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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Lin Evangelium des Naturalismus

sie auch zum Ausgangspunkte, ja zur Grundlage eiuer das Wesen der Kunst
ergründenden Theorie zu machen.. In Wahrheit wird dadurch nur das eine
erreicht, daß der Beweis geliefert wird, wie das innerste Wesen unsers
deutschen Naturalismus zur Poesie in gar keiner Beziehung steht. Zugleich
wird der Haß erklärlich, den der Naturalismus gegen alles hegt, was "Genie"
heißt. Herr Holz erklärt den Mann, der das Wort "Genie" ersunden hat,
für einen "Esel" und verzichtet "lächelnd" darauf, "in diese imaginäre Kategorie
gestopft" zu werden. Davor ist er auch sicher; aber -- es war doch ein
boshafter Mann, der die Fabel von den sauern Trauben erfand!

Sodann deckt Herr Holz schonungslos auf, wie unerhört niedrig das
geistige Niveau ist, auf dem sich der Naturalismus bewegt. Er knüpft an die
moderne Naturwissenschaft an; aber indem er ihre Methoden auf die Beur¬
teilung von Vorgängen des geistigen Lebens übertragen will, verwendet er sie
genau mit derselben Reife oder vielmehr Unreife, womit die sozialdemokratischen
Agitatoren die "moderne Weltanschauung" verwerten, aber beileibe nicht etwa,
wie die bedeutenden unter ihnen; Vebel und Genossen, denen Bismarck einst
das kräftige Wörtlein von den "kümmerlichen Epigonen" ins Gesicht ge¬
schlendert hat, stehen turmhoch über Herrn Holz. Dieser hat einige Brocken
von Spencer, Buckle, Taine aufgelesen und stellt, ohne sie recht verdaut zu
haben, auf sie das Gebäude seiner neuen Kunstphilosophie. Darin jedoch
gleichen die jungdeutschen Herren der ihnen auch sonst so sympathischen Sozial¬
demokratie, daß sie die "Wissenschaft" fortwährend im Munde führen (übrigens
genan so wie die Wirtshäuser den König im Schilde, der nie bei ihnen ein¬
kehrt, würde Schopenhauer sagen) und dabei immer ganz einseitig an die
Naturwissenschaft denken, die historischen Wissenschaften aber als Plunder
einfach ignoriren. Von den Vorgängen auf diesem Gebiete haben sie nicht
die leiseste Ahnung: längst vor Buckle hat man gewußt, daß auch in dein
Leben der Menschen "Gesetze" obwalten, nur sind es eben ganz andre als die.
nach denen sich Säuren und Basen vereinigen. Die Methoden der Natur-
wissenschaft haben in der geschichtlichen Entwicklung gar nichts zu suchen.
Buckle und Genossen sind für die historische Wissenschaft überwundene Größen;
ein Forscher, der heute noch auf deren Betrachtungsweise zurückgreifen wollte,
würde sich lächerlich macheu. Der Herold einer neuen Zeit, der Zertrümmerer
zweitausendjährigen Irrtums steht also in Wahrheit auf einem ganz veralteten
Standpunkte.

Ist es demnach bei Herrn Holz mit der Wissensunterlage schlimm bestellt,
so steht es mit seiner Denkkraft noch viel ärger. Das Buch bezeugt eine
geradezu verblüffende Unfähigkeit, von außen zugetragenes aufzunehmen und
innerlich zu verarbeiten. Die gesamte kunstwissenschaftliche Litteratur in einem
halben Jahre abzuthun, ist, wenn da nicht ein bischen Flunkerei mit unter¬
läuft, ein starkes Stück. Später fühlt Herr Holz die Empfindung in sich


Lin Evangelium des Naturalismus

sie auch zum Ausgangspunkte, ja zur Grundlage eiuer das Wesen der Kunst
ergründenden Theorie zu machen.. In Wahrheit wird dadurch nur das eine
erreicht, daß der Beweis geliefert wird, wie das innerste Wesen unsers
deutschen Naturalismus zur Poesie in gar keiner Beziehung steht. Zugleich
wird der Haß erklärlich, den der Naturalismus gegen alles hegt, was „Genie"
heißt. Herr Holz erklärt den Mann, der das Wort „Genie" ersunden hat,
für einen „Esel" und verzichtet „lächelnd" darauf, „in diese imaginäre Kategorie
gestopft" zu werden. Davor ist er auch sicher; aber — es war doch ein
boshafter Mann, der die Fabel von den sauern Trauben erfand!

Sodann deckt Herr Holz schonungslos auf, wie unerhört niedrig das
geistige Niveau ist, auf dem sich der Naturalismus bewegt. Er knüpft an die
moderne Naturwissenschaft an; aber indem er ihre Methoden auf die Beur¬
teilung von Vorgängen des geistigen Lebens übertragen will, verwendet er sie
genau mit derselben Reife oder vielmehr Unreife, womit die sozialdemokratischen
Agitatoren die „moderne Weltanschauung" verwerten, aber beileibe nicht etwa,
wie die bedeutenden unter ihnen; Vebel und Genossen, denen Bismarck einst
das kräftige Wörtlein von den „kümmerlichen Epigonen" ins Gesicht ge¬
schlendert hat, stehen turmhoch über Herrn Holz. Dieser hat einige Brocken
von Spencer, Buckle, Taine aufgelesen und stellt, ohne sie recht verdaut zu
haben, auf sie das Gebäude seiner neuen Kunstphilosophie. Darin jedoch
gleichen die jungdeutschen Herren der ihnen auch sonst so sympathischen Sozial¬
demokratie, daß sie die „Wissenschaft" fortwährend im Munde führen (übrigens
genan so wie die Wirtshäuser den König im Schilde, der nie bei ihnen ein¬
kehrt, würde Schopenhauer sagen) und dabei immer ganz einseitig an die
Naturwissenschaft denken, die historischen Wissenschaften aber als Plunder
einfach ignoriren. Von den Vorgängen auf diesem Gebiete haben sie nicht
die leiseste Ahnung: längst vor Buckle hat man gewußt, daß auch in dein
Leben der Menschen „Gesetze" obwalten, nur sind es eben ganz andre als die.
nach denen sich Säuren und Basen vereinigen. Die Methoden der Natur-
wissenschaft haben in der geschichtlichen Entwicklung gar nichts zu suchen.
Buckle und Genossen sind für die historische Wissenschaft überwundene Größen;
ein Forscher, der heute noch auf deren Betrachtungsweise zurückgreifen wollte,
würde sich lächerlich macheu. Der Herold einer neuen Zeit, der Zertrümmerer
zweitausendjährigen Irrtums steht also in Wahrheit auf einem ganz veralteten
Standpunkte.

Ist es demnach bei Herrn Holz mit der Wissensunterlage schlimm bestellt,
so steht es mit seiner Denkkraft noch viel ärger. Das Buch bezeugt eine
geradezu verblüffende Unfähigkeit, von außen zugetragenes aufzunehmen und
innerlich zu verarbeiten. Die gesamte kunstwissenschaftliche Litteratur in einem
halben Jahre abzuthun, ist, wenn da nicht ein bischen Flunkerei mit unter¬
läuft, ein starkes Stück. Später fühlt Herr Holz die Empfindung in sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/50>, abgerufen am 23.07.2024.