Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der russische Soldat

handelt, etwa fremdes Eigentum oder fremdes Geld an sich nimmt, so ist
das wieder nicht seine Schuld, er besteht fest darauf, daß der Böse ihn ver¬
leitet habe, und daß er selbst ganz unschuldig sei. Alle Erzählungen Michai-
lows enden tragisch: die Sagenwelt der Vampyre, der Hausgeister und Teufel,
vor deren Hinterlist, Bosheit und Blutgier es keine Rettung giebt, befängt
ihn. Ebenso trostlos sind seine Lieder, alle Melodien sind in Moll gehalten
und klingen unbeschreiblich traurig.

Die Summe dieser Eigentümlichkeiten und Charakterzüge, die von Geschlecht
zu Geschlecht mit geringer Abtönung gegangen sind, in langer historischer Ent¬
wicklung, von der Tatarenzeit durch die Leibeigenschaft, hat auch sein Nach¬
folger und Sohn, Iwan Jwanow geerbt, nur sind noch einige besondre Züge
dazugetreteu. In früher Jugend hat man ihn von Familie und Freunden
getrennt und zum Rekruten gemacht. Das Schicksal hat mit einemmale sein
ganzes Leben umgewandelt und ihn zu einem andern Wesen gemacht. An¬
fangs weinte er wohl bei dem Gedanken an Vater und Mutter, an die Liebste
und an sein bittres Los: war seine arme Hütte auch nicht freundlich und
anziehend, so war es doch das Dach der Eltern! Wann aber wird er es
wiedersehn? Aber Monate, Jahre und Jahre gehen hin, und die große Staats¬
maschine modelt ihn nach der allgemeinen Form um; und so wird unser Iwein
in das immer gleich monotone Leben der Kaserne hineingezogen. Er wird
ein lebendiger, nie widersprechender Automat; er gehorcht einem Willen, den
sein einfacher Verstand durchaus unfähig ist zu kritisiren und ergiebt sich
blind seinem Schicksal, ohne einen Versuch des Widerstandes. Auch liegt es
uicht in seiner Natur, gegen das Unabwendbare anzukämpfen: Gott wird es
so gewollt haben -- es ist hurtig und unnütz, dawider zu murren! so läßt
Iwan die Vergangenheit vergangen sein und denkt ausschließlich daran, sich
der Gegenwart anzupassen.

Ans dem ungeheuern Gebiete des Mütterchen Rußland wird Iwan von
einem Klima ins andre, von einer Ecke des Reiches in die andre geworfen,
und überall ist er zufrieden, dieselbe Schablone wiederzufinden. Überall er¬
hält er seine drei Pfund Brot und fünfmal in der Woche sogar ein halbes
Pfund Fleisch, sodaß die sprichwörtliche Unmäßigkeit der Bewohner des Nordens
und die Mäßigkeit der Bewohner warmer Länder bei Iwan ausgeglichen
werden. Solcher Iwans giebt es unzählige, und alljährlich treibt man sie
in die Kasernen, wo man ihre umsonst zu habende Arbeitskraft beispiellos
ausbeutet. Wo zwei Iwans genügen würden, schickt man vier oder fünf hin
(es kommt nicht darauf an, man braucht nicht zu zahlen). Wollte man für
ein Jahr die in den Kasernen vergeudete Arbeit Iwans nutzbar macheu, so
ließen sich viele Wälder setzen, Eisenbahnen banen oder Kanäle graben! Unser
Iwan hat aber auch seine Feiertage, wenn man ihn zu freier Arbeit entlaßt.
Das ist für ihn dasselbe, was Hapsal oder Karlsbald für andre Leute ist.


Der russische Soldat

handelt, etwa fremdes Eigentum oder fremdes Geld an sich nimmt, so ist
das wieder nicht seine Schuld, er besteht fest darauf, daß der Böse ihn ver¬
leitet habe, und daß er selbst ganz unschuldig sei. Alle Erzählungen Michai-
lows enden tragisch: die Sagenwelt der Vampyre, der Hausgeister und Teufel,
vor deren Hinterlist, Bosheit und Blutgier es keine Rettung giebt, befängt
ihn. Ebenso trostlos sind seine Lieder, alle Melodien sind in Moll gehalten
und klingen unbeschreiblich traurig.

Die Summe dieser Eigentümlichkeiten und Charakterzüge, die von Geschlecht
zu Geschlecht mit geringer Abtönung gegangen sind, in langer historischer Ent¬
wicklung, von der Tatarenzeit durch die Leibeigenschaft, hat auch sein Nach¬
folger und Sohn, Iwan Jwanow geerbt, nur sind noch einige besondre Züge
dazugetreteu. In früher Jugend hat man ihn von Familie und Freunden
getrennt und zum Rekruten gemacht. Das Schicksal hat mit einemmale sein
ganzes Leben umgewandelt und ihn zu einem andern Wesen gemacht. An¬
fangs weinte er wohl bei dem Gedanken an Vater und Mutter, an die Liebste
und an sein bittres Los: war seine arme Hütte auch nicht freundlich und
anziehend, so war es doch das Dach der Eltern! Wann aber wird er es
wiedersehn? Aber Monate, Jahre und Jahre gehen hin, und die große Staats¬
maschine modelt ihn nach der allgemeinen Form um; und so wird unser Iwein
in das immer gleich monotone Leben der Kaserne hineingezogen. Er wird
ein lebendiger, nie widersprechender Automat; er gehorcht einem Willen, den
sein einfacher Verstand durchaus unfähig ist zu kritisiren und ergiebt sich
blind seinem Schicksal, ohne einen Versuch des Widerstandes. Auch liegt es
uicht in seiner Natur, gegen das Unabwendbare anzukämpfen: Gott wird es
so gewollt haben — es ist hurtig und unnütz, dawider zu murren! so läßt
Iwan die Vergangenheit vergangen sein und denkt ausschließlich daran, sich
der Gegenwart anzupassen.

Ans dem ungeheuern Gebiete des Mütterchen Rußland wird Iwan von
einem Klima ins andre, von einer Ecke des Reiches in die andre geworfen,
und überall ist er zufrieden, dieselbe Schablone wiederzufinden. Überall er¬
hält er seine drei Pfund Brot und fünfmal in der Woche sogar ein halbes
Pfund Fleisch, sodaß die sprichwörtliche Unmäßigkeit der Bewohner des Nordens
und die Mäßigkeit der Bewohner warmer Länder bei Iwan ausgeglichen
werden. Solcher Iwans giebt es unzählige, und alljährlich treibt man sie
in die Kasernen, wo man ihre umsonst zu habende Arbeitskraft beispiellos
ausbeutet. Wo zwei Iwans genügen würden, schickt man vier oder fünf hin
(es kommt nicht darauf an, man braucht nicht zu zahlen). Wollte man für
ein Jahr die in den Kasernen vergeudete Arbeit Iwans nutzbar macheu, so
ließen sich viele Wälder setzen, Eisenbahnen banen oder Kanäle graben! Unser
Iwan hat aber auch seine Feiertage, wenn man ihn zu freier Arbeit entlaßt.
Das ist für ihn dasselbe, was Hapsal oder Karlsbald für andre Leute ist.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0491" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290260"/>
          <fw type="header" place="top"> Der russische Soldat</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1433" prev="#ID_1432"> handelt, etwa fremdes Eigentum oder fremdes Geld an sich nimmt, so ist<lb/>
das wieder nicht seine Schuld, er besteht fest darauf, daß der Böse ihn ver¬<lb/>
leitet habe, und daß er selbst ganz unschuldig sei. Alle Erzählungen Michai-<lb/>
lows enden tragisch: die Sagenwelt der Vampyre, der Hausgeister und Teufel,<lb/>
vor deren Hinterlist, Bosheit und Blutgier es keine Rettung giebt, befängt<lb/>
ihn. Ebenso trostlos sind seine Lieder, alle Melodien sind in Moll gehalten<lb/>
und klingen unbeschreiblich traurig.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1434"> Die Summe dieser Eigentümlichkeiten und Charakterzüge, die von Geschlecht<lb/>
zu Geschlecht mit geringer Abtönung gegangen sind, in langer historischer Ent¬<lb/>
wicklung, von der Tatarenzeit durch die Leibeigenschaft, hat auch sein Nach¬<lb/>
folger und Sohn, Iwan Jwanow geerbt, nur sind noch einige besondre Züge<lb/>
dazugetreteu. In früher Jugend hat man ihn von Familie und Freunden<lb/>
getrennt und zum Rekruten gemacht. Das Schicksal hat mit einemmale sein<lb/>
ganzes Leben umgewandelt und ihn zu einem andern Wesen gemacht. An¬<lb/>
fangs weinte er wohl bei dem Gedanken an Vater und Mutter, an die Liebste<lb/>
und an sein bittres Los: war seine arme Hütte auch nicht freundlich und<lb/>
anziehend, so war es doch das Dach der Eltern! Wann aber wird er es<lb/>
wiedersehn? Aber Monate, Jahre und Jahre gehen hin, und die große Staats¬<lb/>
maschine modelt ihn nach der allgemeinen Form um; und so wird unser Iwein<lb/>
in das immer gleich monotone Leben der Kaserne hineingezogen. Er wird<lb/>
ein lebendiger, nie widersprechender Automat; er gehorcht einem Willen, den<lb/>
sein einfacher Verstand durchaus unfähig ist zu kritisiren und ergiebt sich<lb/>
blind seinem Schicksal, ohne einen Versuch des Widerstandes. Auch liegt es<lb/>
uicht in seiner Natur, gegen das Unabwendbare anzukämpfen: Gott wird es<lb/>
so gewollt haben &#x2014; es ist hurtig und unnütz, dawider zu murren! so läßt<lb/>
Iwan die Vergangenheit vergangen sein und denkt ausschließlich daran, sich<lb/>
der Gegenwart anzupassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1435" next="#ID_1436"> Ans dem ungeheuern Gebiete des Mütterchen Rußland wird Iwan von<lb/>
einem Klima ins andre, von einer Ecke des Reiches in die andre geworfen,<lb/>
und überall ist er zufrieden, dieselbe Schablone wiederzufinden. Überall er¬<lb/>
hält er seine drei Pfund Brot und fünfmal in der Woche sogar ein halbes<lb/>
Pfund Fleisch, sodaß die sprichwörtliche Unmäßigkeit der Bewohner des Nordens<lb/>
und die Mäßigkeit der Bewohner warmer Länder bei Iwan ausgeglichen<lb/>
werden. Solcher Iwans giebt es unzählige, und alljährlich treibt man sie<lb/>
in die Kasernen, wo man ihre umsonst zu habende Arbeitskraft beispiellos<lb/>
ausbeutet. Wo zwei Iwans genügen würden, schickt man vier oder fünf hin<lb/>
(es kommt nicht darauf an, man braucht nicht zu zahlen). Wollte man für<lb/>
ein Jahr die in den Kasernen vergeudete Arbeit Iwans nutzbar macheu, so<lb/>
ließen sich viele Wälder setzen, Eisenbahnen banen oder Kanäle graben! Unser<lb/>
Iwan hat aber auch seine Feiertage, wenn man ihn zu freier Arbeit entlaßt.<lb/>
Das ist für ihn dasselbe, was Hapsal oder Karlsbald für andre Leute ist.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0491] Der russische Soldat handelt, etwa fremdes Eigentum oder fremdes Geld an sich nimmt, so ist das wieder nicht seine Schuld, er besteht fest darauf, daß der Böse ihn ver¬ leitet habe, und daß er selbst ganz unschuldig sei. Alle Erzählungen Michai- lows enden tragisch: die Sagenwelt der Vampyre, der Hausgeister und Teufel, vor deren Hinterlist, Bosheit und Blutgier es keine Rettung giebt, befängt ihn. Ebenso trostlos sind seine Lieder, alle Melodien sind in Moll gehalten und klingen unbeschreiblich traurig. Die Summe dieser Eigentümlichkeiten und Charakterzüge, die von Geschlecht zu Geschlecht mit geringer Abtönung gegangen sind, in langer historischer Ent¬ wicklung, von der Tatarenzeit durch die Leibeigenschaft, hat auch sein Nach¬ folger und Sohn, Iwan Jwanow geerbt, nur sind noch einige besondre Züge dazugetreteu. In früher Jugend hat man ihn von Familie und Freunden getrennt und zum Rekruten gemacht. Das Schicksal hat mit einemmale sein ganzes Leben umgewandelt und ihn zu einem andern Wesen gemacht. An¬ fangs weinte er wohl bei dem Gedanken an Vater und Mutter, an die Liebste und an sein bittres Los: war seine arme Hütte auch nicht freundlich und anziehend, so war es doch das Dach der Eltern! Wann aber wird er es wiedersehn? Aber Monate, Jahre und Jahre gehen hin, und die große Staats¬ maschine modelt ihn nach der allgemeinen Form um; und so wird unser Iwein in das immer gleich monotone Leben der Kaserne hineingezogen. Er wird ein lebendiger, nie widersprechender Automat; er gehorcht einem Willen, den sein einfacher Verstand durchaus unfähig ist zu kritisiren und ergiebt sich blind seinem Schicksal, ohne einen Versuch des Widerstandes. Auch liegt es uicht in seiner Natur, gegen das Unabwendbare anzukämpfen: Gott wird es so gewollt haben — es ist hurtig und unnütz, dawider zu murren! so läßt Iwan die Vergangenheit vergangen sein und denkt ausschließlich daran, sich der Gegenwart anzupassen. Ans dem ungeheuern Gebiete des Mütterchen Rußland wird Iwan von einem Klima ins andre, von einer Ecke des Reiches in die andre geworfen, und überall ist er zufrieden, dieselbe Schablone wiederzufinden. Überall er¬ hält er seine drei Pfund Brot und fünfmal in der Woche sogar ein halbes Pfund Fleisch, sodaß die sprichwörtliche Unmäßigkeit der Bewohner des Nordens und die Mäßigkeit der Bewohner warmer Länder bei Iwan ausgeglichen werden. Solcher Iwans giebt es unzählige, und alljährlich treibt man sie in die Kasernen, wo man ihre umsonst zu habende Arbeitskraft beispiellos ausbeutet. Wo zwei Iwans genügen würden, schickt man vier oder fünf hin (es kommt nicht darauf an, man braucht nicht zu zahlen). Wollte man für ein Jahr die in den Kasernen vergeudete Arbeit Iwans nutzbar macheu, so ließen sich viele Wälder setzen, Eisenbahnen banen oder Kanäle graben! Unser Iwan hat aber auch seine Feiertage, wenn man ihn zu freier Arbeit entlaßt. Das ist für ihn dasselbe, was Hapsal oder Karlsbald für andre Leute ist.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/491
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/491>, abgerufen am 26.06.2024.