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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Liu Evangelium des Naturalismus

Wiederum ging Herr Holz in trauriger Stimmung nach Niederschönhausen,
wiederum machte er den verzweifelten Versuch, zu studiren, aber diesmal stu-
dirte er nicht "alte Herren, wie Aristoteles, Winckelmann und Lessing," son¬
dern die Koryphäen der modernen Naturwissenschaft und die sogenannten
Positivisten. Nun endlich begann für ihn die Klarheit, er hieb sich in dein
Urwald der Verworrenheit mit Äxten eine Lichtung und barg die Frucht der
Erkenntnis in einem Aufsatze, den er freilich zunächst nur zu seiner eignen
Orientirung bestimmte, aber dennoch zu Nutz und Frommen seiner Leser ab¬
drückt. Es wäre auch Sünde gewesen, beispielsweise die köstlichen Eingangs¬
sätze des ersten Kapitels der Mitwelt vorzuenthalten: "Unter all jenen Er¬
rungenschaften, deren wohlthätige Wirkung die Menschheit im Laufe ihrer
Entwicklung bereits zu verzeichnen gehabt hat, giebt es eine, deren Tragweite
so ungeheuer ist, daß man heute, wo mau jene Entwicklung zu begreifen
besser in den Stand gesetzt ist, wohl kaum noch eine" irgendwie fortgeschrittnen
Denker finden wird, der auch nur einen einzigen Augenblick zögern würde, sie
nicht etwa bloß für die unverhältnismäßig größte unsrer Zeit, sondern geradezu
für die weitaus wichtigste der Zeiten überhaupt anzuerkennen. Ja es darf
selbst bezweifelt werden, ob auch in Zukunft eine der nach dieser noch mög¬
lichen gewaltig genug sein wird, um überhaupt auch nur an sie heranzureichen.
Es ist dies die endliche Erkenntnis von der durchgängigen Gesetzmäßigkeit
alles Geschehens." Diese Erkenntnis ist zwar uralt, so alt, wie alle Philo¬
sophie überhaupt, die nur jenen Gedanken zur selbstverständlichen Grundlage
hat; aber das schadet nichts, für Herr" Holz war sie neu, und in allen Ton¬
arten wiederholt er: "Es ist ein Gesetz, daß jedes Ding ein Gesetz hat."
Das Gesetz der Kunstwissenschaft aber, die, nachdem Spencer und Taine
ihren Grund gelegt haben, leicht als Teil ans der Gesamtwisfenschaft aus¬
zusondern ist, übrigens auch nach jenen beiden Männern noch sehr der Ver¬
vollkommnung bedarf, ja bisher kaum den Namen Wissenschaft verdient, müßte
ein Gesetz sein, woraus sich alle Erscheinungen der Kunst und ihre gesamte
Entwicklung ableiten ließen.

Nach Vollendung jenes Aufsatzes ging Herr Holz daran, das besagte
Gesetz zu finden. Erforderlich schien ihm vernünftigerweise eine Analyse des
gesamten Materials, das die Geschichte aller Künste bietet. Aber diese Auf-
gabe konnte er nicht lösen. Er sagte sich also: wenn ein Gesetz allein That¬
sächlichen zu Grunde liegt, so muß es auch jeder einzelnen Erscheinung zu
Grunde liegen. Er wollte nun irgend ein Werk vornehmen, über dessen Zu¬
gehörigkeit zur "Kunst" kein Zweifel obwalten könnte. War dessen "Gesetz"
entdeckt, so war das ganze Problem erledigt. Er dachte an die sixtinische
Madonna: aber beschämt mußte er gestehen, daß sein 5!nnstverständ"is zu eiuer
Analyse dieses Bildes nicht ausreichte. Nun fiel ihm die "Idee" ein, die
unser ganzes Zeitalter beherrscht, die "Idee" von der Weseuseinheit der höhern


Liu Evangelium des Naturalismus

Wiederum ging Herr Holz in trauriger Stimmung nach Niederschönhausen,
wiederum machte er den verzweifelten Versuch, zu studiren, aber diesmal stu-
dirte er nicht „alte Herren, wie Aristoteles, Winckelmann und Lessing," son¬
dern die Koryphäen der modernen Naturwissenschaft und die sogenannten
Positivisten. Nun endlich begann für ihn die Klarheit, er hieb sich in dein
Urwald der Verworrenheit mit Äxten eine Lichtung und barg die Frucht der
Erkenntnis in einem Aufsatze, den er freilich zunächst nur zu seiner eignen
Orientirung bestimmte, aber dennoch zu Nutz und Frommen seiner Leser ab¬
drückt. Es wäre auch Sünde gewesen, beispielsweise die köstlichen Eingangs¬
sätze des ersten Kapitels der Mitwelt vorzuenthalten: „Unter all jenen Er¬
rungenschaften, deren wohlthätige Wirkung die Menschheit im Laufe ihrer
Entwicklung bereits zu verzeichnen gehabt hat, giebt es eine, deren Tragweite
so ungeheuer ist, daß man heute, wo mau jene Entwicklung zu begreifen
besser in den Stand gesetzt ist, wohl kaum noch eine» irgendwie fortgeschrittnen
Denker finden wird, der auch nur einen einzigen Augenblick zögern würde, sie
nicht etwa bloß für die unverhältnismäßig größte unsrer Zeit, sondern geradezu
für die weitaus wichtigste der Zeiten überhaupt anzuerkennen. Ja es darf
selbst bezweifelt werden, ob auch in Zukunft eine der nach dieser noch mög¬
lichen gewaltig genug sein wird, um überhaupt auch nur an sie heranzureichen.
Es ist dies die endliche Erkenntnis von der durchgängigen Gesetzmäßigkeit
alles Geschehens." Diese Erkenntnis ist zwar uralt, so alt, wie alle Philo¬
sophie überhaupt, die nur jenen Gedanken zur selbstverständlichen Grundlage
hat; aber das schadet nichts, für Herr» Holz war sie neu, und in allen Ton¬
arten wiederholt er: „Es ist ein Gesetz, daß jedes Ding ein Gesetz hat."
Das Gesetz der Kunstwissenschaft aber, die, nachdem Spencer und Taine
ihren Grund gelegt haben, leicht als Teil ans der Gesamtwisfenschaft aus¬
zusondern ist, übrigens auch nach jenen beiden Männern noch sehr der Ver¬
vollkommnung bedarf, ja bisher kaum den Namen Wissenschaft verdient, müßte
ein Gesetz sein, woraus sich alle Erscheinungen der Kunst und ihre gesamte
Entwicklung ableiten ließen.

Nach Vollendung jenes Aufsatzes ging Herr Holz daran, das besagte
Gesetz zu finden. Erforderlich schien ihm vernünftigerweise eine Analyse des
gesamten Materials, das die Geschichte aller Künste bietet. Aber diese Auf-
gabe konnte er nicht lösen. Er sagte sich also: wenn ein Gesetz allein That¬
sächlichen zu Grunde liegt, so muß es auch jeder einzelnen Erscheinung zu
Grunde liegen. Er wollte nun irgend ein Werk vornehmen, über dessen Zu¬
gehörigkeit zur „Kunst" kein Zweifel obwalten könnte. War dessen „Gesetz"
entdeckt, so war das ganze Problem erledigt. Er dachte an die sixtinische
Madonna: aber beschämt mußte er gestehen, daß sein 5!nnstverständ»is zu eiuer
Analyse dieses Bildes nicht ausreichte. Nun fiel ihm die „Idee" ein, die
unser ganzes Zeitalter beherrscht, die „Idee" von der Weseuseinheit der höhern


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[0048] Liu Evangelium des Naturalismus Wiederum ging Herr Holz in trauriger Stimmung nach Niederschönhausen, wiederum machte er den verzweifelten Versuch, zu studiren, aber diesmal stu- dirte er nicht „alte Herren, wie Aristoteles, Winckelmann und Lessing," son¬ dern die Koryphäen der modernen Naturwissenschaft und die sogenannten Positivisten. Nun endlich begann für ihn die Klarheit, er hieb sich in dein Urwald der Verworrenheit mit Äxten eine Lichtung und barg die Frucht der Erkenntnis in einem Aufsatze, den er freilich zunächst nur zu seiner eignen Orientirung bestimmte, aber dennoch zu Nutz und Frommen seiner Leser ab¬ drückt. Es wäre auch Sünde gewesen, beispielsweise die köstlichen Eingangs¬ sätze des ersten Kapitels der Mitwelt vorzuenthalten: „Unter all jenen Er¬ rungenschaften, deren wohlthätige Wirkung die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung bereits zu verzeichnen gehabt hat, giebt es eine, deren Tragweite so ungeheuer ist, daß man heute, wo mau jene Entwicklung zu begreifen besser in den Stand gesetzt ist, wohl kaum noch eine» irgendwie fortgeschrittnen Denker finden wird, der auch nur einen einzigen Augenblick zögern würde, sie nicht etwa bloß für die unverhältnismäßig größte unsrer Zeit, sondern geradezu für die weitaus wichtigste der Zeiten überhaupt anzuerkennen. Ja es darf selbst bezweifelt werden, ob auch in Zukunft eine der nach dieser noch mög¬ lichen gewaltig genug sein wird, um überhaupt auch nur an sie heranzureichen. Es ist dies die endliche Erkenntnis von der durchgängigen Gesetzmäßigkeit alles Geschehens." Diese Erkenntnis ist zwar uralt, so alt, wie alle Philo¬ sophie überhaupt, die nur jenen Gedanken zur selbstverständlichen Grundlage hat; aber das schadet nichts, für Herr» Holz war sie neu, und in allen Ton¬ arten wiederholt er: „Es ist ein Gesetz, daß jedes Ding ein Gesetz hat." Das Gesetz der Kunstwissenschaft aber, die, nachdem Spencer und Taine ihren Grund gelegt haben, leicht als Teil ans der Gesamtwisfenschaft aus¬ zusondern ist, übrigens auch nach jenen beiden Männern noch sehr der Ver¬ vollkommnung bedarf, ja bisher kaum den Namen Wissenschaft verdient, müßte ein Gesetz sein, woraus sich alle Erscheinungen der Kunst und ihre gesamte Entwicklung ableiten ließen. Nach Vollendung jenes Aufsatzes ging Herr Holz daran, das besagte Gesetz zu finden. Erforderlich schien ihm vernünftigerweise eine Analyse des gesamten Materials, das die Geschichte aller Künste bietet. Aber diese Auf- gabe konnte er nicht lösen. Er sagte sich also: wenn ein Gesetz allein That¬ sächlichen zu Grunde liegt, so muß es auch jeder einzelnen Erscheinung zu Grunde liegen. Er wollte nun irgend ein Werk vornehmen, über dessen Zu¬ gehörigkeit zur „Kunst" kein Zweifel obwalten könnte. War dessen „Gesetz" entdeckt, so war das ganze Problem erledigt. Er dachte an die sixtinische Madonna: aber beschämt mußte er gestehen, daß sein 5!nnstverständ»is zu eiuer Analyse dieses Bildes nicht ausreichte. Nun fiel ihm die „Idee" ein, die unser ganzes Zeitalter beherrscht, die „Idee" von der Weseuseinheit der höhern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/48>, abgerufen am 23.07.2024.