Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Bajonett zu neuem Kampfe. Wein anders als unserm grauen Soldaten, und
ihm ausschließlich, danken wir die ruhmvolle Vergangenheit der russischen
Armee, und heute scheut mir vor ihm, vor seinem unüberwindlichen Bajonett
die bewaffnete Macht unsrer Feinde zurück.

Der bekannte englische Korrespondent McCahcm, der Freund Skobelews,
der unsre Truppen bei all ihren Expeditionen in Zentralasien begleitete, giebt
in einer seiner Schriften eine höchst zutreffende Charakteristik des russischen
Soldaten, die aus dein Munde des Fremden noch an Wert gewinnt.

Wir versuchen aus der Beobachtung des Engländers und aus eigner
Kenntnis eine Skizze unsers Soldaten zu entwerfen.

Geboren wurde Iwan Jwanow -- so nannte der Engländer den russischen
Durchschnittssoldaten -- als Leibeigner. Sein Vater, Iwan Michailvw war
auch Bauer und, wie alle seine Vorfahren, Leibeigener. Sein Lebtag hat
Michailow nichts gekannt als schwere Arbeit und dürftigste Nahrung. Vor
Aufhebung der Leibeigenschaft mußte er von sieben Tagen in der Woche vier
für seinen Herrn arbeiten, sich selbst verpflegen, Pferd und Ackergerät stellen
und durch die Arbeit, der übrigen drei Tage sich und die Seinen erhalten.
Bedenkt mau, daß die klimatischen Verhältnisse Rußlands volle sechs Monate
lang die Arbeit unmöglich machen, so begreift man, daß nicht eben das
glänzendste Los Michailow zu teil wurde. Nachdem er den ganzen Tag für
den Gutsherrn gearbeitet hatte, brauchte er uoch die halbe Nacht für sich,
und als Nahrung diente ihm sein Leben lang Kohl und Suppe, dazu Schwarz¬
brot -- in Hungerjahren Birkenwasser und Lindenblätter. Seine Wohnung
besteht aus einer Hütte, in der sich alle Familienglieder, Greise und kleine
Kinder, drängen und unter den Schlafstellen Kälber und Ferkel. In derselben
Hütte wohnen die verheirateten Söhne mit ihren Frauen und Kindern. Unter
diesen Umständen läßt sich freilich nicht erwarten, daß Michailow sich durch
besonders feine Sittlichkeit, durch Bildung und aufgeklärte Denkweise aus¬
zeichnet -- im Gegenteil, alle diese Eigenschaften sind bei ihm nicht zu finden.
Er ist unentwickelt und grenzenlos abergläubisch, aber er zeigt auch gute
Eigenschaften. Er ist von Natur weder hart noch unmenschlich und hat
keinerlei entwürdigende Laster. Michailows schwache Seite ist dieselbe wie bei
dem ersten Napoleon: er ist Fatalist, nur wirkt der Fatalismus auf Michai¬
low ganz anders. Er macht ihn nicht unsinnig kühn und zu jedem Wagnis
bereit, sondern entwickelt eine gewisse Apathie in ihm; er hat keinerlei ver¬
zückten Glauben an seinen Stern, er weiß nicht einmal, daß er einen Stern
hat, und wenn er es weiß, hält er ihn für einen unheilvollen und betrügeri¬
schen, dem mau ja uicht vertrauen darf, den mau vermeiden und verwünschen
muß. Geht ihm die Hütte in Flammen auf -- Gott hat es gewollt, und
so läßt er sie bis auf deu Grund niederbrennen; erkrankt er, so wird er ans
demselben Grunde keine Arzneien nehmen. Geschieht es ihm, daß er unbedacht


Bajonett zu neuem Kampfe. Wein anders als unserm grauen Soldaten, und
ihm ausschließlich, danken wir die ruhmvolle Vergangenheit der russischen
Armee, und heute scheut mir vor ihm, vor seinem unüberwindlichen Bajonett
die bewaffnete Macht unsrer Feinde zurück.

Der bekannte englische Korrespondent McCahcm, der Freund Skobelews,
der unsre Truppen bei all ihren Expeditionen in Zentralasien begleitete, giebt
in einer seiner Schriften eine höchst zutreffende Charakteristik des russischen
Soldaten, die aus dein Munde des Fremden noch an Wert gewinnt.

Wir versuchen aus der Beobachtung des Engländers und aus eigner
Kenntnis eine Skizze unsers Soldaten zu entwerfen.

Geboren wurde Iwan Jwanow — so nannte der Engländer den russischen
Durchschnittssoldaten — als Leibeigner. Sein Vater, Iwan Michailvw war
auch Bauer und, wie alle seine Vorfahren, Leibeigener. Sein Lebtag hat
Michailow nichts gekannt als schwere Arbeit und dürftigste Nahrung. Vor
Aufhebung der Leibeigenschaft mußte er von sieben Tagen in der Woche vier
für seinen Herrn arbeiten, sich selbst verpflegen, Pferd und Ackergerät stellen
und durch die Arbeit, der übrigen drei Tage sich und die Seinen erhalten.
Bedenkt mau, daß die klimatischen Verhältnisse Rußlands volle sechs Monate
lang die Arbeit unmöglich machen, so begreift man, daß nicht eben das
glänzendste Los Michailow zu teil wurde. Nachdem er den ganzen Tag für
den Gutsherrn gearbeitet hatte, brauchte er uoch die halbe Nacht für sich,
und als Nahrung diente ihm sein Leben lang Kohl und Suppe, dazu Schwarz¬
brot — in Hungerjahren Birkenwasser und Lindenblätter. Seine Wohnung
besteht aus einer Hütte, in der sich alle Familienglieder, Greise und kleine
Kinder, drängen und unter den Schlafstellen Kälber und Ferkel. In derselben
Hütte wohnen die verheirateten Söhne mit ihren Frauen und Kindern. Unter
diesen Umständen läßt sich freilich nicht erwarten, daß Michailow sich durch
besonders feine Sittlichkeit, durch Bildung und aufgeklärte Denkweise aus¬
zeichnet — im Gegenteil, alle diese Eigenschaften sind bei ihm nicht zu finden.
Er ist unentwickelt und grenzenlos abergläubisch, aber er zeigt auch gute
Eigenschaften. Er ist von Natur weder hart noch unmenschlich und hat
keinerlei entwürdigende Laster. Michailows schwache Seite ist dieselbe wie bei
dem ersten Napoleon: er ist Fatalist, nur wirkt der Fatalismus auf Michai¬
low ganz anders. Er macht ihn nicht unsinnig kühn und zu jedem Wagnis
bereit, sondern entwickelt eine gewisse Apathie in ihm; er hat keinerlei ver¬
zückten Glauben an seinen Stern, er weiß nicht einmal, daß er einen Stern
hat, und wenn er es weiß, hält er ihn für einen unheilvollen und betrügeri¬
schen, dem mau ja uicht vertrauen darf, den mau vermeiden und verwünschen
muß. Geht ihm die Hütte in Flammen auf — Gott hat es gewollt, und
so läßt er sie bis auf deu Grund niederbrennen; erkrankt er, so wird er ans
demselben Grunde keine Arzneien nehmen. Geschieht es ihm, daß er unbedacht


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0490" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290259"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1429" prev="#ID_1428"> Bajonett zu neuem Kampfe. Wein anders als unserm grauen Soldaten, und<lb/>
ihm ausschließlich, danken wir die ruhmvolle Vergangenheit der russischen<lb/>
Armee, und heute scheut mir vor ihm, vor seinem unüberwindlichen Bajonett<lb/>
die bewaffnete Macht unsrer Feinde zurück.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1430"> Der bekannte englische Korrespondent McCahcm, der Freund Skobelews,<lb/>
der unsre Truppen bei all ihren Expeditionen in Zentralasien begleitete, giebt<lb/>
in einer seiner Schriften eine höchst zutreffende Charakteristik des russischen<lb/>
Soldaten, die aus dein Munde des Fremden noch an Wert gewinnt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1431"> Wir versuchen aus der Beobachtung des Engländers und aus eigner<lb/>
Kenntnis eine Skizze unsers Soldaten zu entwerfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1432" next="#ID_1433"> Geboren wurde Iwan Jwanow &#x2014; so nannte der Engländer den russischen<lb/>
Durchschnittssoldaten &#x2014; als Leibeigner. Sein Vater, Iwan Michailvw war<lb/>
auch Bauer und, wie alle seine Vorfahren, Leibeigener. Sein Lebtag hat<lb/>
Michailow nichts gekannt als schwere Arbeit und dürftigste Nahrung. Vor<lb/>
Aufhebung der Leibeigenschaft mußte er von sieben Tagen in der Woche vier<lb/>
für seinen Herrn arbeiten, sich selbst verpflegen, Pferd und Ackergerät stellen<lb/>
und durch die Arbeit, der übrigen drei Tage sich und die Seinen erhalten.<lb/>
Bedenkt mau, daß die klimatischen Verhältnisse Rußlands volle sechs Monate<lb/>
lang die Arbeit unmöglich machen, so begreift man, daß nicht eben das<lb/>
glänzendste Los Michailow zu teil wurde. Nachdem er den ganzen Tag für<lb/>
den Gutsherrn gearbeitet hatte, brauchte er uoch die halbe Nacht für sich,<lb/>
und als Nahrung diente ihm sein Leben lang Kohl und Suppe, dazu Schwarz¬<lb/>
brot &#x2014; in Hungerjahren Birkenwasser und Lindenblätter. Seine Wohnung<lb/>
besteht aus einer Hütte, in der sich alle Familienglieder, Greise und kleine<lb/>
Kinder, drängen und unter den Schlafstellen Kälber und Ferkel. In derselben<lb/>
Hütte wohnen die verheirateten Söhne mit ihren Frauen und Kindern. Unter<lb/>
diesen Umständen läßt sich freilich nicht erwarten, daß Michailow sich durch<lb/>
besonders feine Sittlichkeit, durch Bildung und aufgeklärte Denkweise aus¬<lb/>
zeichnet &#x2014; im Gegenteil, alle diese Eigenschaften sind bei ihm nicht zu finden.<lb/>
Er ist unentwickelt und grenzenlos abergläubisch, aber er zeigt auch gute<lb/>
Eigenschaften. Er ist von Natur weder hart noch unmenschlich und hat<lb/>
keinerlei entwürdigende Laster. Michailows schwache Seite ist dieselbe wie bei<lb/>
dem ersten Napoleon: er ist Fatalist, nur wirkt der Fatalismus auf Michai¬<lb/>
low ganz anders. Er macht ihn nicht unsinnig kühn und zu jedem Wagnis<lb/>
bereit, sondern entwickelt eine gewisse Apathie in ihm; er hat keinerlei ver¬<lb/>
zückten Glauben an seinen Stern, er weiß nicht einmal, daß er einen Stern<lb/>
hat, und wenn er es weiß, hält er ihn für einen unheilvollen und betrügeri¬<lb/>
schen, dem mau ja uicht vertrauen darf, den mau vermeiden und verwünschen<lb/>
muß. Geht ihm die Hütte in Flammen auf &#x2014; Gott hat es gewollt, und<lb/>
so läßt er sie bis auf deu Grund niederbrennen; erkrankt er, so wird er ans<lb/>
demselben Grunde keine Arzneien nehmen. Geschieht es ihm, daß er unbedacht</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0490] Bajonett zu neuem Kampfe. Wein anders als unserm grauen Soldaten, und ihm ausschließlich, danken wir die ruhmvolle Vergangenheit der russischen Armee, und heute scheut mir vor ihm, vor seinem unüberwindlichen Bajonett die bewaffnete Macht unsrer Feinde zurück. Der bekannte englische Korrespondent McCahcm, der Freund Skobelews, der unsre Truppen bei all ihren Expeditionen in Zentralasien begleitete, giebt in einer seiner Schriften eine höchst zutreffende Charakteristik des russischen Soldaten, die aus dein Munde des Fremden noch an Wert gewinnt. Wir versuchen aus der Beobachtung des Engländers und aus eigner Kenntnis eine Skizze unsers Soldaten zu entwerfen. Geboren wurde Iwan Jwanow — so nannte der Engländer den russischen Durchschnittssoldaten — als Leibeigner. Sein Vater, Iwan Michailvw war auch Bauer und, wie alle seine Vorfahren, Leibeigener. Sein Lebtag hat Michailow nichts gekannt als schwere Arbeit und dürftigste Nahrung. Vor Aufhebung der Leibeigenschaft mußte er von sieben Tagen in der Woche vier für seinen Herrn arbeiten, sich selbst verpflegen, Pferd und Ackergerät stellen und durch die Arbeit, der übrigen drei Tage sich und die Seinen erhalten. Bedenkt mau, daß die klimatischen Verhältnisse Rußlands volle sechs Monate lang die Arbeit unmöglich machen, so begreift man, daß nicht eben das glänzendste Los Michailow zu teil wurde. Nachdem er den ganzen Tag für den Gutsherrn gearbeitet hatte, brauchte er uoch die halbe Nacht für sich, und als Nahrung diente ihm sein Leben lang Kohl und Suppe, dazu Schwarz¬ brot — in Hungerjahren Birkenwasser und Lindenblätter. Seine Wohnung besteht aus einer Hütte, in der sich alle Familienglieder, Greise und kleine Kinder, drängen und unter den Schlafstellen Kälber und Ferkel. In derselben Hütte wohnen die verheirateten Söhne mit ihren Frauen und Kindern. Unter diesen Umständen läßt sich freilich nicht erwarten, daß Michailow sich durch besonders feine Sittlichkeit, durch Bildung und aufgeklärte Denkweise aus¬ zeichnet — im Gegenteil, alle diese Eigenschaften sind bei ihm nicht zu finden. Er ist unentwickelt und grenzenlos abergläubisch, aber er zeigt auch gute Eigenschaften. Er ist von Natur weder hart noch unmenschlich und hat keinerlei entwürdigende Laster. Michailows schwache Seite ist dieselbe wie bei dem ersten Napoleon: er ist Fatalist, nur wirkt der Fatalismus auf Michai¬ low ganz anders. Er macht ihn nicht unsinnig kühn und zu jedem Wagnis bereit, sondern entwickelt eine gewisse Apathie in ihm; er hat keinerlei ver¬ zückten Glauben an seinen Stern, er weiß nicht einmal, daß er einen Stern hat, und wenn er es weiß, hält er ihn für einen unheilvollen und betrügeri¬ schen, dem mau ja uicht vertrauen darf, den mau vermeiden und verwünschen muß. Geht ihm die Hütte in Flammen auf — Gott hat es gewollt, und so läßt er sie bis auf deu Grund niederbrennen; erkrankt er, so wird er ans demselben Grunde keine Arzneien nehmen. Geschieht es ihm, daß er unbedacht

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/490
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/490>, abgerufen am 29.09.2024.