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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

Kirchenlied werden ihnen gar wohl gefallen haben, aber damit war noch nicht
gesagt, daß sie gesonnen gewesen seien, das alte Kirchenwesen in Bausch und
Bogen zu verurteilen und sich mit einem Gottesdienste zufrieden zu geben, wie er
bald darauf in Wittenberg eingerichtet wurde, oder gar mit dem spätern Heidel¬
berger. Die Innigkeit, mit der die süddeutschen Bauern heute noch an ihren
Kirchengebräuchen hängen, läßt sich doch nicht ausschließlich aus dem von den
Hnbsbnrgern und Wittelsbachern geübten Zwange erklären. Ist es um nicht
richtig, daß 1525 ganz Deutschland protestantisch gewesen sei, so erscheint die
Thatsache, daß bald "ach 1550 in Deutschland so wenig echt protestantischer
Geist zu spüren ist, nicht mehr so unnatürlich wie in der wirkungsvollen
Gegenüberstellung bei Treitschke.

Wenn sich auch jene flammenden geschriebnen Reden, mit denen Luther
binnen drei Jahren die alte Kirche in Deutschland über deu Haufen warf
(die Thesen, der Aufruf um deu Kaiser und an den christlichen Adel der
deutscheu Nation, die Büchlein über die Messe, über die babylonische Ge¬
fangenschaft der Kirche und über die Freiheit des Christenmenschen), durch
ihren echt biblischen Geist inhaltlich durchaus von den Erzeugnissen des Hu¬
manismus unterscheiden, so sind sie doch formell, in Ansehung der darin zu
Tage tretende,? freien und rücksichtslos kühnen Kritik, als die höchsten Blüte"
des freien Geistes der Renaissance anzusehen. Indem nun aber diese Thaten
Luthers vollends die letzten Fesseln sprengten, die ein von Kraft und Übermut
strotzendes Geschlecht vom äußersten bisher noch zurückgehalten hatten, ward
nach einem Gesetze, dem alle, auch die edelsten und berechtigtsten Revolutionen
unterliegen, eine neue Viuduug in andern Formen nötig. Das Große und
Einzige an Luther ist nur, daß er, der die alten Fesseln gesprengt hatte, selbst
die neuen schmiedete, daß er nach dein Abbruch des alten Gebäudes mit eigner
Hand den Neubau ausführte, Sivyes und Ncipoleou in einer Person war.
Und da fortan nicht allein in den protestantischen, sondern anch in den katho¬
lischen Ländern die geistliche und die weltliche Regierungsgewalt in einer Hand
vereinigt ward -- denu zu ihrer Selbsterhaltung sahen sich die Päpste ge¬
zwungen, den katholischen Fürsten ein weitgehendes Aufsichtsrecht über die
Landeskirchen einzuräumen --, so hat er die Entstehung des modernen Polizei-
stnates, der die Wiederkehr der frühern gemütlichen Anarchie fast unmöglich
macht, gewaltig gefördert.

Wenn wir demnach den Satz von deu befreienden Wirkuttgen der Refor¬
mation in jeuer gewöhnlichen Fassung, die deu katholischen Polemikern ihre
Arbeit so ungemein leicht macht, als ungeschichtlich zurückweisen, wollen wir
damit keineswegs geleugnet haben, daß diese große Umwälzung wie der mensch¬
lichen Kultur im allgemeinen, so auch der Freiheit schließlich doch noch zum
Heile gereicht hat. Zunächst war es schon ein großartiges Werk der Be¬
freiung, daß wenigstens die kleinere Hälfte der Christenheit von dein Zwange


Geschichtsphilosophische Gedanken

Kirchenlied werden ihnen gar wohl gefallen haben, aber damit war noch nicht
gesagt, daß sie gesonnen gewesen seien, das alte Kirchenwesen in Bausch und
Bogen zu verurteilen und sich mit einem Gottesdienste zufrieden zu geben, wie er
bald darauf in Wittenberg eingerichtet wurde, oder gar mit dem spätern Heidel¬
berger. Die Innigkeit, mit der die süddeutschen Bauern heute noch an ihren
Kirchengebräuchen hängen, läßt sich doch nicht ausschließlich aus dem von den
Hnbsbnrgern und Wittelsbachern geübten Zwange erklären. Ist es um nicht
richtig, daß 1525 ganz Deutschland protestantisch gewesen sei, so erscheint die
Thatsache, daß bald »ach 1550 in Deutschland so wenig echt protestantischer
Geist zu spüren ist, nicht mehr so unnatürlich wie in der wirkungsvollen
Gegenüberstellung bei Treitschke.

Wenn sich auch jene flammenden geschriebnen Reden, mit denen Luther
binnen drei Jahren die alte Kirche in Deutschland über deu Haufen warf
(die Thesen, der Aufruf um deu Kaiser und an den christlichen Adel der
deutscheu Nation, die Büchlein über die Messe, über die babylonische Ge¬
fangenschaft der Kirche und über die Freiheit des Christenmenschen), durch
ihren echt biblischen Geist inhaltlich durchaus von den Erzeugnissen des Hu¬
manismus unterscheiden, so sind sie doch formell, in Ansehung der darin zu
Tage tretende,? freien und rücksichtslos kühnen Kritik, als die höchsten Blüte»
des freien Geistes der Renaissance anzusehen. Indem nun aber diese Thaten
Luthers vollends die letzten Fesseln sprengten, die ein von Kraft und Übermut
strotzendes Geschlecht vom äußersten bisher noch zurückgehalten hatten, ward
nach einem Gesetze, dem alle, auch die edelsten und berechtigtsten Revolutionen
unterliegen, eine neue Viuduug in andern Formen nötig. Das Große und
Einzige an Luther ist nur, daß er, der die alten Fesseln gesprengt hatte, selbst
die neuen schmiedete, daß er nach dein Abbruch des alten Gebäudes mit eigner
Hand den Neubau ausführte, Sivyes und Ncipoleou in einer Person war.
Und da fortan nicht allein in den protestantischen, sondern anch in den katho¬
lischen Ländern die geistliche und die weltliche Regierungsgewalt in einer Hand
vereinigt ward — denu zu ihrer Selbsterhaltung sahen sich die Päpste ge¬
zwungen, den katholischen Fürsten ein weitgehendes Aufsichtsrecht über die
Landeskirchen einzuräumen —, so hat er die Entstehung des modernen Polizei-
stnates, der die Wiederkehr der frühern gemütlichen Anarchie fast unmöglich
macht, gewaltig gefördert.

Wenn wir demnach den Satz von deu befreienden Wirkuttgen der Refor¬
mation in jeuer gewöhnlichen Fassung, die deu katholischen Polemikern ihre
Arbeit so ungemein leicht macht, als ungeschichtlich zurückweisen, wollen wir
damit keineswegs geleugnet haben, daß diese große Umwälzung wie der mensch¬
lichen Kultur im allgemeinen, so auch der Freiheit schließlich doch noch zum
Heile gereicht hat. Zunächst war es schon ein großartiges Werk der Be¬
freiung, daß wenigstens die kleinere Hälfte der Christenheit von dein Zwange


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[0463] Geschichtsphilosophische Gedanken Kirchenlied werden ihnen gar wohl gefallen haben, aber damit war noch nicht gesagt, daß sie gesonnen gewesen seien, das alte Kirchenwesen in Bausch und Bogen zu verurteilen und sich mit einem Gottesdienste zufrieden zu geben, wie er bald darauf in Wittenberg eingerichtet wurde, oder gar mit dem spätern Heidel¬ berger. Die Innigkeit, mit der die süddeutschen Bauern heute noch an ihren Kirchengebräuchen hängen, läßt sich doch nicht ausschließlich aus dem von den Hnbsbnrgern und Wittelsbachern geübten Zwange erklären. Ist es um nicht richtig, daß 1525 ganz Deutschland protestantisch gewesen sei, so erscheint die Thatsache, daß bald »ach 1550 in Deutschland so wenig echt protestantischer Geist zu spüren ist, nicht mehr so unnatürlich wie in der wirkungsvollen Gegenüberstellung bei Treitschke. Wenn sich auch jene flammenden geschriebnen Reden, mit denen Luther binnen drei Jahren die alte Kirche in Deutschland über deu Haufen warf (die Thesen, der Aufruf um deu Kaiser und an den christlichen Adel der deutscheu Nation, die Büchlein über die Messe, über die babylonische Ge¬ fangenschaft der Kirche und über die Freiheit des Christenmenschen), durch ihren echt biblischen Geist inhaltlich durchaus von den Erzeugnissen des Hu¬ manismus unterscheiden, so sind sie doch formell, in Ansehung der darin zu Tage tretende,? freien und rücksichtslos kühnen Kritik, als die höchsten Blüte» des freien Geistes der Renaissance anzusehen. Indem nun aber diese Thaten Luthers vollends die letzten Fesseln sprengten, die ein von Kraft und Übermut strotzendes Geschlecht vom äußersten bisher noch zurückgehalten hatten, ward nach einem Gesetze, dem alle, auch die edelsten und berechtigtsten Revolutionen unterliegen, eine neue Viuduug in andern Formen nötig. Das Große und Einzige an Luther ist nur, daß er, der die alten Fesseln gesprengt hatte, selbst die neuen schmiedete, daß er nach dein Abbruch des alten Gebäudes mit eigner Hand den Neubau ausführte, Sivyes und Ncipoleou in einer Person war. Und da fortan nicht allein in den protestantischen, sondern anch in den katho¬ lischen Ländern die geistliche und die weltliche Regierungsgewalt in einer Hand vereinigt ward — denu zu ihrer Selbsterhaltung sahen sich die Päpste ge¬ zwungen, den katholischen Fürsten ein weitgehendes Aufsichtsrecht über die Landeskirchen einzuräumen —, so hat er die Entstehung des modernen Polizei- stnates, der die Wiederkehr der frühern gemütlichen Anarchie fast unmöglich macht, gewaltig gefördert. Wenn wir demnach den Satz von deu befreienden Wirkuttgen der Refor¬ mation in jeuer gewöhnlichen Fassung, die deu katholischen Polemikern ihre Arbeit so ungemein leicht macht, als ungeschichtlich zurückweisen, wollen wir damit keineswegs geleugnet haben, daß diese große Umwälzung wie der mensch¬ lichen Kultur im allgemeinen, so auch der Freiheit schließlich doch noch zum Heile gereicht hat. Zunächst war es schon ein großartiges Werk der Be¬ freiung, daß wenigstens die kleinere Hälfte der Christenheit von dein Zwange

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/463>, abgerufen am 26.08.2024.