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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Der russische Soldat

Er erfrischt sich nach der engen Eintönigkeit des Kasernenlebens, und indem
er sich den frühern Gefährten seines Landlebens nähert, dringt durch Sense
und Pflug ein poetisches Element in sein eintöniges Dasein. Vielleicht bleibt
von dem erarbeiteten Gelde etwas in seinem Beutel -- der größte Teil geht
in die Kasse des Artet (Arbeitsgenossenschaft). Was er zurückbehält, ist meist
ein Stück Wachs, ein Fingerhut und ein Stückchen Kreide -- viel Geld braucht
er ja uicht, er ist bekleidet, beschuht, gesättigt und hat ein warmes Unter¬
kommen. Seine persönlichen Ausgaben gehen meist auf Herzensangelegenheiten
hin. Es muß uümlich bemerkt werden, daß Iwan ein großer Verehrer des
weiblichen Geschlechts ist; wenn er mich sagt: Durch die schlimmen Weiber
kann auch ein gerechter Engel zum Sünder werden, so ist er doch ein großer
Feinschmecker in dieser Hinsicht. Trotz seiner Plumpheit zeigt er sich hier
unternehmend, und als Kampfesmittel hat er seine Harmonika und viel schöne
Worte. Schon längst gehört sein Herz der dicken Köchin des Nachbarhauses,
die ihn liebkost, für ihn wäscht und näht und nur selten zur Belohnung ein
Pfund Nüsse oder Pfefferkuchen erhält, von denen er dann dreiviertel selbst
verzehrt.

Die stete Anspannung des Svldatenlebens bringt es dann mit sich, daß
Iwan schließlich die in der fernen Heimat zurückgelassenen Verwandten
vergißt. Zeigt ihm die Zukunft auch wenig Hoffnungen, so hat er dafür,
die Wahrheit zu gestehen, auch nichts zu verlieren -- ihm droht kein
Kummer mehr, und so wird aus ihm der allerlustigste, mutwilligste Bursche.
Die Hauptquelle der Vergnügungen Iwans bilden seine Lieder. Er singt
vom Morgen bis in die Nacht, auch ans dem Marsche verstummt er selten.
In seinem Repertoire finden sich Lieder, die Hunderte von Versen haben,
und viele dieser Lieder haben für einen menschlichen Verstand keinerlei
Sinn -- auch weiß niemand, wann und durch wen sie entstanden sind;
aber Iwan singt sie mit Begeisterung fast von Anfang bis zu Ende mit
stets neuem Genuß. Diese Siebenmeilenlieder begleite:? ihn dnrch die Wüste,
wie auf die Spitzen der Berge. Er hat die Liebe zum Gesang von seinem
Vater Iwan Michailvw überkommen, dem die Lieder die Stütze im Leben
waren: sie betäubten ihm den Jammer der Leibeigenschaft. Iwan sieht daher
in seinem Gesang durchaus kein unwichtiges, gleichgiltiges Geschäft. Wenn
Iwan singt, dann steht er aufrecht; sein Gesicht ist ernst, als ob er etwas
Heiliges vornehme, und die Gefährten sammeln sich um ihn und fallen am
Schluß jeder Strophe im Chor ein. Durch die Lustigkeit Iwans klingt sogar
eine gewisse Übertreibung, die wohl anzeigt, daß es in seiner Seele durchaus
uicht so hell und freudig ausschaut, wie die Worte des Liedes sagen.

Es darf übrigens nicht verschwiegen werden, daß hente in die ausschließlich
aus Jwauvws bestehende Armee auch der Nachwuchs des Adels, Fabrik¬
arbeiter und Beamtensöhne getreten sind, und dadurch der Charakter des


Der russische Soldat

Er erfrischt sich nach der engen Eintönigkeit des Kasernenlebens, und indem
er sich den frühern Gefährten seines Landlebens nähert, dringt durch Sense
und Pflug ein poetisches Element in sein eintöniges Dasein. Vielleicht bleibt
von dem erarbeiteten Gelde etwas in seinem Beutel — der größte Teil geht
in die Kasse des Artet (Arbeitsgenossenschaft). Was er zurückbehält, ist meist
ein Stück Wachs, ein Fingerhut und ein Stückchen Kreide — viel Geld braucht
er ja uicht, er ist bekleidet, beschuht, gesättigt und hat ein warmes Unter¬
kommen. Seine persönlichen Ausgaben gehen meist auf Herzensangelegenheiten
hin. Es muß uümlich bemerkt werden, daß Iwan ein großer Verehrer des
weiblichen Geschlechts ist; wenn er mich sagt: Durch die schlimmen Weiber
kann auch ein gerechter Engel zum Sünder werden, so ist er doch ein großer
Feinschmecker in dieser Hinsicht. Trotz seiner Plumpheit zeigt er sich hier
unternehmend, und als Kampfesmittel hat er seine Harmonika und viel schöne
Worte. Schon längst gehört sein Herz der dicken Köchin des Nachbarhauses,
die ihn liebkost, für ihn wäscht und näht und nur selten zur Belohnung ein
Pfund Nüsse oder Pfefferkuchen erhält, von denen er dann dreiviertel selbst
verzehrt.

Die stete Anspannung des Svldatenlebens bringt es dann mit sich, daß
Iwan schließlich die in der fernen Heimat zurückgelassenen Verwandten
vergißt. Zeigt ihm die Zukunft auch wenig Hoffnungen, so hat er dafür,
die Wahrheit zu gestehen, auch nichts zu verlieren — ihm droht kein
Kummer mehr, und so wird aus ihm der allerlustigste, mutwilligste Bursche.
Die Hauptquelle der Vergnügungen Iwans bilden seine Lieder. Er singt
vom Morgen bis in die Nacht, auch ans dem Marsche verstummt er selten.
In seinem Repertoire finden sich Lieder, die Hunderte von Versen haben,
und viele dieser Lieder haben für einen menschlichen Verstand keinerlei
Sinn — auch weiß niemand, wann und durch wen sie entstanden sind;
aber Iwan singt sie mit Begeisterung fast von Anfang bis zu Ende mit
stets neuem Genuß. Diese Siebenmeilenlieder begleite:? ihn dnrch die Wüste,
wie auf die Spitzen der Berge. Er hat die Liebe zum Gesang von seinem
Vater Iwan Michailvw überkommen, dem die Lieder die Stütze im Leben
waren: sie betäubten ihm den Jammer der Leibeigenschaft. Iwan sieht daher
in seinem Gesang durchaus kein unwichtiges, gleichgiltiges Geschäft. Wenn
Iwan singt, dann steht er aufrecht; sein Gesicht ist ernst, als ob er etwas
Heiliges vornehme, und die Gefährten sammeln sich um ihn und fallen am
Schluß jeder Strophe im Chor ein. Durch die Lustigkeit Iwans klingt sogar
eine gewisse Übertreibung, die wohl anzeigt, daß es in seiner Seele durchaus
uicht so hell und freudig ausschaut, wie die Worte des Liedes sagen.

Es darf übrigens nicht verschwiegen werden, daß hente in die ausschließlich
aus Jwauvws bestehende Armee auch der Nachwuchs des Adels, Fabrik¬
arbeiter und Beamtensöhne getreten sind, und dadurch der Charakter des


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[0492] Der russische Soldat Er erfrischt sich nach der engen Eintönigkeit des Kasernenlebens, und indem er sich den frühern Gefährten seines Landlebens nähert, dringt durch Sense und Pflug ein poetisches Element in sein eintöniges Dasein. Vielleicht bleibt von dem erarbeiteten Gelde etwas in seinem Beutel — der größte Teil geht in die Kasse des Artet (Arbeitsgenossenschaft). Was er zurückbehält, ist meist ein Stück Wachs, ein Fingerhut und ein Stückchen Kreide — viel Geld braucht er ja uicht, er ist bekleidet, beschuht, gesättigt und hat ein warmes Unter¬ kommen. Seine persönlichen Ausgaben gehen meist auf Herzensangelegenheiten hin. Es muß uümlich bemerkt werden, daß Iwan ein großer Verehrer des weiblichen Geschlechts ist; wenn er mich sagt: Durch die schlimmen Weiber kann auch ein gerechter Engel zum Sünder werden, so ist er doch ein großer Feinschmecker in dieser Hinsicht. Trotz seiner Plumpheit zeigt er sich hier unternehmend, und als Kampfesmittel hat er seine Harmonika und viel schöne Worte. Schon längst gehört sein Herz der dicken Köchin des Nachbarhauses, die ihn liebkost, für ihn wäscht und näht und nur selten zur Belohnung ein Pfund Nüsse oder Pfefferkuchen erhält, von denen er dann dreiviertel selbst verzehrt. Die stete Anspannung des Svldatenlebens bringt es dann mit sich, daß Iwan schließlich die in der fernen Heimat zurückgelassenen Verwandten vergißt. Zeigt ihm die Zukunft auch wenig Hoffnungen, so hat er dafür, die Wahrheit zu gestehen, auch nichts zu verlieren — ihm droht kein Kummer mehr, und so wird aus ihm der allerlustigste, mutwilligste Bursche. Die Hauptquelle der Vergnügungen Iwans bilden seine Lieder. Er singt vom Morgen bis in die Nacht, auch ans dem Marsche verstummt er selten. In seinem Repertoire finden sich Lieder, die Hunderte von Versen haben, und viele dieser Lieder haben für einen menschlichen Verstand keinerlei Sinn — auch weiß niemand, wann und durch wen sie entstanden sind; aber Iwan singt sie mit Begeisterung fast von Anfang bis zu Ende mit stets neuem Genuß. Diese Siebenmeilenlieder begleite:? ihn dnrch die Wüste, wie auf die Spitzen der Berge. Er hat die Liebe zum Gesang von seinem Vater Iwan Michailvw überkommen, dem die Lieder die Stütze im Leben waren: sie betäubten ihm den Jammer der Leibeigenschaft. Iwan sieht daher in seinem Gesang durchaus kein unwichtiges, gleichgiltiges Geschäft. Wenn Iwan singt, dann steht er aufrecht; sein Gesicht ist ernst, als ob er etwas Heiliges vornehme, und die Gefährten sammeln sich um ihn und fallen am Schluß jeder Strophe im Chor ein. Durch die Lustigkeit Iwans klingt sogar eine gewisse Übertreibung, die wohl anzeigt, daß es in seiner Seele durchaus uicht so hell und freudig ausschaut, wie die Worte des Liedes sagen. Es darf übrigens nicht verschwiegen werden, daß hente in die ausschließlich aus Jwauvws bestehende Armee auch der Nachwuchs des Adels, Fabrik¬ arbeiter und Beamtensöhne getreten sind, und dadurch der Charakter des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/492>, abgerufen am 18.06.2024.