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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Moltkes Geschichte des deutsch-französischen Arieczcs

seitigen. Es giebt Gott sei Dank noch Bücher, die für unsre Jugend zu schade
sind! Diese Meinung schließt nicht aus, daß sich auch in Moltkes Werk
Kapitel finden, die unsre reifere Jugend verstehen wird, und die ihr zugänglich
gemacht werden könnten.

Moltke hat, wie gesagt, keine kritische Geschichte des Feldzugs schreiben
wollen; es wäre sonst vielleicht um das Ansehen mancher unsrer Heerführer
aus jener Zeit, trotz ihrer Erfolge, geschehen; aber ganz verschweigen konnte
seine Gerechtigkeitsliebe die mannigfachen Mißgriffe und taktischen Fehler, die
von den Leitern gemacht worden sind, doch nicht. Gegen überlieferte, allge¬
mein verbreitete und sich allmählich festwurzelnde falsche Ansichten über die
Kriegsführung, das Angriffsverfahren, die Verfolgung des geschlagner Feindes,
die Marschbewegungen, die Belagerungen fester Plätze und dergleichen Einzel¬
heiten tritt er, wo sich die Gelegenheit nur bietet, mit der Ruhe und Ent¬
schiedenheit des sachkundigen Meisters auf. So wendet er sich gleich im ersten
Kapitel, das die Vorbereitungen zum Kriege behandelt, gegen die in den Ge¬
schichtsbüchern als bestimmte Thatsache erscheinende Annahme, daß der Feld-
zugsplan von ihm auf weite Zeit hinaus festgestellt und im großen und ganzen
auch bis zu Ende durchgeführt worden sei. "Der erste Zusammenstoß mit
der feindlichen Hauptmacht schafft, sagt er, je nach seinem Ausfall eine neue
Sachlage. Vieles wird unausführbar, was man beabsichtigt haben mochte,
manches möglich, was vorher nicht zu erwarten stand. Die geänderten Ver¬
hältnisse richtig auffassen, daraufhin in absehbarer Frist das Zweckmäßige
anordnen und entschlossen durchführen ist alles, was die Heeresleitung zu
thun vermag." Moltkes Plan ging darauf aus, die feindliche Hauptstadt, die
in Frankreich von größerer Bedeutung ist, als in andern Ländern, zu erobern.
Auf dem Wege dahin sollte die Streitmacht des Gegners möglichst von dem
an Hilfsmitteln reichen Süden ab- und in das engere Hinterland des Nordens
gedrängt werden. Maßgebend aber vor allem war der Entschluß, deu Feind,
wo man ihn träfe, unverzüglich anzugreifen und die Kräfte so zusammenzn-
hnlten, daß es mit überlegner Zahl geschehen könnte. Ein unberechenbarer
Vorteil war es gleich bei Beginn des Feldzugs, daß die französischen Truppen
im immobilem Zustande, d. h. ohne das Eintreffen der Ersatzungsmannschaften
und der Ausrüstung abzuwarten, aus ihren Standorten abgerückt waren. Die
einberufneu französischen Reserven häuften sich in den Depots; alle Bahnhöfe waren
überfüllt, die Eisenbahnen zum Teil schon verstopft. Die Weiterbeförderung
stockte, da mau oft in den Depots deu augenblicklichen Standort der Regi¬
menter nicht kannte, an die die Mannschaften abzusenden waren. Trafen diese
endlich bei ihren Regimentern ein, so mangelten ihnen die notwendigsten
Ausrüstungsgegenstände. Den Korps und den Divisionen fehlten die Trains,
die Lazarete und fast das gesamte Verwaltuugspersonal. Magazine waren
nicht im voraus angelegt worden, und die Truppen wurden daher auf die


Moltkes Geschichte des deutsch-französischen Arieczcs

seitigen. Es giebt Gott sei Dank noch Bücher, die für unsre Jugend zu schade
sind! Diese Meinung schließt nicht aus, daß sich auch in Moltkes Werk
Kapitel finden, die unsre reifere Jugend verstehen wird, und die ihr zugänglich
gemacht werden könnten.

Moltke hat, wie gesagt, keine kritische Geschichte des Feldzugs schreiben
wollen; es wäre sonst vielleicht um das Ansehen mancher unsrer Heerführer
aus jener Zeit, trotz ihrer Erfolge, geschehen; aber ganz verschweigen konnte
seine Gerechtigkeitsliebe die mannigfachen Mißgriffe und taktischen Fehler, die
von den Leitern gemacht worden sind, doch nicht. Gegen überlieferte, allge¬
mein verbreitete und sich allmählich festwurzelnde falsche Ansichten über die
Kriegsführung, das Angriffsverfahren, die Verfolgung des geschlagner Feindes,
die Marschbewegungen, die Belagerungen fester Plätze und dergleichen Einzel¬
heiten tritt er, wo sich die Gelegenheit nur bietet, mit der Ruhe und Ent¬
schiedenheit des sachkundigen Meisters auf. So wendet er sich gleich im ersten
Kapitel, das die Vorbereitungen zum Kriege behandelt, gegen die in den Ge¬
schichtsbüchern als bestimmte Thatsache erscheinende Annahme, daß der Feld-
zugsplan von ihm auf weite Zeit hinaus festgestellt und im großen und ganzen
auch bis zu Ende durchgeführt worden sei. „Der erste Zusammenstoß mit
der feindlichen Hauptmacht schafft, sagt er, je nach seinem Ausfall eine neue
Sachlage. Vieles wird unausführbar, was man beabsichtigt haben mochte,
manches möglich, was vorher nicht zu erwarten stand. Die geänderten Ver¬
hältnisse richtig auffassen, daraufhin in absehbarer Frist das Zweckmäßige
anordnen und entschlossen durchführen ist alles, was die Heeresleitung zu
thun vermag." Moltkes Plan ging darauf aus, die feindliche Hauptstadt, die
in Frankreich von größerer Bedeutung ist, als in andern Ländern, zu erobern.
Auf dem Wege dahin sollte die Streitmacht des Gegners möglichst von dem
an Hilfsmitteln reichen Süden ab- und in das engere Hinterland des Nordens
gedrängt werden. Maßgebend aber vor allem war der Entschluß, deu Feind,
wo man ihn träfe, unverzüglich anzugreifen und die Kräfte so zusammenzn-
hnlten, daß es mit überlegner Zahl geschehen könnte. Ein unberechenbarer
Vorteil war es gleich bei Beginn des Feldzugs, daß die französischen Truppen
im immobilem Zustande, d. h. ohne das Eintreffen der Ersatzungsmannschaften
und der Ausrüstung abzuwarten, aus ihren Standorten abgerückt waren. Die
einberufneu französischen Reserven häuften sich in den Depots; alle Bahnhöfe waren
überfüllt, die Eisenbahnen zum Teil schon verstopft. Die Weiterbeförderung
stockte, da mau oft in den Depots deu augenblicklichen Standort der Regi¬
menter nicht kannte, an die die Mannschaften abzusenden waren. Trafen diese
endlich bei ihren Regimentern ein, so mangelten ihnen die notwendigsten
Ausrüstungsgegenstände. Den Korps und den Divisionen fehlten die Trains,
die Lazarete und fast das gesamte Verwaltuugspersonal. Magazine waren
nicht im voraus angelegt worden, und die Truppen wurden daher auf die


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[0539] Moltkes Geschichte des deutsch-französischen Arieczcs seitigen. Es giebt Gott sei Dank noch Bücher, die für unsre Jugend zu schade sind! Diese Meinung schließt nicht aus, daß sich auch in Moltkes Werk Kapitel finden, die unsre reifere Jugend verstehen wird, und die ihr zugänglich gemacht werden könnten. Moltke hat, wie gesagt, keine kritische Geschichte des Feldzugs schreiben wollen; es wäre sonst vielleicht um das Ansehen mancher unsrer Heerführer aus jener Zeit, trotz ihrer Erfolge, geschehen; aber ganz verschweigen konnte seine Gerechtigkeitsliebe die mannigfachen Mißgriffe und taktischen Fehler, die von den Leitern gemacht worden sind, doch nicht. Gegen überlieferte, allge¬ mein verbreitete und sich allmählich festwurzelnde falsche Ansichten über die Kriegsführung, das Angriffsverfahren, die Verfolgung des geschlagner Feindes, die Marschbewegungen, die Belagerungen fester Plätze und dergleichen Einzel¬ heiten tritt er, wo sich die Gelegenheit nur bietet, mit der Ruhe und Ent¬ schiedenheit des sachkundigen Meisters auf. So wendet er sich gleich im ersten Kapitel, das die Vorbereitungen zum Kriege behandelt, gegen die in den Ge¬ schichtsbüchern als bestimmte Thatsache erscheinende Annahme, daß der Feld- zugsplan von ihm auf weite Zeit hinaus festgestellt und im großen und ganzen auch bis zu Ende durchgeführt worden sei. „Der erste Zusammenstoß mit der feindlichen Hauptmacht schafft, sagt er, je nach seinem Ausfall eine neue Sachlage. Vieles wird unausführbar, was man beabsichtigt haben mochte, manches möglich, was vorher nicht zu erwarten stand. Die geänderten Ver¬ hältnisse richtig auffassen, daraufhin in absehbarer Frist das Zweckmäßige anordnen und entschlossen durchführen ist alles, was die Heeresleitung zu thun vermag." Moltkes Plan ging darauf aus, die feindliche Hauptstadt, die in Frankreich von größerer Bedeutung ist, als in andern Ländern, zu erobern. Auf dem Wege dahin sollte die Streitmacht des Gegners möglichst von dem an Hilfsmitteln reichen Süden ab- und in das engere Hinterland des Nordens gedrängt werden. Maßgebend aber vor allem war der Entschluß, deu Feind, wo man ihn träfe, unverzüglich anzugreifen und die Kräfte so zusammenzn- hnlten, daß es mit überlegner Zahl geschehen könnte. Ein unberechenbarer Vorteil war es gleich bei Beginn des Feldzugs, daß die französischen Truppen im immobilem Zustande, d. h. ohne das Eintreffen der Ersatzungsmannschaften und der Ausrüstung abzuwarten, aus ihren Standorten abgerückt waren. Die einberufneu französischen Reserven häuften sich in den Depots; alle Bahnhöfe waren überfüllt, die Eisenbahnen zum Teil schon verstopft. Die Weiterbeförderung stockte, da mau oft in den Depots deu augenblicklichen Standort der Regi¬ menter nicht kannte, an die die Mannschaften abzusenden waren. Trafen diese endlich bei ihren Regimentern ein, so mangelten ihnen die notwendigsten Ausrüstungsgegenstände. Den Korps und den Divisionen fehlten die Trains, die Lazarete und fast das gesamte Verwaltuugspersonal. Magazine waren nicht im voraus angelegt worden, und die Truppen wurden daher auf die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/539>, abgerufen am 26.08.2024.