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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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und der niedern Arten. Er griff zu der Schiefertafel eines kleinen Schul¬
jungen. Der hatte darauf eine "Schmierage" gezeichnet, die unklar ließ, ob
sie ein Dromedar oder ein Vexirbild: "Wo ist die Katz?" oder eine Schling¬
pflanze oder den Versuch einer Landkarte darstellen sollte. Herbeigerufen er¬
klärte der jugendliche Urheber, ein "Suldat" sei gemeint. Ju diesem Augen¬
blicke war für Herrn Holz die Frage uach dem Wesen der Kunst beantwortet,
das gesuchte Gesetz gefunden. Nämlich zwischen diesem "Suldateu" und der
sixtinischen Madonna besteht kein Artunterschied, sondern nnr ein Gradunterschied.
Das Ziel des kleinen Buben war ein Soldat, das Ergebnis die "Schmierage."
Zwischen beiden klafft eine Lücke, dieselbe Lücke, die überall zwischen Wollen und
Vollbringe" klafft. Damils ergiebt sich die Formel: "Schmierage Soldat -- x,"
Folglich: "Kunstwerk Stück Natur -- x." Folglich: "Kunst Natur -- x."
Dieses x gilt es zu finden. Herr Holz bestimmt es sofort und hat damit den
Stein der Weisen gefunden. Das Urgesetz aller Kunst lautet: "Die Kunst
hat die Tendenz, wieder Natur zu sein. Sie wird es uach Maßgabe ihrer
jeweiligen Reprvduktiousbediuguuge" und ihrer Handhabung." Mit dieser
"rührend einfachen" Lösung des Rätsels ist die gesamte Kuustphilosophie der
letzten zwei Jahrtmiseude, von Aristoteles bis auf Taine, gestürzt und, so
nebenbei anch die Bankunst ans dem Tempel der Kunst hinausgeworfen.

Zunächst wollte nun Herr Holz ans dem neu entdeckten Gesetz alle
Kunstentwicklung herleite", und er machte sich a" die Abfassung eines großen
systematischen Werkes "Soziologie der .Kunst." Eine Widmungsepistel an
Emile Zola in französischer Sprache bekam er anch fertig, aber das Buch
hinter diesem Briefe kam nie zu stände -- "Gott sei Dank!" sagt Herr Holz
selber. Statt desfe" that er sich mit seinem Freunde Johannes Schlaf zu¬
sammen, einem verunglückten klassische" Philologen, und beide zusammen
schrieben zuerst "Papn Hamlet," eine Novelle, die sie unter dem Pseudonym
P. Bjarne Hvlmsen herausgaben, später die berühmte "Familie Selicke."

Es wäre nichts verfehlter, als Herrn Holz die Ehre einer ernsthaften
Kritik oder gar eiuer Widerlegung anzuthun. Es genügt, sein Buch als
Aktenstück zu einigen thatsächlichen Folgerungen über den Charakter des
Naturalismus zu verwerten. Denn wenn Gerhart Hauptmann dem pseudo-
uhmeu P. Bjarne Holmsen, "dein konsequentesten Vertreter des Realismus,"
sein Erstlingsdrama widmet, wenn die ganze Linie von Jung-Berlin über das
neue Kunstbuch in Jubelfaufareu ausbricht, denn muß es doch wohl "sympto¬
matische" Bedeutung haben.

Herr Holz beginnt damit, festzustellen, daß ihm jede dichterische Begabung
mangle: seine Verse find, wie die Proben ergeben, nicht gehauen und uicht
gestochen. Das ist an und für sich keine Schande. Aber es gehört doch ein
bodenloser Cynismus dazu, sich seiner Unfähigkeit offen zu rühmen und nicht
allein den eignen künstlerische" Entwicklungsgang davon abzuleiten, sonder"


Grenzboim III 1891 "
Li» Evangelium des Naturalismus

und der niedern Arten. Er griff zu der Schiefertafel eines kleinen Schul¬
jungen. Der hatte darauf eine „Schmierage" gezeichnet, die unklar ließ, ob
sie ein Dromedar oder ein Vexirbild: „Wo ist die Katz?" oder eine Schling¬
pflanze oder den Versuch einer Landkarte darstellen sollte. Herbeigerufen er¬
klärte der jugendliche Urheber, ein „Suldat" sei gemeint. Ju diesem Augen¬
blicke war für Herrn Holz die Frage uach dem Wesen der Kunst beantwortet,
das gesuchte Gesetz gefunden. Nämlich zwischen diesem „Suldateu" und der
sixtinischen Madonna besteht kein Artunterschied, sondern nnr ein Gradunterschied.
Das Ziel des kleinen Buben war ein Soldat, das Ergebnis die „Schmierage."
Zwischen beiden klafft eine Lücke, dieselbe Lücke, die überall zwischen Wollen und
Vollbringe» klafft. Damils ergiebt sich die Formel: „Schmierage Soldat — x,"
Folglich: „Kunstwerk Stück Natur — x." Folglich: „Kunst Natur — x."
Dieses x gilt es zu finden. Herr Holz bestimmt es sofort und hat damit den
Stein der Weisen gefunden. Das Urgesetz aller Kunst lautet: „Die Kunst
hat die Tendenz, wieder Natur zu sein. Sie wird es uach Maßgabe ihrer
jeweiligen Reprvduktiousbediuguuge» und ihrer Handhabung." Mit dieser
„rührend einfachen" Lösung des Rätsels ist die gesamte Kuustphilosophie der
letzten zwei Jahrtmiseude, von Aristoteles bis auf Taine, gestürzt und, so
nebenbei anch die Bankunst ans dem Tempel der Kunst hinausgeworfen.

Zunächst wollte nun Herr Holz ans dem neu entdeckten Gesetz alle
Kunstentwicklung herleite», und er machte sich a» die Abfassung eines großen
systematischen Werkes „Soziologie der .Kunst." Eine Widmungsepistel an
Emile Zola in französischer Sprache bekam er anch fertig, aber das Buch
hinter diesem Briefe kam nie zu stände — „Gott sei Dank!" sagt Herr Holz
selber. Statt desfe» that er sich mit seinem Freunde Johannes Schlaf zu¬
sammen, einem verunglückten klassische» Philologen, und beide zusammen
schrieben zuerst „Papn Hamlet," eine Novelle, die sie unter dem Pseudonym
P. Bjarne Hvlmsen herausgaben, später die berühmte „Familie Selicke."

Es wäre nichts verfehlter, als Herrn Holz die Ehre einer ernsthaften
Kritik oder gar eiuer Widerlegung anzuthun. Es genügt, sein Buch als
Aktenstück zu einigen thatsächlichen Folgerungen über den Charakter des
Naturalismus zu verwerten. Denn wenn Gerhart Hauptmann dem pseudo-
uhmeu P. Bjarne Holmsen, „dein konsequentesten Vertreter des Realismus,"
sein Erstlingsdrama widmet, wenn die ganze Linie von Jung-Berlin über das
neue Kunstbuch in Jubelfaufareu ausbricht, denn muß es doch wohl „sympto¬
matische" Bedeutung haben.

Herr Holz beginnt damit, festzustellen, daß ihm jede dichterische Begabung
mangle: seine Verse find, wie die Proben ergeben, nicht gehauen und uicht
gestochen. Das ist an und für sich keine Schande. Aber es gehört doch ein
bodenloser Cynismus dazu, sich seiner Unfähigkeit offen zu rühmen und nicht
allein den eignen künstlerische» Entwicklungsgang davon abzuleiten, sonder»


Grenzboim III 1891 «
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[0049] Li» Evangelium des Naturalismus und der niedern Arten. Er griff zu der Schiefertafel eines kleinen Schul¬ jungen. Der hatte darauf eine „Schmierage" gezeichnet, die unklar ließ, ob sie ein Dromedar oder ein Vexirbild: „Wo ist die Katz?" oder eine Schling¬ pflanze oder den Versuch einer Landkarte darstellen sollte. Herbeigerufen er¬ klärte der jugendliche Urheber, ein „Suldat" sei gemeint. Ju diesem Augen¬ blicke war für Herrn Holz die Frage uach dem Wesen der Kunst beantwortet, das gesuchte Gesetz gefunden. Nämlich zwischen diesem „Suldateu" und der sixtinischen Madonna besteht kein Artunterschied, sondern nnr ein Gradunterschied. Das Ziel des kleinen Buben war ein Soldat, das Ergebnis die „Schmierage." Zwischen beiden klafft eine Lücke, dieselbe Lücke, die überall zwischen Wollen und Vollbringe» klafft. Damils ergiebt sich die Formel: „Schmierage Soldat — x," Folglich: „Kunstwerk Stück Natur — x." Folglich: „Kunst Natur — x." Dieses x gilt es zu finden. Herr Holz bestimmt es sofort und hat damit den Stein der Weisen gefunden. Das Urgesetz aller Kunst lautet: „Die Kunst hat die Tendenz, wieder Natur zu sein. Sie wird es uach Maßgabe ihrer jeweiligen Reprvduktiousbediuguuge» und ihrer Handhabung." Mit dieser „rührend einfachen" Lösung des Rätsels ist die gesamte Kuustphilosophie der letzten zwei Jahrtmiseude, von Aristoteles bis auf Taine, gestürzt und, so nebenbei anch die Bankunst ans dem Tempel der Kunst hinausgeworfen. Zunächst wollte nun Herr Holz ans dem neu entdeckten Gesetz alle Kunstentwicklung herleite», und er machte sich a» die Abfassung eines großen systematischen Werkes „Soziologie der .Kunst." Eine Widmungsepistel an Emile Zola in französischer Sprache bekam er anch fertig, aber das Buch hinter diesem Briefe kam nie zu stände — „Gott sei Dank!" sagt Herr Holz selber. Statt desfe» that er sich mit seinem Freunde Johannes Schlaf zu¬ sammen, einem verunglückten klassische» Philologen, und beide zusammen schrieben zuerst „Papn Hamlet," eine Novelle, die sie unter dem Pseudonym P. Bjarne Hvlmsen herausgaben, später die berühmte „Familie Selicke." Es wäre nichts verfehlter, als Herrn Holz die Ehre einer ernsthaften Kritik oder gar eiuer Widerlegung anzuthun. Es genügt, sein Buch als Aktenstück zu einigen thatsächlichen Folgerungen über den Charakter des Naturalismus zu verwerten. Denn wenn Gerhart Hauptmann dem pseudo- uhmeu P. Bjarne Holmsen, „dein konsequentesten Vertreter des Realismus," sein Erstlingsdrama widmet, wenn die ganze Linie von Jung-Berlin über das neue Kunstbuch in Jubelfaufareu ausbricht, denn muß es doch wohl „sympto¬ matische" Bedeutung haben. Herr Holz beginnt damit, festzustellen, daß ihm jede dichterische Begabung mangle: seine Verse find, wie die Proben ergeben, nicht gehauen und uicht gestochen. Das ist an und für sich keine Schande. Aber es gehört doch ein bodenloser Cynismus dazu, sich seiner Unfähigkeit offen zu rühmen und nicht allein den eignen künstlerische» Entwicklungsgang davon abzuleiten, sonder» Grenzboim III 1891 «

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/49>, abgerufen am 23.07.2024.