der Persönlichkeit des Histo¬
rikers selbst beruhende? Die „Wahrheit" in der Geschichte ist eben keine ab¬
strakte Erkenntnis, keine Formel, sondern ein Gefühlsinhalt. Die Geschichte
als Wissenschaft erreicht ihr höchstes Ziel, wenn sie die Vergangenheit nicht
etwa bloß zur Einsicht, zum Bewußtsein, sondern zum Gefühl, zu einer so leb¬
haften Anschauung bringt, als wäre sie Gegenwart; sie erreicht ihr Ziel, wenn
sie — kurz gesagt - in der Poesie aufgeht. Denn da sie von Menschen
lehrt, so muß sie mit dem vollen Bewußtsein der Menschlichkeit, das jeder¬
mann besitzen soll, arbeiten. Die Wahrheit, d. h. das Gefühl vom Menschen¬
leben, muß demnach überall die gleiche sein. Der rechte Historiker muß eine
starke poetische Kraft haben, um die über der Geschichte stehende Menschen¬
natur in der Geschichte zu erfassen. Der Unterschied ist nur, daß der Dichter
eines historischen Stoffes seine ganze Aufmerksamkeit auf vie Darstellung der
in der Geschichte sich offenbarenden ewigen Menschennatur vereinigt, der Ge¬
lehrte bloß auf die Wandlungen der ewig gleichen Natur aufmerksam bleibt.
Der Dichter strebt nach schönen Wirkungen, der Gelehrte nur nach Kenntnissen.
Aber erst der Dichter erklärt dem Gelehrten in der That die Wahrheit in der
Geschichte. Nur weil der Naturalismus das Dasein einer über der Geschichte
stehenden, ewig lebendigen sittlichen Natur der Menschheit leugnet, ist die Ver¬
wirrung entstanden, und er leugnet sie bloß, um für sich selbst Raum zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/139>, abgerufen am 23.07.2024.