Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Moltkes Geschichte des deutsch-französischen Krieges

obersten Leiter erkannten großen Ganzen einordnet und die Wechselwirkungen
wie die Folgen der einzelnen erwarteten oder unerwarteten Begebenheiten ans
dem ganzen Kriegsschauplatze klar hervortreten läßt. Von diesem Standpunkte
aus konnte er einen einheitlichen Zug in die wechselvollen, scheinbar zusammen¬
hanglosen Maßnahmen und Kämpfe auf den verschiednen Gebieten bringen
und so dem Leser gleichsam ein umfangreiches, in sich abgeschlossenes Bild aus
der Vogelperspektive des großen Generalstabes bieten. Für allgemeine, volks¬
tümlich belehrende Zwecke schien ihm die vom Generalstab herausgegebne
bändereiche Geschichte des Feldzuges zu detaillirt und zu fachmännisch geschrieben.
So begann denn Moltke als siebenundachtzigjühriger Greis auf seinem Landsitz
Creisau eine zusammenfassende Umarbeitung oder besser einen in selbständiger
Auffassung behandelten Auszug aus jener Geschichte, und trotz seines hohen
Alters hat er in wenigen Monaten ein Werk zustande gebracht, das jedem
Leser die größte Bewunderung abgewinnen, in jedem Deutschen aber die Ge¬
fühle der Begeisterung und der Dankbarkeit hervorrufen muß.

Voll Erstaunen blickt das Ausland auf diese schriftstellerische Leistung des
greisen Heerführers, und selbst in der französischen Presse findet man neben
den Ausbrüchen bittern Grolls und nnverhohlnen Neides doch auch Worte der
Anerkennung und der Hochachtung. Durch die hervorragenden Eigenschaften
dieses Buches, durch die in ihm atmende Vaterlandsliebe, durch eine bewunderns-
werte, selbst in verwickelten und dunkeln Ereignissen hervortretende Klarheit
der Darstellung und nicht zum mindesten dnrch die Reinheit, Einfachheit und
Schönheit der Sprache bewogen, hat man im Übereifer sogar schon die
Forderung gestellt, Moltkes Werk als Lehrbuch in unsre Gymnasien einzuführen
und dafür Cäsar, Livius, Herodot u. s. w. möglichst bald ans unsern Schulen
zu entfernen. Moltke sei, obgleich er keine klassische Bildung genossen habe,
doch durch sein Werk einer unsrer ersten Klassiker geworden und müsse als
solcher unsrer Jugend bekannt gemacht werden. Das ist denn doch eine offen¬
bare Verkennung der Schwierigkeiten, die Moltkes Werk trotz seiner klassisch
einfachen Sprache jedem nicht militärisch gebildeten Leser bietet. Derartige
Bücher aus unsrer Zeit sind überhaupt nicht für den Schulunterricht ge¬
schrieben, schon aus dem einfachen Grunde, weil die meisten Lehrer nicht
imstande wären, sie sachgemäß zu erklären. Überlassen wir das Studium
Moltkes und der Gegenwart dem heranreifenden oder gereiften Manne und
verlangen wir von ihm, daß er seine allgemeine Bildung auch auf diesem
Gebiete nicht mit den Schuljahre" für abgeschlossn halte, sondern selbst an
ihrer Vervollständigung weiter arbeite, dann wird man endlich aufhören, bloß
immer auf die unreife Jugend zu schauen, der Schule Aufgaben zuzumuten,
die sie nicht erfüllen kann, und sie für einen Bildungsmangel verantwortlich
zu machen, den jeder, wenn er nicht als Banause gelten Null, die Pflicht hätte,
nach den Schuljahren durch eigne Arbeit und selbständiges Nachdenken zu be-


Moltkes Geschichte des deutsch-französischen Krieges

obersten Leiter erkannten großen Ganzen einordnet und die Wechselwirkungen
wie die Folgen der einzelnen erwarteten oder unerwarteten Begebenheiten ans
dem ganzen Kriegsschauplatze klar hervortreten läßt. Von diesem Standpunkte
aus konnte er einen einheitlichen Zug in die wechselvollen, scheinbar zusammen¬
hanglosen Maßnahmen und Kämpfe auf den verschiednen Gebieten bringen
und so dem Leser gleichsam ein umfangreiches, in sich abgeschlossenes Bild aus
der Vogelperspektive des großen Generalstabes bieten. Für allgemeine, volks¬
tümlich belehrende Zwecke schien ihm die vom Generalstab herausgegebne
bändereiche Geschichte des Feldzuges zu detaillirt und zu fachmännisch geschrieben.
So begann denn Moltke als siebenundachtzigjühriger Greis auf seinem Landsitz
Creisau eine zusammenfassende Umarbeitung oder besser einen in selbständiger
Auffassung behandelten Auszug aus jener Geschichte, und trotz seines hohen
Alters hat er in wenigen Monaten ein Werk zustande gebracht, das jedem
Leser die größte Bewunderung abgewinnen, in jedem Deutschen aber die Ge¬
fühle der Begeisterung und der Dankbarkeit hervorrufen muß.

Voll Erstaunen blickt das Ausland auf diese schriftstellerische Leistung des
greisen Heerführers, und selbst in der französischen Presse findet man neben
den Ausbrüchen bittern Grolls und nnverhohlnen Neides doch auch Worte der
Anerkennung und der Hochachtung. Durch die hervorragenden Eigenschaften
dieses Buches, durch die in ihm atmende Vaterlandsliebe, durch eine bewunderns-
werte, selbst in verwickelten und dunkeln Ereignissen hervortretende Klarheit
der Darstellung und nicht zum mindesten dnrch die Reinheit, Einfachheit und
Schönheit der Sprache bewogen, hat man im Übereifer sogar schon die
Forderung gestellt, Moltkes Werk als Lehrbuch in unsre Gymnasien einzuführen
und dafür Cäsar, Livius, Herodot u. s. w. möglichst bald ans unsern Schulen
zu entfernen. Moltke sei, obgleich er keine klassische Bildung genossen habe,
doch durch sein Werk einer unsrer ersten Klassiker geworden und müsse als
solcher unsrer Jugend bekannt gemacht werden. Das ist denn doch eine offen¬
bare Verkennung der Schwierigkeiten, die Moltkes Werk trotz seiner klassisch
einfachen Sprache jedem nicht militärisch gebildeten Leser bietet. Derartige
Bücher aus unsrer Zeit sind überhaupt nicht für den Schulunterricht ge¬
schrieben, schon aus dem einfachen Grunde, weil die meisten Lehrer nicht
imstande wären, sie sachgemäß zu erklären. Überlassen wir das Studium
Moltkes und der Gegenwart dem heranreifenden oder gereiften Manne und
verlangen wir von ihm, daß er seine allgemeine Bildung auch auf diesem
Gebiete nicht mit den Schuljahre» für abgeschlossn halte, sondern selbst an
ihrer Vervollständigung weiter arbeite, dann wird man endlich aufhören, bloß
immer auf die unreife Jugend zu schauen, der Schule Aufgaben zuzumuten,
die sie nicht erfüllen kann, und sie für einen Bildungsmangel verantwortlich
zu machen, den jeder, wenn er nicht als Banause gelten Null, die Pflicht hätte,
nach den Schuljahren durch eigne Arbeit und selbständiges Nachdenken zu be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0538" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290307"/>
          <fw type="header" place="top"> Moltkes Geschichte des deutsch-französischen Krieges</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1604" prev="#ID_1603"> obersten Leiter erkannten großen Ganzen einordnet und die Wechselwirkungen<lb/>
wie die Folgen der einzelnen erwarteten oder unerwarteten Begebenheiten ans<lb/>
dem ganzen Kriegsschauplatze klar hervortreten läßt. Von diesem Standpunkte<lb/>
aus konnte er einen einheitlichen Zug in die wechselvollen, scheinbar zusammen¬<lb/>
hanglosen Maßnahmen und Kämpfe auf den verschiednen Gebieten bringen<lb/>
und so dem Leser gleichsam ein umfangreiches, in sich abgeschlossenes Bild aus<lb/>
der Vogelperspektive des großen Generalstabes bieten. Für allgemeine, volks¬<lb/>
tümlich belehrende Zwecke schien ihm die vom Generalstab herausgegebne<lb/>
bändereiche Geschichte des Feldzuges zu detaillirt und zu fachmännisch geschrieben.<lb/>
So begann denn Moltke als siebenundachtzigjühriger Greis auf seinem Landsitz<lb/>
Creisau eine zusammenfassende Umarbeitung oder besser einen in selbständiger<lb/>
Auffassung behandelten Auszug aus jener Geschichte, und trotz seines hohen<lb/>
Alters hat er in wenigen Monaten ein Werk zustande gebracht, das jedem<lb/>
Leser die größte Bewunderung abgewinnen, in jedem Deutschen aber die Ge¬<lb/>
fühle der Begeisterung und der Dankbarkeit hervorrufen muß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1605" next="#ID_1606"> Voll Erstaunen blickt das Ausland auf diese schriftstellerische Leistung des<lb/>
greisen Heerführers, und selbst in der französischen Presse findet man neben<lb/>
den Ausbrüchen bittern Grolls und nnverhohlnen Neides doch auch Worte der<lb/>
Anerkennung und der Hochachtung. Durch die hervorragenden Eigenschaften<lb/>
dieses Buches, durch die in ihm atmende Vaterlandsliebe, durch eine bewunderns-<lb/>
werte, selbst in verwickelten und dunkeln Ereignissen hervortretende Klarheit<lb/>
der Darstellung und nicht zum mindesten dnrch die Reinheit, Einfachheit und<lb/>
Schönheit der Sprache bewogen, hat man im Übereifer sogar schon die<lb/>
Forderung gestellt, Moltkes Werk als Lehrbuch in unsre Gymnasien einzuführen<lb/>
und dafür Cäsar, Livius, Herodot u. s. w. möglichst bald ans unsern Schulen<lb/>
zu entfernen. Moltke sei, obgleich er keine klassische Bildung genossen habe,<lb/>
doch durch sein Werk einer unsrer ersten Klassiker geworden und müsse als<lb/>
solcher unsrer Jugend bekannt gemacht werden. Das ist denn doch eine offen¬<lb/>
bare Verkennung der Schwierigkeiten, die Moltkes Werk trotz seiner klassisch<lb/>
einfachen Sprache jedem nicht militärisch gebildeten Leser bietet. Derartige<lb/>
Bücher aus unsrer Zeit sind überhaupt nicht für den Schulunterricht ge¬<lb/>
schrieben, schon aus dem einfachen Grunde, weil die meisten Lehrer nicht<lb/>
imstande wären, sie sachgemäß zu erklären. Überlassen wir das Studium<lb/>
Moltkes und der Gegenwart dem heranreifenden oder gereiften Manne und<lb/>
verlangen wir von ihm, daß er seine allgemeine Bildung auch auf diesem<lb/>
Gebiete nicht mit den Schuljahre» für abgeschlossn halte, sondern selbst an<lb/>
ihrer Vervollständigung weiter arbeite, dann wird man endlich aufhören, bloß<lb/>
immer auf die unreife Jugend zu schauen, der Schule Aufgaben zuzumuten,<lb/>
die sie nicht erfüllen kann, und sie für einen Bildungsmangel verantwortlich<lb/>
zu machen, den jeder, wenn er nicht als Banause gelten Null, die Pflicht hätte,<lb/>
nach den Schuljahren durch eigne Arbeit und selbständiges Nachdenken zu be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0538] Moltkes Geschichte des deutsch-französischen Krieges obersten Leiter erkannten großen Ganzen einordnet und die Wechselwirkungen wie die Folgen der einzelnen erwarteten oder unerwarteten Begebenheiten ans dem ganzen Kriegsschauplatze klar hervortreten läßt. Von diesem Standpunkte aus konnte er einen einheitlichen Zug in die wechselvollen, scheinbar zusammen¬ hanglosen Maßnahmen und Kämpfe auf den verschiednen Gebieten bringen und so dem Leser gleichsam ein umfangreiches, in sich abgeschlossenes Bild aus der Vogelperspektive des großen Generalstabes bieten. Für allgemeine, volks¬ tümlich belehrende Zwecke schien ihm die vom Generalstab herausgegebne bändereiche Geschichte des Feldzuges zu detaillirt und zu fachmännisch geschrieben. So begann denn Moltke als siebenundachtzigjühriger Greis auf seinem Landsitz Creisau eine zusammenfassende Umarbeitung oder besser einen in selbständiger Auffassung behandelten Auszug aus jener Geschichte, und trotz seines hohen Alters hat er in wenigen Monaten ein Werk zustande gebracht, das jedem Leser die größte Bewunderung abgewinnen, in jedem Deutschen aber die Ge¬ fühle der Begeisterung und der Dankbarkeit hervorrufen muß. Voll Erstaunen blickt das Ausland auf diese schriftstellerische Leistung des greisen Heerführers, und selbst in der französischen Presse findet man neben den Ausbrüchen bittern Grolls und nnverhohlnen Neides doch auch Worte der Anerkennung und der Hochachtung. Durch die hervorragenden Eigenschaften dieses Buches, durch die in ihm atmende Vaterlandsliebe, durch eine bewunderns- werte, selbst in verwickelten und dunkeln Ereignissen hervortretende Klarheit der Darstellung und nicht zum mindesten dnrch die Reinheit, Einfachheit und Schönheit der Sprache bewogen, hat man im Übereifer sogar schon die Forderung gestellt, Moltkes Werk als Lehrbuch in unsre Gymnasien einzuführen und dafür Cäsar, Livius, Herodot u. s. w. möglichst bald ans unsern Schulen zu entfernen. Moltke sei, obgleich er keine klassische Bildung genossen habe, doch durch sein Werk einer unsrer ersten Klassiker geworden und müsse als solcher unsrer Jugend bekannt gemacht werden. Das ist denn doch eine offen¬ bare Verkennung der Schwierigkeiten, die Moltkes Werk trotz seiner klassisch einfachen Sprache jedem nicht militärisch gebildeten Leser bietet. Derartige Bücher aus unsrer Zeit sind überhaupt nicht für den Schulunterricht ge¬ schrieben, schon aus dem einfachen Grunde, weil die meisten Lehrer nicht imstande wären, sie sachgemäß zu erklären. Überlassen wir das Studium Moltkes und der Gegenwart dem heranreifenden oder gereiften Manne und verlangen wir von ihm, daß er seine allgemeine Bildung auch auf diesem Gebiete nicht mit den Schuljahre» für abgeschlossn halte, sondern selbst an ihrer Vervollständigung weiter arbeite, dann wird man endlich aufhören, bloß immer auf die unreife Jugend zu schauen, der Schule Aufgaben zuzumuten, die sie nicht erfüllen kann, und sie für einen Bildungsmangel verantwortlich zu machen, den jeder, wenn er nicht als Banause gelten Null, die Pflicht hätte, nach den Schuljahren durch eigne Arbeit und selbständiges Nachdenken zu be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/538
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/538>, abgerufen am 23.07.2024.