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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Lin Evangelium des Naturalismus

Zola, Ibsen, Leo Tolstoi,
Eine Welt liegt in den Worten,
Eine, die noch nicht verfault,
Eine, die noch kerngesund ist!

Diese Welt ist aber nicht mehr klassisch, nicht mehr romantisch, sie ist modern,
und über dem Sonnenaufgang schmettert das Lied des Dichters seine Triller:
Herr Holz, der sich für die genannten drei Größen mit seinen Freunden über¬
wirft, ist um wirklich die Lerche der neuen Zeit geworden.

Die Empfindung, wie schlimm diese seine eigne Dichtung war, kam Herrn
Holz ziemlich rasch. Er machte sich daran, einen modernen Roman zu schreiben:
"Goldne Zeiten." I" einem Stübchen zu Nieder-Schönhausen, in der Gesell¬
schaft eines Theekessels, begann er das erste Kapitel: "Seine Kindheit." Er
brachte einige Seiten zustande, die mit dem Satze schlössen: "In Holland
mußten die Paradiesvogel entschieden schöner pfeifen," nämlich als in Indien,
"und die Johannisbeerbäume noch viel, viel wilder wachsen." Dieser Satz
ward für die Zukunft des Dichters und für die Entwicklung der Knust-
anschauungen der gesamten Menschheit entscheidend. Zunächst gefiel er seinem
Verfasser dermaßen, daß dieser heute uoch drei Seiten lang darüber philosophirt.
Sodann aber erinnerte er ihn an Zvlas berühmte Definition der Kunst: IIr
amvrs d"z 1'iU't "se, un vom tlo I" ug.t,ur6 vu ü. trtrvoi'L un tömuvruMSnt,.
Damit kam der Stein ins Rollen. Das nächste war, daß Herr Holz begriff:
dieser Satz Zolas bedeutet genau so viel als "Wenns regnet, wirds naß"
oder "Von weitem sieht etwas entfernt aus" oder "Alle Ratten haben Schwänze."
Den Roman ließ er um liegeu und warf sich einen Winter lang ans das
Studium der Kuustphilvsvphie; er wälzte als Stammgast der königlichen
Bibliothek zu Berlin alle Folianten über Ästhetik, die dort aufzutreiben waren.
Lehren konnten sie ihn freilich nichts, und so ging er -- in die weite Welt.
Auf der Nordsee bekam er nochmals einen dichterischen Rückfall, in Paris aber
las er Zolas Oeuvres vritiauks. Daß auch der ganze Theoretiker Zola nichts
war, sah Herr Holz sofort ein, und alsbald schrieb er seinen Aufsatz "Zoln
als Theoretiker," der 1890 in der "Freien Bühne" erschien, aber uns jetzt
auch nicht geschenkt, sondern in vxtöuso mitgeteilt wird, und der in der That
charakteristisch ist. An Taine wird gerühmt, daß er der erste gewesen sei, der
die Gesetze der Naturwissenschaft auf die Kunstbetrachtung übertragen habe.
Von Taines Aufstellungen aber gesteht Herr Holz nicht sonderlich erbaut zu
sein: der eine seiner Sätze sei freilich urneu: "Jedes Kunstwerk resultirt aus
seinem Milieu"; der andre, uralte dagegen: "In der exakten Reproduktion der
Natur besteht das Wesen der Kunst nicht" ist ein dummes Dogma. Zola ist
über Taine nicht wesentlich hinausgekommen; sein livumn kxxvrimlmtg,! wird
ans eine Stufe mit "Mondkälbern" gestellt. Überhaupt gehört Kuustphilvsvphie
zu den Götzen, die mit Nietzscheschcm Hammer zertrümmert werden müßten.


Lin Evangelium des Naturalismus

Zola, Ibsen, Leo Tolstoi,
Eine Welt liegt in den Worten,
Eine, die noch nicht verfault,
Eine, die noch kerngesund ist!

Diese Welt ist aber nicht mehr klassisch, nicht mehr romantisch, sie ist modern,
und über dem Sonnenaufgang schmettert das Lied des Dichters seine Triller:
Herr Holz, der sich für die genannten drei Größen mit seinen Freunden über¬
wirft, ist um wirklich die Lerche der neuen Zeit geworden.

Die Empfindung, wie schlimm diese seine eigne Dichtung war, kam Herrn
Holz ziemlich rasch. Er machte sich daran, einen modernen Roman zu schreiben:
„Goldne Zeiten." I» einem Stübchen zu Nieder-Schönhausen, in der Gesell¬
schaft eines Theekessels, begann er das erste Kapitel: „Seine Kindheit." Er
brachte einige Seiten zustande, die mit dem Satze schlössen: „In Holland
mußten die Paradiesvogel entschieden schöner pfeifen," nämlich als in Indien,
„und die Johannisbeerbäume noch viel, viel wilder wachsen." Dieser Satz
ward für die Zukunft des Dichters und für die Entwicklung der Knust-
anschauungen der gesamten Menschheit entscheidend. Zunächst gefiel er seinem
Verfasser dermaßen, daß dieser heute uoch drei Seiten lang darüber philosophirt.
Sodann aber erinnerte er ihn an Zvlas berühmte Definition der Kunst: IIr
amvrs d«z 1'iU't «se, un vom tlo I» ug.t,ur6 vu ü. trtrvoi'L un tömuvruMSnt,.
Damit kam der Stein ins Rollen. Das nächste war, daß Herr Holz begriff:
dieser Satz Zolas bedeutet genau so viel als „Wenns regnet, wirds naß"
oder „Von weitem sieht etwas entfernt aus" oder „Alle Ratten haben Schwänze."
Den Roman ließ er um liegeu und warf sich einen Winter lang ans das
Studium der Kuustphilvsvphie; er wälzte als Stammgast der königlichen
Bibliothek zu Berlin alle Folianten über Ästhetik, die dort aufzutreiben waren.
Lehren konnten sie ihn freilich nichts, und so ging er — in die weite Welt.
Auf der Nordsee bekam er nochmals einen dichterischen Rückfall, in Paris aber
las er Zolas Oeuvres vritiauks. Daß auch der ganze Theoretiker Zola nichts
war, sah Herr Holz sofort ein, und alsbald schrieb er seinen Aufsatz „Zoln
als Theoretiker," der 1890 in der „Freien Bühne" erschien, aber uns jetzt
auch nicht geschenkt, sondern in vxtöuso mitgeteilt wird, und der in der That
charakteristisch ist. An Taine wird gerühmt, daß er der erste gewesen sei, der
die Gesetze der Naturwissenschaft auf die Kunstbetrachtung übertragen habe.
Von Taines Aufstellungen aber gesteht Herr Holz nicht sonderlich erbaut zu
sein: der eine seiner Sätze sei freilich urneu: „Jedes Kunstwerk resultirt aus
seinem Milieu"; der andre, uralte dagegen: „In der exakten Reproduktion der
Natur besteht das Wesen der Kunst nicht" ist ein dummes Dogma. Zola ist
über Taine nicht wesentlich hinausgekommen; sein livumn kxxvrimlmtg,! wird
ans eine Stufe mit „Mondkälbern" gestellt. Überhaupt gehört Kuustphilvsvphie
zu den Götzen, die mit Nietzscheschcm Hammer zertrümmert werden müßten.


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[0047] Lin Evangelium des Naturalismus Zola, Ibsen, Leo Tolstoi, Eine Welt liegt in den Worten, Eine, die noch nicht verfault, Eine, die noch kerngesund ist! Diese Welt ist aber nicht mehr klassisch, nicht mehr romantisch, sie ist modern, und über dem Sonnenaufgang schmettert das Lied des Dichters seine Triller: Herr Holz, der sich für die genannten drei Größen mit seinen Freunden über¬ wirft, ist um wirklich die Lerche der neuen Zeit geworden. Die Empfindung, wie schlimm diese seine eigne Dichtung war, kam Herrn Holz ziemlich rasch. Er machte sich daran, einen modernen Roman zu schreiben: „Goldne Zeiten." I» einem Stübchen zu Nieder-Schönhausen, in der Gesell¬ schaft eines Theekessels, begann er das erste Kapitel: „Seine Kindheit." Er brachte einige Seiten zustande, die mit dem Satze schlössen: „In Holland mußten die Paradiesvogel entschieden schöner pfeifen," nämlich als in Indien, „und die Johannisbeerbäume noch viel, viel wilder wachsen." Dieser Satz ward für die Zukunft des Dichters und für die Entwicklung der Knust- anschauungen der gesamten Menschheit entscheidend. Zunächst gefiel er seinem Verfasser dermaßen, daß dieser heute uoch drei Seiten lang darüber philosophirt. Sodann aber erinnerte er ihn an Zvlas berühmte Definition der Kunst: IIr amvrs d«z 1'iU't «se, un vom tlo I» ug.t,ur6 vu ü. trtrvoi'L un tömuvruMSnt,. Damit kam der Stein ins Rollen. Das nächste war, daß Herr Holz begriff: dieser Satz Zolas bedeutet genau so viel als „Wenns regnet, wirds naß" oder „Von weitem sieht etwas entfernt aus" oder „Alle Ratten haben Schwänze." Den Roman ließ er um liegeu und warf sich einen Winter lang ans das Studium der Kuustphilvsvphie; er wälzte als Stammgast der königlichen Bibliothek zu Berlin alle Folianten über Ästhetik, die dort aufzutreiben waren. Lehren konnten sie ihn freilich nichts, und so ging er — in die weite Welt. Auf der Nordsee bekam er nochmals einen dichterischen Rückfall, in Paris aber las er Zolas Oeuvres vritiauks. Daß auch der ganze Theoretiker Zola nichts war, sah Herr Holz sofort ein, und alsbald schrieb er seinen Aufsatz „Zoln als Theoretiker," der 1890 in der „Freien Bühne" erschien, aber uns jetzt auch nicht geschenkt, sondern in vxtöuso mitgeteilt wird, und der in der That charakteristisch ist. An Taine wird gerühmt, daß er der erste gewesen sei, der die Gesetze der Naturwissenschaft auf die Kunstbetrachtung übertragen habe. Von Taines Aufstellungen aber gesteht Herr Holz nicht sonderlich erbaut zu sein: der eine seiner Sätze sei freilich urneu: „Jedes Kunstwerk resultirt aus seinem Milieu"; der andre, uralte dagegen: „In der exakten Reproduktion der Natur besteht das Wesen der Kunst nicht" ist ein dummes Dogma. Zola ist über Taine nicht wesentlich hinausgekommen; sein livumn kxxvrimlmtg,! wird ans eine Stufe mit „Mondkälbern" gestellt. Überhaupt gehört Kuustphilvsvphie zu den Götzen, die mit Nietzscheschcm Hammer zertrümmert werden müßten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/47>, abgerufen am 23.07.2024.