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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Der Richterstand und die öffentliche Meinung

Mit dem Ende der siebziger und im Verlauf der achtziger Jahre ist das
anders geworden. Mit der liberalen Wirtschaftstheorie wurde auch die libe¬
rale Staats- und Rechtstheorie mehr und mehr zurückgedrängt. Anstatt im
Schutz der Rechtsordnung ward jetzt der Staatszweck in der ebenso um¬
fassenden wie eingehenden Fürsorge für die gesamte wirtschaftliche Wohlfahrt
des Volkes gefunden. Das Augenmerk der öffentlichen Meinung lenkte sich
vollständig von den alten überwnndnen politischen Kämpfen ab und neuen
Fragen und Aufgaben zu, die durch die ungeheuer rasche Entwicklung der
wirtschaftlichen, insbesondre der gewerblichen Verhältnisse plötzlich der Gesell¬
schaft erstanden, und zu deren Lösung seit Beginn der achtziger Jahre auch
die Gesetzgebung überging. Unsre Zeit -- das ist kein Zweifel -- steht uuter
dem Zeichen der sozialen Frage. Diese beherrscht die Geister; ihr wendet die
öffentliche Meinung fast ausschließlich ihre Aufmerksamkeit zu, und sie ver¬
teilt ihre Gunst unter den Berufsständen nach dem Maße, wie sie ihr ge¬
eignete Vorkämpfer in dem sozialen Kampfe der Gegenwart erscheinen.

Zur Mitwirkung an diesen Aufgaben der Zeit ist der Richterstand als
solcher nicht berufen; im Gegenteil, sein Thätigkeitsbereich wurde, als sich die
Gesetzgebung mit ihnen zu beschäftigen anfing, noch eingeschränkt. Das ganze
große Gebiet der Arbeiterversicherung hat sich von der ordentlichen Gerichtsbar¬
keit, deren Träger der Richterstand ist, abgelöst. Die Entscheidung der diesem
Gebiet angehörenden Rechtsstreitigkeiten ist mit wenigen Ausnahmen an Souder-
gerichte übergegangen. Wenn diese auch teilweise mit juristisch vorgebildete"?
Personen besetzt sind, so kommen doch diese Personen für den Richterstand
nicht mehr in Betracht, wie sie ja auch nicht mehr den Nichternamen, sondern
den Titel von Verwaltungsbeamten führen. Für Preußen kommt daneben
noch in Betracht, daß durch die großen organisatorischen Gesetze über die all¬
gemeine Landesverwaltung und das Verwaltungsstreitverfahren ebenfalls ein
umfangreiches Gebiet gerade jetzt wichtiger und sich in den Vordergrund
drängender Aufgaben des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens in den Bereich
von Sondergerichten gezogen worden ist, deren Znsammensetzung nicht besonders
viel Raum für richterliche Beamte läßt, und für deren richterliche Mitglieder
das eben gesagte gilt.

So ist nicht bloß äußerlich der Bereich der Thätigkeit des eigentliche"
Richterstandes eingeschränkt, es sind ihm auch gerade die Gebiete entzogen
worden, die jetzt im Mittelpunkte der öffentlichen Anfmerksamkeit stehen. Der
Richterstand und seine Thätigkeit liegen abseits von den Bahnen der heutigen
Zeit. Die Güter, die er zu schützen hat, erscheinen klein neben den Aufgaben
ans andern Gebieten. Was ist der Schutz des Einzelnen in seinem Vermögen,
wo es sich darum handelt, die gesamte heutige Rechts- und Vermögens¬
ordnung gegen die anstürmenden Feinde zu verteidigen?

Und nicht anders ist es im Strafrecht. War es zur Zeit der politischen


Der Richterstand und die öffentliche Meinung

Mit dem Ende der siebziger und im Verlauf der achtziger Jahre ist das
anders geworden. Mit der liberalen Wirtschaftstheorie wurde auch die libe¬
rale Staats- und Rechtstheorie mehr und mehr zurückgedrängt. Anstatt im
Schutz der Rechtsordnung ward jetzt der Staatszweck in der ebenso um¬
fassenden wie eingehenden Fürsorge für die gesamte wirtschaftliche Wohlfahrt
des Volkes gefunden. Das Augenmerk der öffentlichen Meinung lenkte sich
vollständig von den alten überwnndnen politischen Kämpfen ab und neuen
Fragen und Aufgaben zu, die durch die ungeheuer rasche Entwicklung der
wirtschaftlichen, insbesondre der gewerblichen Verhältnisse plötzlich der Gesell¬
schaft erstanden, und zu deren Lösung seit Beginn der achtziger Jahre auch
die Gesetzgebung überging. Unsre Zeit — das ist kein Zweifel — steht uuter
dem Zeichen der sozialen Frage. Diese beherrscht die Geister; ihr wendet die
öffentliche Meinung fast ausschließlich ihre Aufmerksamkeit zu, und sie ver¬
teilt ihre Gunst unter den Berufsständen nach dem Maße, wie sie ihr ge¬
eignete Vorkämpfer in dem sozialen Kampfe der Gegenwart erscheinen.

Zur Mitwirkung an diesen Aufgaben der Zeit ist der Richterstand als
solcher nicht berufen; im Gegenteil, sein Thätigkeitsbereich wurde, als sich die
Gesetzgebung mit ihnen zu beschäftigen anfing, noch eingeschränkt. Das ganze
große Gebiet der Arbeiterversicherung hat sich von der ordentlichen Gerichtsbar¬
keit, deren Träger der Richterstand ist, abgelöst. Die Entscheidung der diesem
Gebiet angehörenden Rechtsstreitigkeiten ist mit wenigen Ausnahmen an Souder-
gerichte übergegangen. Wenn diese auch teilweise mit juristisch vorgebildete«?
Personen besetzt sind, so kommen doch diese Personen für den Richterstand
nicht mehr in Betracht, wie sie ja auch nicht mehr den Nichternamen, sondern
den Titel von Verwaltungsbeamten führen. Für Preußen kommt daneben
noch in Betracht, daß durch die großen organisatorischen Gesetze über die all¬
gemeine Landesverwaltung und das Verwaltungsstreitverfahren ebenfalls ein
umfangreiches Gebiet gerade jetzt wichtiger und sich in den Vordergrund
drängender Aufgaben des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens in den Bereich
von Sondergerichten gezogen worden ist, deren Znsammensetzung nicht besonders
viel Raum für richterliche Beamte läßt, und für deren richterliche Mitglieder
das eben gesagte gilt.

So ist nicht bloß äußerlich der Bereich der Thätigkeit des eigentliche»
Richterstandes eingeschränkt, es sind ihm auch gerade die Gebiete entzogen
worden, die jetzt im Mittelpunkte der öffentlichen Anfmerksamkeit stehen. Der
Richterstand und seine Thätigkeit liegen abseits von den Bahnen der heutigen
Zeit. Die Güter, die er zu schützen hat, erscheinen klein neben den Aufgaben
ans andern Gebieten. Was ist der Schutz des Einzelnen in seinem Vermögen,
wo es sich darum handelt, die gesamte heutige Rechts- und Vermögens¬
ordnung gegen die anstürmenden Feinde zu verteidigen?

Und nicht anders ist es im Strafrecht. War es zur Zeit der politischen


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[0551] Der Richterstand und die öffentliche Meinung Mit dem Ende der siebziger und im Verlauf der achtziger Jahre ist das anders geworden. Mit der liberalen Wirtschaftstheorie wurde auch die libe¬ rale Staats- und Rechtstheorie mehr und mehr zurückgedrängt. Anstatt im Schutz der Rechtsordnung ward jetzt der Staatszweck in der ebenso um¬ fassenden wie eingehenden Fürsorge für die gesamte wirtschaftliche Wohlfahrt des Volkes gefunden. Das Augenmerk der öffentlichen Meinung lenkte sich vollständig von den alten überwnndnen politischen Kämpfen ab und neuen Fragen und Aufgaben zu, die durch die ungeheuer rasche Entwicklung der wirtschaftlichen, insbesondre der gewerblichen Verhältnisse plötzlich der Gesell¬ schaft erstanden, und zu deren Lösung seit Beginn der achtziger Jahre auch die Gesetzgebung überging. Unsre Zeit — das ist kein Zweifel — steht uuter dem Zeichen der sozialen Frage. Diese beherrscht die Geister; ihr wendet die öffentliche Meinung fast ausschließlich ihre Aufmerksamkeit zu, und sie ver¬ teilt ihre Gunst unter den Berufsständen nach dem Maße, wie sie ihr ge¬ eignete Vorkämpfer in dem sozialen Kampfe der Gegenwart erscheinen. Zur Mitwirkung an diesen Aufgaben der Zeit ist der Richterstand als solcher nicht berufen; im Gegenteil, sein Thätigkeitsbereich wurde, als sich die Gesetzgebung mit ihnen zu beschäftigen anfing, noch eingeschränkt. Das ganze große Gebiet der Arbeiterversicherung hat sich von der ordentlichen Gerichtsbar¬ keit, deren Träger der Richterstand ist, abgelöst. Die Entscheidung der diesem Gebiet angehörenden Rechtsstreitigkeiten ist mit wenigen Ausnahmen an Souder- gerichte übergegangen. Wenn diese auch teilweise mit juristisch vorgebildete«? Personen besetzt sind, so kommen doch diese Personen für den Richterstand nicht mehr in Betracht, wie sie ja auch nicht mehr den Nichternamen, sondern den Titel von Verwaltungsbeamten führen. Für Preußen kommt daneben noch in Betracht, daß durch die großen organisatorischen Gesetze über die all¬ gemeine Landesverwaltung und das Verwaltungsstreitverfahren ebenfalls ein umfangreiches Gebiet gerade jetzt wichtiger und sich in den Vordergrund drängender Aufgaben des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens in den Bereich von Sondergerichten gezogen worden ist, deren Znsammensetzung nicht besonders viel Raum für richterliche Beamte läßt, und für deren richterliche Mitglieder das eben gesagte gilt. So ist nicht bloß äußerlich der Bereich der Thätigkeit des eigentliche» Richterstandes eingeschränkt, es sind ihm auch gerade die Gebiete entzogen worden, die jetzt im Mittelpunkte der öffentlichen Anfmerksamkeit stehen. Der Richterstand und seine Thätigkeit liegen abseits von den Bahnen der heutigen Zeit. Die Güter, die er zu schützen hat, erscheinen klein neben den Aufgaben ans andern Gebieten. Was ist der Schutz des Einzelnen in seinem Vermögen, wo es sich darum handelt, die gesamte heutige Rechts- und Vermögens¬ ordnung gegen die anstürmenden Feinde zu verteidigen? Und nicht anders ist es im Strafrecht. War es zur Zeit der politischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/551>, abgerufen am 26.08.2024.