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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Katholizismus

ganz vernünftig dachte und sprach. Seine Hausgenossen stellten -- natürlich
vergebens -- allerlei Versuche an, ihn von der Falschheit seiner Einbildung
zu überzeugen. Eines Tages bat ihn ein Freund, zu bestimmen, welcher seiner
in L. wohnenden Nachbarn ihn besuchen solle; binnen fünf Minuten werde er
da sein, und das sei doch von S. aus uicht möglich. Der Kranke bestimmte
den dicken Herrn T. Nach fünf Minuten trat dieser keuchend ins Kranken¬
zimmer. "Na, sehen Sie?" rief der Freund triumphirend. Der Kranke aber
erwiderte halb ärgerlich: "Ach, gehen Sie, mit dem Telegraphen ist alles
möglich!" Der Geisteskranke hat sein eigentümliches Sehorgan, mit dem er
Nichtvvrhandnes zu sehen, Vorhandnes nicht zu sehen vermag, er hat seine
eigne Logik, mit der er auch die widersprechendsten Thatsachen der ihn beherr¬
schenden Idee anzupassen vermag. Eine Glaubenslehre, in die man sich ein¬
gelebt, bildet ein gegen jeden Ansturm der Thatsachen gefestigtes System fixer
Ideen. (Das gilt auch von politischen, wissenschaftlichen und sozialen Glaubens¬
lehren.) Adam Möhler wirft einmal die Frage auf, wie es wohl möglich
gewesen sei, das; gebildete Männer jene ungeheuerlichen und phantastischen
Kindermärchen geglaubt hätten, ans denen das Lehrgebäude der Gnostiker be¬
stand, und er antwortet darauf, das System habe eben die Macht, den Geist
zu fesseln und jeden Widerspruch der Vernunft und der Thatsachen ans einer
feindlichen Waffe in eine Stütze zu verwaudel". Man hat dieser Tage wiederum
gesehen, wie gebildete Katholiken solche Verlegenheiten zu überwinden ver¬
stehen. Wenn irgend etwas in der Welt feststeht, so ist es die Thatsache,
daß der Kurie die weltliche Herrschaft des Papsttums mehr am Herzen liegt,
als das Wohl der ganze" Kirche und das Heil der Seelen. Wie dumm und
hastig beißt sie auf jeden Köder an, der ihr von einem Macht verheißenden
Mächtigen hingeworfen wird! Wie plump ist der Papst in der Hoffnung,
für sich etwas zu ergattern, bei der Septennatswcchl hineingefallen! Wie un¬
empfindlich er gegen das schreckliche Schicksal der russischen Uuirteu bleibt, um
es nur ja mit dem Zaren, dem Freunde Frankreichs nicht zu verderben, ward
erst kürzlich in den 'Grenzboten hervorgehoben. Die berüchtigten Artikel des
Osservatore Romano entsprechen durchaus diesen Traditionen. Nachdem des
Papstes Hoffnung, durch den mächtigen Vismarck ein Fleckchen italienischen
Landes unter seine Herrschaft zu bringen, zerronnen ist, hat er keinen Grund
Arr Freundschaft mehr für den Bundesgenossen seines Todfeindes. Daß die
deutschen Katholiken die treuesten, echtesten und frömmsten Katholiken der Welt
sind, das kümmert ihn jn nichts; als Italiener hat er gar kein Verständnis
für diese tiefe und echte Frömmigkeit, und wenn statt deS klugen Leo noch
der naive Pius ans Petri Stuhle säße, so würde es Herr von Schorlemer in
einen: offnen päpstlichen Sendschreiben zu lesen bekommen, daß der Osservatore
"indes schreiben darf als des Papstes eigne Meinung. Dieser Kelch wird nnn
zwar an dem edeln westfälischen Ritter vorübergehen, aber würde er ihm ge-


Zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Katholizismus

ganz vernünftig dachte und sprach. Seine Hausgenossen stellten — natürlich
vergebens — allerlei Versuche an, ihn von der Falschheit seiner Einbildung
zu überzeugen. Eines Tages bat ihn ein Freund, zu bestimmen, welcher seiner
in L. wohnenden Nachbarn ihn besuchen solle; binnen fünf Minuten werde er
da sein, und das sei doch von S. aus uicht möglich. Der Kranke bestimmte
den dicken Herrn T. Nach fünf Minuten trat dieser keuchend ins Kranken¬
zimmer. „Na, sehen Sie?" rief der Freund triumphirend. Der Kranke aber
erwiderte halb ärgerlich: „Ach, gehen Sie, mit dem Telegraphen ist alles
möglich!" Der Geisteskranke hat sein eigentümliches Sehorgan, mit dem er
Nichtvvrhandnes zu sehen, Vorhandnes nicht zu sehen vermag, er hat seine
eigne Logik, mit der er auch die widersprechendsten Thatsachen der ihn beherr¬
schenden Idee anzupassen vermag. Eine Glaubenslehre, in die man sich ein¬
gelebt, bildet ein gegen jeden Ansturm der Thatsachen gefestigtes System fixer
Ideen. (Das gilt auch von politischen, wissenschaftlichen und sozialen Glaubens¬
lehren.) Adam Möhler wirft einmal die Frage auf, wie es wohl möglich
gewesen sei, das; gebildete Männer jene ungeheuerlichen und phantastischen
Kindermärchen geglaubt hätten, ans denen das Lehrgebäude der Gnostiker be¬
stand, und er antwortet darauf, das System habe eben die Macht, den Geist
zu fesseln und jeden Widerspruch der Vernunft und der Thatsachen ans einer
feindlichen Waffe in eine Stütze zu verwaudel». Man hat dieser Tage wiederum
gesehen, wie gebildete Katholiken solche Verlegenheiten zu überwinden ver¬
stehen. Wenn irgend etwas in der Welt feststeht, so ist es die Thatsache,
daß der Kurie die weltliche Herrschaft des Papsttums mehr am Herzen liegt,
als das Wohl der ganze» Kirche und das Heil der Seelen. Wie dumm und
hastig beißt sie auf jeden Köder an, der ihr von einem Macht verheißenden
Mächtigen hingeworfen wird! Wie plump ist der Papst in der Hoffnung,
für sich etwas zu ergattern, bei der Septennatswcchl hineingefallen! Wie un¬
empfindlich er gegen das schreckliche Schicksal der russischen Uuirteu bleibt, um
es nur ja mit dem Zaren, dem Freunde Frankreichs nicht zu verderben, ward
erst kürzlich in den 'Grenzboten hervorgehoben. Die berüchtigten Artikel des
Osservatore Romano entsprechen durchaus diesen Traditionen. Nachdem des
Papstes Hoffnung, durch den mächtigen Vismarck ein Fleckchen italienischen
Landes unter seine Herrschaft zu bringen, zerronnen ist, hat er keinen Grund
Arr Freundschaft mehr für den Bundesgenossen seines Todfeindes. Daß die
deutschen Katholiken die treuesten, echtesten und frömmsten Katholiken der Welt
sind, das kümmert ihn jn nichts; als Italiener hat er gar kein Verständnis
für diese tiefe und echte Frömmigkeit, und wenn statt deS klugen Leo noch
der naive Pius ans Petri Stuhle säße, so würde es Herr von Schorlemer in
einen: offnen päpstlichen Sendschreiben zu lesen bekommen, daß der Osservatore
»indes schreiben darf als des Papstes eigne Meinung. Dieser Kelch wird nnn
zwar an dem edeln westfälischen Ritter vorübergehen, aber würde er ihm ge-


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[0605] Zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Katholizismus ganz vernünftig dachte und sprach. Seine Hausgenossen stellten — natürlich vergebens — allerlei Versuche an, ihn von der Falschheit seiner Einbildung zu überzeugen. Eines Tages bat ihn ein Freund, zu bestimmen, welcher seiner in L. wohnenden Nachbarn ihn besuchen solle; binnen fünf Minuten werde er da sein, und das sei doch von S. aus uicht möglich. Der Kranke bestimmte den dicken Herrn T. Nach fünf Minuten trat dieser keuchend ins Kranken¬ zimmer. „Na, sehen Sie?" rief der Freund triumphirend. Der Kranke aber erwiderte halb ärgerlich: „Ach, gehen Sie, mit dem Telegraphen ist alles möglich!" Der Geisteskranke hat sein eigentümliches Sehorgan, mit dem er Nichtvvrhandnes zu sehen, Vorhandnes nicht zu sehen vermag, er hat seine eigne Logik, mit der er auch die widersprechendsten Thatsachen der ihn beherr¬ schenden Idee anzupassen vermag. Eine Glaubenslehre, in die man sich ein¬ gelebt, bildet ein gegen jeden Ansturm der Thatsachen gefestigtes System fixer Ideen. (Das gilt auch von politischen, wissenschaftlichen und sozialen Glaubens¬ lehren.) Adam Möhler wirft einmal die Frage auf, wie es wohl möglich gewesen sei, das; gebildete Männer jene ungeheuerlichen und phantastischen Kindermärchen geglaubt hätten, ans denen das Lehrgebäude der Gnostiker be¬ stand, und er antwortet darauf, das System habe eben die Macht, den Geist zu fesseln und jeden Widerspruch der Vernunft und der Thatsachen ans einer feindlichen Waffe in eine Stütze zu verwaudel». Man hat dieser Tage wiederum gesehen, wie gebildete Katholiken solche Verlegenheiten zu überwinden ver¬ stehen. Wenn irgend etwas in der Welt feststeht, so ist es die Thatsache, daß der Kurie die weltliche Herrschaft des Papsttums mehr am Herzen liegt, als das Wohl der ganze» Kirche und das Heil der Seelen. Wie dumm und hastig beißt sie auf jeden Köder an, der ihr von einem Macht verheißenden Mächtigen hingeworfen wird! Wie plump ist der Papst in der Hoffnung, für sich etwas zu ergattern, bei der Septennatswcchl hineingefallen! Wie un¬ empfindlich er gegen das schreckliche Schicksal der russischen Uuirteu bleibt, um es nur ja mit dem Zaren, dem Freunde Frankreichs nicht zu verderben, ward erst kürzlich in den 'Grenzboten hervorgehoben. Die berüchtigten Artikel des Osservatore Romano entsprechen durchaus diesen Traditionen. Nachdem des Papstes Hoffnung, durch den mächtigen Vismarck ein Fleckchen italienischen Landes unter seine Herrschaft zu bringen, zerronnen ist, hat er keinen Grund Arr Freundschaft mehr für den Bundesgenossen seines Todfeindes. Daß die deutschen Katholiken die treuesten, echtesten und frömmsten Katholiken der Welt sind, das kümmert ihn jn nichts; als Italiener hat er gar kein Verständnis für diese tiefe und echte Frömmigkeit, und wenn statt deS klugen Leo noch der naive Pius ans Petri Stuhle säße, so würde es Herr von Schorlemer in einen: offnen päpstlichen Sendschreiben zu lesen bekommen, daß der Osservatore »indes schreiben darf als des Papstes eigne Meinung. Dieser Kelch wird nnn zwar an dem edeln westfälischen Ritter vorübergehen, aber würde er ihm ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/605>, abgerufen am 26.08.2024.