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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Kapitalisten oder Grundbesitzer mögen noch glauben, daß die jetzigen Be¬
strebungen der Arbeiterwelt eine vorübergehende Erscheinung seien; wer nicht
ganz über die geschichtliche Entwicklung der Neuzeit im Unklaren ist, kann sich
solcher Täuschung wohl nicht hingeben. Dagegen werden die Zustände in der
Arbeiterwelt den Arbeitgebern mehr und mehr unerträglich, und es wird gewiß
in vielen Kreisen der Arbeitgeber bereits die Sehnsucht sehr lebhaft sein, an
die Stelle der jetzigen Anarchie geordnete Verhältnisse gesetzt zu sehen. Es
braucht hier ja nicht weiter auseinandergesetzt zu werdeu, wie verderblich die
Unlust, Widersetzlichkeit und Unzuverlässigkeit der Arbeiter, der Koutraktbruch
und die Streiks auf das ganze wirtschaftliche Leben einwirken. Für alle Be¬
teiligten ist es mit Händen zu greifen. Je unerträglicher sich aber die gegen¬
wärtigen Zustände gestalten, desto eher gewöhnt sich das Kapital an den Ge¬
danken, daß eine zunächst mit Opfern verbundne Vereinbarung der Arbeitskraft
doch vielleicht zu erwünschteren Zustünden führen konnte, und dieser Gedanke
wird an Stärke gewinnen und den Mut zur That geben, wenn sich gar die
Überzeugung aufdrängt, daß auch für das Kapital die Änderung nutzbringend
sein würde. In einem "Die Überproduktion" überschriebnen Artikel der Grenz¬
boten vom Jahre 1887 haben wir nachzuweisen versucht, daß die Konsumtion
durchaus mit der Produktion Schritt halten müsse, wenn von befriedigenden
wirtschaftlichen Verhältnissen die Rede sein solle. Es hat sich in den letzten
drei Jahren an manchen Erscheinungen gezeigt, daß die in jenem Artikel ver-
tretne Ansicht auf Wahrheit beruht. Die Möglichkeit der Produktion ist vor-
läufig unbegrenzt; sobald nur die erforderliche Nachfrage vorhanden ist, zeigt
sich die Produktion bereit und imstande, ihr zu folgen. Die Störungen im
wirtschaftlichen Leben entstehen nnr durch die Überproduktion, der keine aus¬
reichende auf Kaufkraft beruhende Nachfrage gegenübersteht. Zur Überpro¬
duktion wird Veranlassung gegeben durch zu nusgedehutes Kapitalisiren. Die
ersparten Kapitalien suchen Anlegung, vermehren die produktiven Unterneh¬
mungen, treten in Konkurrenz mit den schon bestehenden, drücken dadurch die
Preise zum Nachteil sowohl der Unternehmer als anch der Arbeiter. Besser
wäre es, wenn ein großer Teil der Ersparnisse unproduktive Verwendung fände.
Der große Kapitalreichtum in England und Frankreich hindert nicht, daß in
beiden Ländern viel Proletariat entstanden ist und oft die schwersten Not¬
stände eintreten. Es gilt zwar fast als Ketzerei, zu bezweifeln, daß ein Land
um so glücklicher sei, je mehr Kapital es besitzt. Aber das kann uns nicht
hindern, daran festzuhalten, daß dieser Satz nur dann als richtig gelten kann,
wenn auch die Kaufkraft der Massen dem Reichtum des Landes entspricht.
Die Überproduktion des Getreides hat die europäische Landwirtschaft schwer
geschädigt; die Anhäufung großer Kapitalien, die sich nach angemessener Ver¬
wendung umsehen, führt zu so gewagten Unternehmungen, wie die Kredit¬
geschäfte mit Buenos Ayres, bei denen wahrscheinlich Hunderte von Millionen,


Kapitalisten oder Grundbesitzer mögen noch glauben, daß die jetzigen Be¬
strebungen der Arbeiterwelt eine vorübergehende Erscheinung seien; wer nicht
ganz über die geschichtliche Entwicklung der Neuzeit im Unklaren ist, kann sich
solcher Täuschung wohl nicht hingeben. Dagegen werden die Zustände in der
Arbeiterwelt den Arbeitgebern mehr und mehr unerträglich, und es wird gewiß
in vielen Kreisen der Arbeitgeber bereits die Sehnsucht sehr lebhaft sein, an
die Stelle der jetzigen Anarchie geordnete Verhältnisse gesetzt zu sehen. Es
braucht hier ja nicht weiter auseinandergesetzt zu werdeu, wie verderblich die
Unlust, Widersetzlichkeit und Unzuverlässigkeit der Arbeiter, der Koutraktbruch
und die Streiks auf das ganze wirtschaftliche Leben einwirken. Für alle Be¬
teiligten ist es mit Händen zu greifen. Je unerträglicher sich aber die gegen¬
wärtigen Zustände gestalten, desto eher gewöhnt sich das Kapital an den Ge¬
danken, daß eine zunächst mit Opfern verbundne Vereinbarung der Arbeitskraft
doch vielleicht zu erwünschteren Zustünden führen konnte, und dieser Gedanke
wird an Stärke gewinnen und den Mut zur That geben, wenn sich gar die
Überzeugung aufdrängt, daß auch für das Kapital die Änderung nutzbringend
sein würde. In einem „Die Überproduktion" überschriebnen Artikel der Grenz¬
boten vom Jahre 1887 haben wir nachzuweisen versucht, daß die Konsumtion
durchaus mit der Produktion Schritt halten müsse, wenn von befriedigenden
wirtschaftlichen Verhältnissen die Rede sein solle. Es hat sich in den letzten
drei Jahren an manchen Erscheinungen gezeigt, daß die in jenem Artikel ver-
tretne Ansicht auf Wahrheit beruht. Die Möglichkeit der Produktion ist vor-
läufig unbegrenzt; sobald nur die erforderliche Nachfrage vorhanden ist, zeigt
sich die Produktion bereit und imstande, ihr zu folgen. Die Störungen im
wirtschaftlichen Leben entstehen nnr durch die Überproduktion, der keine aus¬
reichende auf Kaufkraft beruhende Nachfrage gegenübersteht. Zur Überpro¬
duktion wird Veranlassung gegeben durch zu nusgedehutes Kapitalisiren. Die
ersparten Kapitalien suchen Anlegung, vermehren die produktiven Unterneh¬
mungen, treten in Konkurrenz mit den schon bestehenden, drücken dadurch die
Preise zum Nachteil sowohl der Unternehmer als anch der Arbeiter. Besser
wäre es, wenn ein großer Teil der Ersparnisse unproduktive Verwendung fände.
Der große Kapitalreichtum in England und Frankreich hindert nicht, daß in
beiden Ländern viel Proletariat entstanden ist und oft die schwersten Not¬
stände eintreten. Es gilt zwar fast als Ketzerei, zu bezweifeln, daß ein Land
um so glücklicher sei, je mehr Kapital es besitzt. Aber das kann uns nicht
hindern, daran festzuhalten, daß dieser Satz nur dann als richtig gelten kann,
wenn auch die Kaufkraft der Massen dem Reichtum des Landes entspricht.
Die Überproduktion des Getreides hat die europäische Landwirtschaft schwer
geschädigt; die Anhäufung großer Kapitalien, die sich nach angemessener Ver¬
wendung umsehen, führt zu so gewagten Unternehmungen, wie die Kredit¬
geschäfte mit Buenos Ayres, bei denen wahrscheinlich Hunderte von Millionen,


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[0563] Kapitalisten oder Grundbesitzer mögen noch glauben, daß die jetzigen Be¬ strebungen der Arbeiterwelt eine vorübergehende Erscheinung seien; wer nicht ganz über die geschichtliche Entwicklung der Neuzeit im Unklaren ist, kann sich solcher Täuschung wohl nicht hingeben. Dagegen werden die Zustände in der Arbeiterwelt den Arbeitgebern mehr und mehr unerträglich, und es wird gewiß in vielen Kreisen der Arbeitgeber bereits die Sehnsucht sehr lebhaft sein, an die Stelle der jetzigen Anarchie geordnete Verhältnisse gesetzt zu sehen. Es braucht hier ja nicht weiter auseinandergesetzt zu werdeu, wie verderblich die Unlust, Widersetzlichkeit und Unzuverlässigkeit der Arbeiter, der Koutraktbruch und die Streiks auf das ganze wirtschaftliche Leben einwirken. Für alle Be¬ teiligten ist es mit Händen zu greifen. Je unerträglicher sich aber die gegen¬ wärtigen Zustände gestalten, desto eher gewöhnt sich das Kapital an den Ge¬ danken, daß eine zunächst mit Opfern verbundne Vereinbarung der Arbeitskraft doch vielleicht zu erwünschteren Zustünden führen konnte, und dieser Gedanke wird an Stärke gewinnen und den Mut zur That geben, wenn sich gar die Überzeugung aufdrängt, daß auch für das Kapital die Änderung nutzbringend sein würde. In einem „Die Überproduktion" überschriebnen Artikel der Grenz¬ boten vom Jahre 1887 haben wir nachzuweisen versucht, daß die Konsumtion durchaus mit der Produktion Schritt halten müsse, wenn von befriedigenden wirtschaftlichen Verhältnissen die Rede sein solle. Es hat sich in den letzten drei Jahren an manchen Erscheinungen gezeigt, daß die in jenem Artikel ver- tretne Ansicht auf Wahrheit beruht. Die Möglichkeit der Produktion ist vor- läufig unbegrenzt; sobald nur die erforderliche Nachfrage vorhanden ist, zeigt sich die Produktion bereit und imstande, ihr zu folgen. Die Störungen im wirtschaftlichen Leben entstehen nnr durch die Überproduktion, der keine aus¬ reichende auf Kaufkraft beruhende Nachfrage gegenübersteht. Zur Überpro¬ duktion wird Veranlassung gegeben durch zu nusgedehutes Kapitalisiren. Die ersparten Kapitalien suchen Anlegung, vermehren die produktiven Unterneh¬ mungen, treten in Konkurrenz mit den schon bestehenden, drücken dadurch die Preise zum Nachteil sowohl der Unternehmer als anch der Arbeiter. Besser wäre es, wenn ein großer Teil der Ersparnisse unproduktive Verwendung fände. Der große Kapitalreichtum in England und Frankreich hindert nicht, daß in beiden Ländern viel Proletariat entstanden ist und oft die schwersten Not¬ stände eintreten. Es gilt zwar fast als Ketzerei, zu bezweifeln, daß ein Land um so glücklicher sei, je mehr Kapital es besitzt. Aber das kann uns nicht hindern, daran festzuhalten, daß dieser Satz nur dann als richtig gelten kann, wenn auch die Kaufkraft der Massen dem Reichtum des Landes entspricht. Die Überproduktion des Getreides hat die europäische Landwirtschaft schwer geschädigt; die Anhäufung großer Kapitalien, die sich nach angemessener Ver¬ wendung umsehen, führt zu so gewagten Unternehmungen, wie die Kredit¬ geschäfte mit Buenos Ayres, bei denen wahrscheinlich Hunderte von Millionen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/563>, abgerufen am 26.08.2024.